Der Tod naht II
Zuerst fiel Cyns Blick auf die nackten Füße, die langsam einen Schritt vor den nächsten setzten. Schreiende Fratzen hoben sich aus eisernen Beinschützern, die ab dem Knie von einer dunklen Robe verdeckt wurden. Am Gürtel hing eine Glocke, die bei jedem Schritt dunkel läutete.
Die Robe schlang sich nur um eine Hälfte seines Oberkörpers, sodass seine gräuliche Haut sichtbar war. Ein Windstoß ließ die weißen, hüftlangen Haare wehen wie Nebel bei Morgendämmerung.
»Du bist ein Gott«, sagte Lehu. »Knie nicht.« Seine violetten Augen musterten zuerst Nilan, dann Cyn.
Ruckartig legte Lehu seinen Kopf schief. Seine feinen Gesichtszüge ähnelten Nilans, doch der Tod hatte seine Brauen finster zusammengeschoben, sodass er seiner Mimik eine gewisse Härte verlieh. Seine Hand lag an dem Griff einer Sense, die aus weißen Gebeinen bestanden. Blaue und violette Blumen waren in die Knochen verflochten.
»Dich kenne ich, Menschlein«, sagte der Tod. »Einst ließ ich dich ziehen. Weshalb kehrst du nun in mein Reich zurück?«
Cyn konnte sich nicht dazu bringen, sich auf die Füße zu hieven. Die Kälte, die Lehus Auftreten über die Welt gebracht hatte, lähmte ihn.
Nilan jedoch ließ sich davon nicht aufhalten. Er sprang auf die Füße und Cyn bemerkte nur, wie der Tod einige Schritte zur Seite stolperte.
»Ich habe dich so vermisst«, quietschte Nilan und hüpfte auf und ab, beide Arme um Lehu geschlossen.
Abneigung durchzuckte Lehus Miene und er versuchte, sich aus der Umarmung zu befreien. Vergeblich. Letztlich gab er auf und tätschelte mit seiner freien Hand Nilans Haar zwischen seinen Hörnern. »Dich hätte ich hier nicht erwartet, Einar?«
Der Name holte Cyn aus seiner Starre. Richtig, Nilan hatte eigentlich einen anderen Namen. Nachdem er sich als der Mond vorgestellt hatte, hätte Cyn es wissen müssen, doch irgendwie hatte er sich an ›Nilan‹ gewöhnt.
Cyn erhob sich schwerfällig und wischte sich über die Wangen, um die letzten Reste seiner Tränen zu trocknen.
»Und dann auch noch in Begleitung eines Menschen«, sagte Lehu. »Dieses Menschen.«
»Warum ist das so überraschend?«, fragte Nilan ... Einar? Cyn wusste nicht, wie er ihn nennen sollte.
»Er war immer freundlich zu mir«, meinte der Mond. »Meistens zumindest ... Manchmal.«
»Du merkst es selbst, oder?«, fragte Lehu. »Und jetzt lass mich los.«
Nilan drückte ihn noch einmal an sich und kam dann der Anweisung nach.
Der Tod wischte sich seine Hand an der Robe ab. »Was führt dich hierher?«
»Ich wollte dich sehen.«
Die Sense in Lehus Hand löste sich zu abertausenden Blütenblättern auf, die der Wind mit sich nahm und forttrug. Der Tod verschränkte die Arme vor der Brust. »Und warum?«
»Weil ...« Nilan sah zu den Spitzen seiner Füße. »Weil du Bücher hast.«
Lehu stieß ein Seufzen aus. »Folge mir. Und du auch, Mensch. Es ist nicht gut für die Sterblichen, zu lang bei den Seelen zu bleiben.«
Cyn sah sich noch einmal um, doch jeder Schatten war fort. Jeder Held und jeder, der ihn einen Mörder genannt hatte.
»Vor allem schadet es den Sterblichen natürlich, unter den Seelen zu sein«, sprach Lehu, »wenn er die Hälfte von ihnen umgebracht hat. Oder er seinen Geliebten unter ihnen findet.«
Cyn schluckte schwer.
»Er hat bemerkt, dass du hier bist, und möchte dir eine Nachricht zukommen lassen. Später. Folge mir zunächst.«
Sagte Lehu, was Cyn glaubte? Er holte tief Luft und lief den beiden Göttern hinterher. Den Tod ließ man nicht warten.
Auf den Straßen, in denen zuvor noch Lichter herumgeirrt waren, zeigte sich nun keine einzige Seele mehr. Der Nebel lichtete sich an der Stelle, an die Lehu trat und verdichtete sich hinter ihm wieder. Bei jedem Schritt läutete die Glocke in einem tiefen Klang.
»Was machst du eigentlich hier?«, fragte Nilan. Er ging an Lehus Seite, während Cyn in einigen Schritten Entfernung folgte und seinen Blick immer wieder in den Nebel schweifen ließ. Doch kein Schatten zeigte sich in der Gegenwart des Todes.
»Mir wurde eine Seele gestohlen«, sagte Lehu. »Gestern habe ich sie mir holen wollen, doch Kalik kam mir zuvor.«
Am vorherigen Tag hatte Cyn schon die Glocke des Todes vernommen und darauf hatte das Bellen von Hunden gefolgt. Kaliks Hunde? Doch warum sollte die Gottheit der Natur und der Jagd Massons Seele an sich reißen?
»Dein Gefährte weiß, wovon ich spreche«, meinte Lehu, ohne sich zu Cyn umzudrehen. »In einem anderen Leben hätte er ein Priester werden können. Solch einen guten Zugang pflegt er zu uns Göttern. Ich konnte seine Gedanken schon immer hören, obwohl ich ihnen nicht einmal lauschen wollte.«
Cyn versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie tief der Tod in seinem Verstand nachgebohrt hatte. Vermutlich könnte man es nicht einmal ›bohren‹ nennen, wenn es war, wie Lehu sagte, und die Worte einfach zu ihm flossen.
»Und du hast seinen Ruf doch auch einmal vernommen«, meinte der Tod. »Und das, obwohl er gar nicht direkt zu dir gesprochen hat.«
Cyn gab seine Versuche, sich auf alles andere außer die beiden Götter zu konzentrieren auf. »Wann?«, fragte er.
Lehu drehte sich nicht zu ihm um und hob nur eine Hand, um ihm anzuzeigen, dass er schweigen sollte. »Du hast ihm nichts davon erzählt?«, fragte er an seinen Bruder gerichtet.
Unruhig knetete Nilan seine Hände und wich dem Blick des Todes aus.
»Ich verstehe«, meinte Lehu. »Wie dem auch sei, die Seele des Ermordeten hätte mir zugestanden. Kalik jedoch nahm sie mir. Daher bin ich auf dem Weg in ihren Wald.«
»Was meintet Ihr mi–«, setzte Cyn an, aber Lehu unterbrach ihn.
»Wir sind da.«
Vor ihnen teilte sich der Nebel und legte ein Gebäude frei, in dem vereinzelt warme und kalte Lichter in den Fenstern schienen. Säulen umrundeten das Haus. An jeder von ihnen ebenso wie an der Fassade kletterten Blumen hoch.
Lehu stieg die wenigen Treppenstufen hinauf und öffnete seinen Gästen die Eingangstür. In das dunkle Ebenholz war eine Geschichte eingeschnitzt. Sie begann mit einer Gestalt in einer Kutte, die ihre Flügel weit ausbreitete. Anfangs war sie umgeben von Göttern, später fanden sich Menschen zu ihren Füßen wieder.
Doch der Kontakt zu den Sterblichen ebnete den Untergang. Eine Göttin, die umgeben von Sternen war, brach die Flügel und die Gestalt fiel in die Welt der Menschen – denn wenn sie ohnehin Zeit dort verbrachte, dann sollte sie am eigenen Leibe spüren, was es hieß, sterblich zu sein.
Bald wurde jedoch den Göttern bewusst, dass die damalige Gottheit für sie unabdingbar war. Sie reichten ihr die Unsterblichkeit, aber sie weigerten sich, ihr erneut einen Platz im Himmel zu geben.
Daher baute sich die Gottheit ein Reich unter den Sterblichen auf – sie war nicht die Einzige, die dies tat, doch die Einzige, die dazu gezwungen war.
Das letzte Bild zeigte die Stadt, in der vereinzelt Lichter aufglühten. Die Stadt der Sterne. Und davor stand die Gottheit. Immer noch war sie in ihre Kutte gehüllt, doch sie trug keine Flügel mehr auf dem Rücken und hielt stattdessen eine Sense in der Hand.
»Jeder Mensch lügt«, sprach Lehu. »Und nicht einmal die Götter bleiben den Lügen fern, solange sie ihnen nützen.«
Er deutete Cyn an, einzutreten. Nilan wartete bereits im Flur. Zu seinen Füßen breitete sich ein Blütenmeer aus.
Cyn schüttelte die Kälte ab, die an ihm hochgeklettert war wie die Blumen an den Wänden im Inneren des Hauses, und trat ein.
»Die Götter verbannten mich nicht«, sprach Lehu, als er die Tür schloss. »Ich verließ sie freiwillig.«
Die Frage nach dem ›Warum‹ brannte auf Cyns Zunge, doch der Tod ging schon an ihm vorbei und führte sie weiter durch das Haus.
Das Innere hüllte sich in Grau, dem nur die Blumen Farbe brachten. In der Ferne erklang eine Lyra und spielte eine betrübliche Melodie.
Lehu öffnete eine weitere Tür, hinter der sich ein Raum mit Bücherregalen befand, die sich bis zur Decke auftürmten. Warmes Licht erhellte den Saal, doch Cyn konnte den Ursprung nicht finden.
Nilan hüpfte auf und ab und sah zu dem Tod.
Dieser seufzte und meinte: »Tob dich aus.«
Als hätte Nilan nur auf das Signal gewartet, schoss er los und verschwand zwischen den Regalen.
»Sollten wir nicht möglichst bald wieder aufbrechen?«, fragte Cyn und wich ein Schritt von dem Tod fort, der regungslos neben ihm verharrte.
Nilan streckte seinen Kopf zwischen den Büchern hervor. »Die Stadt bewegt sich und weil Lehu auf dem Weg zu Kalik ist, reisen wir in dieselbe Richtung. Wir können erstmal hier verweilen.«
»Bis zum nächsten Morgen«, sagte der Tod. »Länger wird es ein Sterblicher hier nicht aushalten.« Er wandte sich zu Cyn. »Und wir, Mensch, müssen reden.«
»Ich passe«, sagte Cyn schnell. Er konnte sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen, als mit dem Tod zu sprechen – vor allem wenn Nilan dabei nicht an seiner Seite war.
»Das war keine Bitte.«
Die Welt vor Cyns Augen löste sich auf. Er stand nicht länger in dem Haus, nicht einmal mehr in der Stadt, sondern auf einer Lichtung. Die umstehenden Bäume verschwanden fast im dichten Nebel.
»Du hast ihn enttäuscht.« Lehu stand einige Schritte entfernt. Seine Hand umschloss fest den knöchernen Griff der Sense.
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