Kapitel 11.3: Wie ein Vogel im Käfig
Es war... Helena.
Diese Information riss Nael aus seiner Lethargie. Sie hatte ihn benutzt, ihn ausgenutzt. Er war nichts weiter als Mittel zum Zweck. Das traf ihn zutiefst, obgleich er es nicht wahrhaben wollte. Ob es daran lag, dass er so gutgläubig gewesen war, dass sie beide fliehen würden? Sich helfen würden?
Was für ein bösartiger Verrat - Träumerei. Was für ein Narr er doch war. Er biss sich auf die bebende Unterlippe. Die Zeiger seiner Totenuhr tickten plötzlich nicht mehr kontinuierlich gebremster, sondern schienen auf einen Schlag zu verstummen.
Der Geduldsfaden seiner Peiniger, der sicher nicht allzu lang war, zerriss und die Wachen zückten ihre Schwerter, in denen sich der Kerzenschein widerspiegelte. Mit vor Kummer und Entsetzen geweiteten Augen blickte er zu den Männern. Er wollte etwas sagen, öffnete den Mund, doch kein einziger Laut verließ seine trockene Kehle. Die Wächter lachten höhnisch auf.
»Hat es Euch die Sprache verschlagen?«
Verbittert biss sich Nael auf die Zunge. Vorsichtig - und vor allen Dingen langsam - lief er ein paar zögerliche Schritte rückwärts, als befürchtete er, dass jegliche, schnelle Bewegung zur Eskalation führen konnte. Als würden sie sich auf ihn stürzen und ihre Schwerter seinen ungeschützten Leib durchbohren, was sicher nicht lange auf sich warten ließ.
Respektvoll senkte er den Blick. Irgendwie musste er die beiden doch beruhigen können. Urplötzlich erstarb das höhnische Lachen und ein Schrei durchbrach die kurzandauernde Stille. Der Lehrling zuckte zusammen, hob den Kopf. Da stand Helena mit vor Wut glänzenden Augen und einem Eiseneimer in den Händen über einen am Boden liegenden Herrn.
Sie hatte zwar einen ausgeschaltet, doch der andere stolzierte auf das Mädchen zu, die er zwischen Gang und Zelle eingekesselt hatte. Den Eimer hielt die Rothaarige wie ein Schild schützend vor ihren Brustkorb. »Das Euch der Teufel schende«, knurrte der Wächter.
Heilige Schlingplanze!
Er sollte etwas unternehmen. Was sollte er jetzt tun? Gehetzt sah er sich nach einer möglichen Waffe um. Zelle, weitere Zelle, Gefangener, Zelle, Holzschalen, Trinken. Da!
Bevor er sich seinen Plan genauer bewusst war, ergriff er bereits das Schwert des Übermannten, welches ihm beinahe aus der Hand rutschte. Fest umklammerte er das kalte Eisen und näherte sich dem Wächter, der nur noch Augen für das Mädchen zu haben schien. Diese Unachtsamkeit nutzte Nael aus. Er holte aus und schlug zu. Er verfehlte. Sofort schnellte die Wache zu ihm, die Augen zu wütenden Schlitzen verengt.
»Das werdet Ihr-« Der Mann taumelte. Helena hatte ihm mit dem Eiseneimer am Hinterkopf erwischt. »Lauft!« kreischte diese und hastete zum Ausgang. Nael ihr dicht auf den Fersen. Gemeinsam stießen sie mit letzter Kraft hinter sich die Tür zu und verriegelten sie.
»Wir müssen weg hier!« Helenas Stimme zitterte vor unterdrückter Aufregung und Panik. Nael nickte knapp und lief bereits die spärlich beschienen Stufen hoch. Hinter sich vernahm er ihre schallende Schritte. Ebenso den dumpfen Protest der Wache, die wie wild an der Tür klopfte und Beschimpfungen aller Art fluchte.
Stur nach vorne schauend rannte er weiter. Es gab nur noch diese eine Möglichkeit und Nael wusste, dass er überleben wollte. Überleben musste. Denn eine Frage beschäftigte ihn mehr denn je. Eine Frage, die sein Unterbewusstsein die ganze Zeit über stellte. Die Frage, die er nicht wahrhaben wollte: Hatte Galahad sie verraten? Um dies herausfinden zu können, musste er das Schloss verlassen. Lebend.
Den bittersüßen Gestank des Todes, nach Krankheit und Leid, ließen sie stetig hinter sich. Nachdem sie das Ende der Treppe ins den Ausgang erreicht hatten, schwebte ihnen bereits eine kühle Brise, die ihm so viel frischer vorkam als alles, was er je zuvor gerochen hatte, entgegen. Nach Luft schnappend blieb er stehen. Sein Puls pochte in jeder seiner Ader. Bevor Helena an ihm vorbeisausen konnte, versperrte er ihr den Weg und japste: »Wir... sind zu... laut!«
Helena stoppte und keuchte schwer. »M-müssen weiter«, brachte sie hervor. Er nickte und sah sich um. Der Vollmond schwebte hoch oben am juwelenbesetzten Himmelszelt und ergoss sein klares Licht über den Innenhof, dessen Steine er mit einem silbrigen Schimmer überzog. Lediglich ein paar Mauern färbten für wenige Fußbreiten das Gestein in ihrem Schlagschatten schwarz. Wie ein Weg, dachte er. Seine Sinne suchten weiter.
Nichts zu sehen, nichts zu hören - abgesehen von ihren schweren Atem. Just in dem Moment tauchte ein noch finsterer Fleck in der Ferne auf, der zügig größer wurde. Ohne lange zu überlegen, ergriff er ihre Hand und schubste sie wieder ein paar Stufen hinab, die sie gerade erst hochgesprintet waren. Er drückte sie gegen die im Schatten liegende Wand, sein Körper schützend vor ihrem. Er bedeutete ihr mit einem Blick zu schweigen, hoffte, dass sie niemand entdecken würde. Seine andere Hand umklammerte fester das Schwert.
Ein Schauder lief ihm den Rücken hinab. So nah war er noch nie dem weiblichen Körper gekommen und unter anderen Umständen hätte er sich in Grund und Boden geschämt, doch gegenwärtig war die Angst stärker. Mit einer Hand krallte sich Helena an seiner Schulter fest. Ihre Berührung verursachte ein angenehmes Kribbeln und ließ sein Herz höher schlagen, noch wilder als ohnehin schon. Ihr keuchender Atem an seiner Brust, ihr pochendes Herz, ihre weiche Haut, lösten tief in seinem Inneren etwas aus.
Ein Verlangen.
Ein Begehren.
Eine Gier.
Er spürte ihren Blick auf sich liegen. Erschrocken über seine Gelüste, wich er ihren Augen aus und spähte über seine Schulter in den Hof. Der schwarze Fleck hatte sich zu mehreren, kleinen Klecksen verwandelt, in denen er die königlichen Wachen erkannte.
Der Trupp, bestehend aus vier Menschen, würdigte keine Sekunde lang den Abstieg zum Kerker. Welch ein Glück, dachte Nael. Innerlich seufzte er erleichtert auf und erst als das Marschieren der Patrouille verklang, löste er sich von Helena. Ihre Wärme, die noch gerade seinen Körper durchströmte, war abrupt verschwunden.
Er schüttelte den Kopf. Was stimmte mit ihm nicht! Er sollte sich fürchten, stattdessen dachte er über sie nach. Er rieb sich die Schläfe. Wieder etwas zu Atem gekommen, meinte er mit zittriger Stimme: »W-wir müssen hier w-weg. Wenn die Wache ge-gefunden wird, ist unsere Flucht au... aussichtslos.« Das Schloss würde vor Rittern wimmeln und die Zugbrücke würde eingeklappt werden. Das durfte unter keinen Umständen geschehen.
Nael steckte das Schwert zwischen Gürtel und Robe fest. Dann traten sie ins Freie. Der kalte Nachtwind pustete ihnen entgegen. Sein braunes Haar wehte wie vertrocknetes Gras. Ihr rotes Haar, das in dem Mondlicht kupferfarben wirkte, flatterte. Er deutete auf den Schattenweg an der Mauer, der zu dem großen Zugtor zu führen schien. »Da entlang!« Ohne zu zögern huschte er voran, dicht gefolgt von Helena.
Sie schlichen hintereinander in dem Schatten der Mauer. Vorsichtig setzte Nael einen Fuß vor den anderen, darauf bedacht, so wenige Geräusche wie möglich von sich zu geben, die in der totenstillen, glasklaren Nacht meilenweit gehört werden würden.
Sie waren im Freien und doch Gefangen. Wie Vögel, denen man die Flügel gestutzt hatte. Sie konnten nicht fliegen, lediglich von den Weiten der Lüfte träumen. Freiheit. Das Wort hatte binnen weniger Stunden eine völlig neue Signifikanz für Nael erhalten.
Freiheit war das wichtigste Gut eines Menschen.
Freiheit war unersetzbar.
Freiheit war verwundbar.
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