Asche und Nebel II
Cyn stellte den Stapel Bücher auf dem Tisch ab. Seine Arme hatten schon nach der Hälfte des Weges um Erlösung gefleht, aber er hatte den beiden Göttern schlecht sagen können, dass sie ihm einige Bücher abnehmen sollten. Daher hatte er stumm gelitten, während Lehu ihn und Nilan durch sein Haus geführt und in ihr Zimmer gebracht hatte.
Es war einer der wenigen Räume, der nicht von dem grauen Schein und den blauen Blumen eingenommen war. Stattdessen war er ähnlich wie die Bibliothek in warmes Licht getaucht, obwohl Nebel vor der gläsernen Balkontür hing und den Himmel verdeckte.
Nur ein Bett stand in dem Zimmer – dafür war es aber ein großes Himmelbett mit violetten Laken. Vermutlich würde Nilan in dieser Nacht ohnehin nicht schlafen und stattdessen auf einem der Stühle sitzen und lesen.
»Morgen solltet ihr sofort aufbrechen, sobald der Mensch erwacht ist«, sagte Lehu an seinen Bruder gewandt. »Ich werde dann vermutlich nicht da sein, um mich zu verabschieden.«
Der Tod hatte die Worte kaum ausgesprochen, da hüpfte Nilan schon zu ihm und schloss ihn in seine Arme. Lehu seufzte leise und tätschelte Nilans Rücken.
»Wir werden uns sicherlich bald wiedersehen«, sagte er.
»›Bald‹ kann vieles heißen.« Diesmal ließ Nilan ihn zwar ohne einen Hinweis los, doch nicht, ohne ihn noch einmal an sich gedrückt zu haben.
Lehu ging nicht auf ihn ein. Er nickte ihm nur zur Verabschiedung zu und missachtete Cyn vollkommen, ehe sich die violetten Flügel öffneten und ihn verschlangen.
Cyns Blick wanderte zu dem Stapel Bücher, den er abgestellt hatte. Auf dem Einband des obersten tanzte eng verschlungen ein Pärchen – er redete sich zumindest ein, dass sie tanzten.
»Liest du immer solches Zeug?«, fragte er.
»Bücher?«, hakte Nilan nach. »Was sollte ich denn anderes lesen?«
»Ich meinte eher den Inhalt. Was du mir vorgelesen hattest, klang sehr ... eindeutig.«
Nilan sah zu dem Buch in seiner Hand. Das einzige, das er getragen hatte. »Meistens«, sagte er. »Dort, wo ich früher gelebt hatte, standen größtenteils Liebesgeschichten. Ich las von Seelenverwandten, die sich auch nach dem Tod wiedertrafen. Von Liebenden, die gegen die gesamte Welt bestehen mussten. Von ...« Seine Mundwinkel zuckten und er schüttelte den Kopf. »Von Prinzessinnen, die von Drachen entführt wurden. Ihnen eilte ein Held zur Rettung, doch letztlich verliebten sie sich nicht in ihn, sondern in den Drachen. Angesichts meiner damaligen Lage irgendwie ironisch.«
»Hm«, machte Cyn nur. Er verstand, weshalb er Bücher in seinem Leben nicht vermisste.
»Was ›hm‹?«
»Einfach nur ›hm‹.«
»Es klang aber nach einem sehr grummeligen ›Hm‹.«
Cyn brummte nur etwas, von dem er nicht einmal selbst wusste, was es sein sollte. Nilan jedoch sah ihn immer noch fragend an und daher sprach er weiter. »Weshalb liest du sowas?«
»Es klingt schön.« Nilan hüpfte auf ihn zu. »Diese Liebe, die alles bezwingen kann. Dieses Gefühl davon, Zuhause angekommen zu sein, wenn man bei seinem Liebsten ist. Füreinander da zu sein, alles miteinander zu teilen. Der Grund zu sein, weshalb sich jemand zum Besseren ändert. Es klingt schön.«
Cyn gab sich alle Mühe, nicht mit den Augen zu rollen. »Und dafür ist es notwendig einander ...« Er suchte nach einem Wort, das den Gott nicht traumatisieren würde. »... einander so körperlich nah zu sein?«
Nilan legte den Kopf schief. »Was wäre denn die Alternative?«
»Freundschaft?«
Nilan neigte den Kopf in die andere Richtung und als von ihm keine Antwort kam, fuhr Cyn fort: »Sollte nicht auch eine gute Freundschaft das besitzen, was du gerade aufgezählt hast? Sollte man nicht auch seine Freunde irgendwie lieben?«
Hatte er den Gott nun vollkommen überfordert? Für einige Sekunden musterte Nilan ihn nur stumm, ehe er fragte: »Ist es aber nicht trotzdem anders?«
Cyn zuckte mit den Schultern. »Liebe ist Liebe und die Art der Liebe ist dann doch nebensächlich.«
Wieder schwieg Nilan für einige Augenblicke. Instinktiv fragte sich Cyn, wie es sich wohl bei den Göttern verhielt. Er konnte sich nicht erinnern, von Liebesgeschichten zwischen Göttern gehört zu haben, und Nilans langes Überlegen unterstrich nur, dass er sich nicht darauf verstand.
Cyn begann, die Reiseausrüstung, seinen Bogen und auch seinen Umhang auf einem der Stühle abzulegen, während er auf eine Antwort wartete.
»Dann siehst du keinen Unterschied zwischen Freunden und Liebenden?«, fragte Nilan letztlich.
»Nicht in meiner Gefühlslage.« Vielleicht zeugte es nur davon, dass er kaum Freunde besaß, und sehr lang zögerte, bis er jemanden als solchen bezeichnet hat. Wenn er recht überlegte, dann gab es nur Kedras und Habicht.
Wieder schwieg Nilan für einen Moment, ehe er fragte: »Dann warst du schonmal verliebt?«
»Ich war nie verliebt«, sagte Cyn. »Aber ich habe geliebt.« Er hätte nie erwartet, dass er über Kedras reden könnte. Am wenigsten, da er ihn heute gesehen hatte und all die Erinnerungen hervorgekommen waren.
»Hm«, machte Nilan.
Cyns Mundwinkel zuckten. »Was ›hm‹?«
»Ich hatte immer gedacht, dass Menschen relativ einfach gestrickt wären«, gab Nilan zu.
Das Lächeln verschwand aus Cyns Gesicht. Gleichzeitig versuchte er aber, es nicht zu nah an sich heranzulassen. Der Mond war während der Zeit in dieser Welt größtenteils eingesperrt gewesen und hatte nur spärlichen Kontakt zu Menschen gehabt.
Nilan hüpfte noch ein Stück näher an Cyn heran. »Aber, was du sagst, klingt interessant«, meinte er. »Was braucht es für dich, damit du jemanden einen Freund nennst?«
Cyn holte seine Pfeife hervor, während er sich eine Antwort überlegte. »Ich muss die Person mögen, gern in ihrer Nähe sein, vielleicht sogar mit ihr reisen oder leben.« Er sah sich um. Vermutlich würde Lehu nicht erfreut sein, wenn er in dessen Haus räucherte.
»Wenn du also mit jemandem viel Zeit verbringst, wenn du mit ihm reist und du ihm oft nah bist, dann ist das dein Freund?«, fragte Nilan.
»Ich schätze schon«, antwortete Cyn, doch im nächsten Moment stockte er, da er bemerkte, was er gesagt hatte. Er rieb sich den Nasenrücken. Dieser Tag hatte zu sehr an ihm gezehrt.
Er wandte sich ab und trat durch die gläserne Tür auf den Balkon. Zuvor war die Sonne kaum durch den Nebel gedrungen und ebenso wenig gelang es dem Nachthimmel und den Sternen. Das einzige Licht ging von Kerzen aus, die in regelmäßigen Abständen an dem Geländer angebracht waren.
Nilan folgte ihm und lehnte sich gegen die Balustrade.
Die Stille wurde von dem Ruf eines Uhus durchbrochen. Ein lebendes Wesen, das sich wie Cyn in das Reich der Toten verirrt hatte.
Er zündete seine Pfeife an und hob sie zu seinen Lippen.
Schatten tanzten über Nilans Gesicht, ausgelöst durch die Flammen der Kerzen. Der goldene Schimmer des Feuers vermischte sich mit dem silbernen Glanz des Mondes. Seine fein geschwungenen Lippen hoben sich zu einem Lächeln und er wandte sich an Cyn. »Möchtest du mich berühren?«
Cyn hustete den Rauch wieder aus. Der Qualm verdeckte ihm die Sicht, bis er ihn fortwedelte. »Was?«, bellte er zwischen seinem Röcheln.
»Möchtest du mich berühren?«, wiederholte Nilan.
»Das habe ich verstanden, aber ... was?«
»Du schaust mich den ganzen Tag schon so an und gerade wieder. Und ich verstehe es. Meine Göttlichkeit wird deutlicher und das ist etwas, das man nicht oft sieht.« Er rückte ein Stück an Cyn heran.
Täuschte es oder war er gewachsen? Bei ihrem ersten Treffen hatte Cyn sich darüber lustig gemacht, dass Nilan kleiner war, doch nun konnte er ihm direkt in die Augen sehen.
»Du darfst, wenn du möchtest«, sagte Nilan.
»Ich ...« Cyn konnte das Prickeln in seinen Fingern nicht leugnen, aber er hatte Gründe, aus denen er sich dagegen wehrte. Nilan war ein Gott, ein heiliges Wesen. Die Zeit auf der Erde hatte seiner Göttlichkeit schon genug Abbruch getan. Da mussten ihn nicht zusätzlich menschliche Hände beschmutzen.
Nilan lehnte sich zu ihm. »Die Götter hassen mich ohnehin«, sagte er, als könnte er Cyns Gedanken lesen. »Ein Grund mehr wird daran nichts ändern.«
Cyn schluckte. Er wog ab und sein Blick schweifte gen Himmel, der sich hinter dem Nebel verbarg. Die Götter würden seine Sünde nicht bemerken.
Er nickte.
Nilan hüpfte auf und ab und ein Stück zu ihm.
Instinktiv hatte Cyn zurückweichen wollen, doch er blieb stehen. Er streckte seine Hand aus und noch ehe er sie auf Nilans Wange legen konnte, kam dieser ihm schon entgegen und schmiegte sich wie eine Katze an ihn.
Unter Cyns Fingerspitzen war die Haut kühl, als läge eine dünne Schicht aus Frost über ihr, und in der Nähe der Kristalle wurde sie noch eisiger, sodass er zurückzuckte, bevor er seine Hand ein weiteres Mal nach Nilan ausstreckte. Diesmal vorsichtiger. Die Berührung war nicht mehr als das Streichen einer Feder auf der Haut und daher blieb der frostige Schmerz in seinen Fingerkuppen aus.
Nilan ließ die Musterung stumm zu. Seine Augen schimmerten silbern.
Cyns Blick schweifte zu den Hörnern. »Darf ich?«, fragte er und räusperte sich, um seiner Stimme wieder einen Hauch von Festigkeit zu verleihen.
Nilan grinste und senkte den Kopf. Unter seinen Fingern ertastete Cyn die feinen Rillen und Windungen, denn die Hörner waren wie die eines Drachen geformt.
Der Mond schnaubte und presste die Lippen zusammen. »Das kitzelt.«
»Weißt du, was man über die Stellen sagt, an denen man kitzlig ist?« Cyn erstarrte und ließ seine Hand sinken. Er hatte zu spät bemerkt, was er gesagt hatte. Schon wieder. Warum konnte er die Worte nicht zurück in seinen Mund stopfen? Warum dachte er überhaupt so etwas?
Es war wirklich Zeit, dass er schlafen ging, und morgen würde er seine Gedanken hoffentlich wieder unter Kontrolle haben.
Nilan hob den Kopf an, sodass er Cyn in die Augen sehen konnte. »Was?«, fragte er.
»Unwichtig«, sagte Cyn und wandte sich ab. Er sah sich nicht in der Position, einem Gott von erogenen Zonen zu berichten.
Seine Pfeife war mittlerweile wieder erloschen und hatte eine Kuhle in das Geländer gebrannt. Lehu würde ihm schon nicht dafür zürnen ... redete er sich ein.
»Ich sollte langsam schlafen gehen«, meinte er, als Nilan ihm zurück in das Innere folgte.
Von dem Mond kam nur ein leises Seufzen.
Cyn legte seinen Waffengürtel ab, zupfte das Band aus seinen Haaren und zog sich dann auch sein Hemd über den Kopf. Durch den Nebel war es klamm geworden. Er hing es über einen der Stühle, damit es bis zum nächsten Morgen trocknete.
Nilans Blicke folgten ihm. Sie streiften über all die Täler auf seinem Rücken, die mal seichter, mal tiefer waren. Nie hatte er die Narben jemandem gezeigt, außer dem Arzt, der ihn nach den Peitschenhieben versorgt hatte.
Er versuchte, den Mond zu ignorieren, und stieg aus seinen Stiefeln.
»Was ist geschehen?«, fragte Nilan.
»Geht dich nichts an.« Cyn hatte die Worte schärfer aussprechen wollen, doch dieser Tag, an dem er nicht nur dem Tod, sondern auch den Schatten gegenübergestanden hatte, forderte seinen Tribut. Und seltsamerweise dachte er an den Augenblick zurück, als Nilan ihn am Vortag umarmt hatte. In dem Moment selbst hatte er nur auf seine blutbefleckten Hände starren können, doch nun fragte er sich, ob er die Berührung unter anderen Umständen hätte genießen können.
Er schüttelte den Kopf und kroch unter die Decke. In der Matratze ging er fast unter, doch ihm war es nur recht, verschlungen zu werden.
»Gute Nacht«, sagte Nilan. Er setzte sich auf einen der Stühle und nahm sich ein Buch. »Ich bleibe wach, falls du mich brauchst.«
Cyn antwortete nur mit einem Knurren und drehte sich um.
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