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Um Punkt 5 Uhr am nächsten Nachmittag stand Nuala vor dem Massagestudio und wusste nicht, was sie mit sich machen sollte, weswegen sie sich in den Schatten stellte und mit dem Rücken gegen einen Baumstamm lehnte. Da sie keine Ahnung hatte, wie pünktlich Harry Styles normalerweise war und der Verkehr in London um diese Zeit die Hölle war, stellte sie sich auf einige Minuten Verspätung ein, was sich schlussendlich auch als richtig erwies. Sie hörte ein Auto in ihrer Nähe parken und dann eilige, sich nähernde Schritte.
„Bitte entschuldige, der Verkehr war um einiges schwerer, als ich angenommen habe", wurde sie von der tiefen, beruhigenden Stimme begrüßt.
Nuala hob bloß eine Augenbraue und hörte darauf das Rascheln seines Shirts.
„Ich weiß, ich weiß, ich hätte früher losfahren können", gab er sich geschlagen und Nuala konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Wollen wir dann?", fragte Harry, worauf die Blonde nickte und ihren Blindenstock vor sich auf dem Asphalt hin und her schob, während sie dem Klang der Schritte vor ihr folgte.
Wenig später saßen sie im Auto und Nuala genoss die kühle Brise durch das offene Fenster. Die Sonne und die warmen Temperaturen waren wieder zurück, sodass ihr Arm, den sie aus dem Fenster hielt, trotz Fahrtwind warm blieb.
„Willst du nicht wissen, wohin's geht?", wollte Harry wissen.
Lächelnd erklärte Nuala, dass sie die Neugier in dieser Sache etwas verloren hatte, nachdem sie erblindet war. Es war zu oft vorgekommen, dass ihre Freunde auf solche Fragen ihrerseits mit einem Ort antworteten, der ihr nichts sagte und sie sich somit kein Bild davon machen konnte, was sie immer wieder frustriert zurückgelassen habe.
„Deswegen lasse ich mich nun jeweils überraschen und erkunde dann auf meine eigene Art."
„Verstehe", erwiderte Harry. „Dann hoffe ich, dass dir meine Idee gefällt."
Nur wenige Minuten später parkte er den Wagen und meinte, dass sie angekommen seien.
Nuala fühlte den weichen Boden unter ihren Schuhen und tippte somit auf Gras. Für Moos gab es dann doch zu wenig nach. Nach einigen Schritten fragte Harry: „Du bist schwindelfrei, hoffe ich?"
„Oh, jetzt bin ich aber gespannt. Aber ja, ich habe kein Problem mit der Höhe."
„Na dann, bitte geh noch zwei Schritte vorwärts und dann solltest du zu deiner rechten ein Geländer zu fassen kriegen. Die Treppe führt eineinhalb Mal um einen Baumstamm, ehe wir auf einer Plattform stehen werden. Ich bin direkt hinter dir. Du kannst also nicht runterfallen."
Nuala fand es süß und etwas nervig zugleich, dass der Sänger das Gefühl hatte, sie benötigte Hilfe beim Treppensteigen. Solange es ein Geländer hatte und die Tritte in regelmäßigen Abständen zueinander lagen, waren bloß die ersten drei Schritte etwas zögerlicher, doch danach hatte sich der Schrittrythmus wie bei jedem anderen Menschen auch in ihrem Gehirn gespeichert.
Sie bedankte sich dennoch und sah davon ab, ihm seine lieb gemeinten Worte zu verderben. Schließlich wusste er es wohl wirklich nicht besser, deswegen trafen sie sich heute ja.
Ein bisschen außer Atem kam sie oben an und machte einen kleinen Schritt zur Seite, damit Harry hinter ihr auf die Plattform treten konnte. Doch erst als er ihr versicherte, dass auch hier oben rundherum ein Geländer angebracht war, traute sie sich etwas größere Schritte zu machen.
„Ok, wo sind wir? Ich rieche Holz, nasse Erde und Tannnadeln. Wir sind ziemlich sicher in einem Wald, aber wo?", fragte Nuala nun doch.
Hätte Nuala sehen können, hätte sie Harry's anerkennenden Blick bemerkt, doch so hörte sie lediglich seine Antwort auf ihre Frage: „Wir sind im Epping Forest. Etwas weiter im Wald selber. Da gibt es einige wenige Hochsitze und solche Plattformen."
Sie trat ans Geländer und fuhr mit ihrer Hand darüber. Das Holz das für diese Brüstung angebracht war, war weniger bearbeitet und rauer als dasjenige, des Geländers der Treppe, und sie vermutete, dass hier oben wohl die einfachen Äste zusammengebunden oder aneinandergeschraubt worden waren.
„Es riecht himmlisch hier. Ich liebe den Wald – oder besser gesagt, liebte ihn", sprach Nuala nach einigen Sekunden Stille zwischen den Beiden.
„Ja, es ist echt schön hier. Ich hab zwei Sitzkissen dabei. Wir können uns also setzen, wenn du magst", erwiderte Harry, worauf Nuala ihr Einverständnis nickend kundtat.
Sie hörte den dumpfen Aufschlag, als er die Kissen auf den Holzboden fallen ließ und drehte sich in die Richtung des Geräuschs.
„Also, ehm ... kann ich dir irgendwie helfen, oder ... also ...", stammelte Harry und Nuala musste ab seiner Unbeholfenheit lachen.
Es war echt selten, dass man sie fragte, wie jemand mit ihr umgehen sollte. Viele hatten das Gefühl, sie wüssten, was das Beste für Nuala war und gingen davon aus, dass sie geführt und mit deren Hand im Rücken gelenkt werden wollte. Dies war aber nur in ganz seltenen Situationen der Fall. Dass Harry das anders anging, gab dem Sänger nochmals einige Pluspunkte mehr, die ihn nun immer weiter von der Null weg in die positive Richtung trugen.
Da sie sich vorstellen konnte, dass er sich durch ihren kleinen Lachanfall etwas in Verlegenheit gebracht fühlte, klärte sie auf, dass lediglich sein Stottern sie zu diesem Lachen animiert hatte.
„Dass du mich überhaupt erst fragst, ist sehr ungewohnt für mich, aber es ist das, was ich mir von meinen Mitmenschen wünsche. Darum möchte ich dir erstens danken und zweitens denke ich, dass Richtungsangaben genügen sollten."
Die Blonde klappte den roten Stock zusammen und wartete auf Harry's Anweisungen. Dieser erklärte ihr, dass sie nur zwei Schritte nach vorne machen und danach in die Knie gehen müsse, um das Kissen zu fühlen.
Nuala tat genau das und fühlte den gepolsterten Stoff nahe ihrer Knie. Nun musste sie sich nur noch umdrehen und sich auf die provisorische Sitzfläche setzen.
Harry neben ihr tat es ihr gleich und fragte dann: „Weshalb magst du den Wald nicht mehr so sehr?"
„Als ich noch ein Kind war, sind meine Eltern und ich oft campen gegangen und ich liebte es mit den anderen Kindern Verstecken, Fangen und was sonst noch zu spielen. Nachdem ich jedoch erblindete, war der Wald eine zu große Erinnerung an alles, was ich nun verpasste. Ich konnte nicht mehr rennen, da das Risiko, dass ich mir beim Hinfallen böse Verletzungen zuzog wegen Wurzeln oder anderen Hindernissen einfach zu groß war. Ich wollte nicht dort sein, wo ich am liebsten war, weil ich wusste, dass ich dort nie mehr so sein konnte, wie ich es war."
„Das tut mir leid", hörte sie zu ihrer Rechten und schüttelte nur leicht den Kopf.
„Ach was, das ist nun vorbei und ich lerne den Wald wieder zu lieben. Mit 23 will man ja nicht mehr unbedingt Verstecken und Fangen spielen", entgegnete sie.
„Du hörst dich so zufrieden an, wenn du über deine Be... Situation sprichst. Wenn du sagst, dass du erst ab einem gewissen Alter blind warst, kamen da keine Zweifel oder Wut auf? Wenn ich mir vorstelle, dass ich in einem Jahr nicht mehr sehen würde ... ich will das gar nicht zu Ende denken", stellte der Sänger die nächste Frage.
„Oh, ich war nicht immer so im Reinen mit meiner Behinderung", erwiderte Nuala und hörte das verlegene Lachen ihres Gesprächspartners, was sie dem Gebrauch des Wortes 'Behinderung' zuschrieb, das er mehr schlecht als recht versucht hatte zu umgehen. „Ich war unglaublich wütend, frustriert und traurig. Meine Erblindung kam plötzlich und war das Ergebnis eines Zentralvenenverschlusses. Dass man durch diesen das Augenlicht komplett verliert ist sehr selten aber ich hab da wohl den kürzesten Halm gezogen, denn bei mir ist genau das passiert. Und da es wie gesagt der kürzeste Halm war, gab es natürlich auch keine Behandlungsmöglichkeiten für mich. 'Es tut mir Leid, Nuala, aber du wirst ab sofort mit dieser Behinderung leben müssen' hat der Arzt gesagt.
Ich war zwölf und war mir sicher, dass mein Leben ab jetzt nur noch den Bach runtergehen würde. Ich musste bis auf das Sprechen sozusagen alles neu erlernen und dabei war Braille, die Blindenschrift, für mich noch nicht mal das Schwierigste. Es dauerte unglaublich lange, bis ich mit dem Blindenstock zurechtkam und nicht doch irgendwo mitten in London in eine Mülltonne oder einen Pfosten lief.
Ich muss hier wohl nicht erwähnen, wie peinlich mir solche Situationen jeweils waren.
Und nicht nur das erneute Lernen von Dingen, die ich bis dahin ohne nachzudenken gemacht habe, schlug mir aufs Gemüt. Dass Menschen mich entweder mieden oder komplett anders behandelten war wohl das Schlimmste. Ich hatte meine Eltern und drei Freundinnen, die sich echt anstrengten, um mir mein Leben ziemlich normal zu gestalten, aber der Rest tuschelte, ignorierte mich vollkommen oder sah sich als meine persönliche Pflegekraft.
Dass das Ganze zu Beginn meiner Pupertät anfing, half natürlich nicht und ich hab das Leben meiner Eltern und Freundinnen sehr viel schwerer gemacht, als das nötig gewesen wäre.
Irgendwann hat mich meine Mutter in meinem Dachzimmer hingesetzt und mir gesagt, dass ich entweder die Frustration und Wut mein Leben bestimmen lassen konnte oder aber ich würde es selber in die Hand nehmen und das Beste draus machen. Natürlich war ich zuerst noch wütender und habe ihr an den Kopf geschmissen, dass ich wohl jedes Recht der Welt hätte, frustriert zu sein, aber als ich an diesem Abend zu Bett ging, kreisten meine Gedanken um die Worte meiner Mutter und ich schwor meinem 15-jährigen Ich, dass ich es nicht zulassen würde, mich von dieser Behinderung in die Knie zwingen zu lassen.
Und so begann der seelische Heilungsprozess. Ich war ehrlich zu meinen Eltern und gab zu, wenn mir etwas schwerfiel – ob das nun auf physischer oder psychischen Ebene war –, damit wir das gemeinsam angehen konnten.
Wie du siehst, ist mir so vieles trotz Blindheit möglich, und das verdanke ich sowohl meinen Eltern, die mich begleitet haben als auch mir selber, da ich nicht aufgegeben habe."
„Phuu", machte Harry und sie hörte, wie er sich durch die Haare fuhr.
„Ich verrate dir was, Harry. Blind sein muss keine Misere sein. Schließ deine Augen!"
„Was?"
„Schließ deine Augen!"
Es dauerte einige Sekunden, bis Harry merkte, dass sie ja nicht sehen konnte, wann er seine Augen geschlossen hatte, worauf er ihr sagte, dass sie gänzlich zu seien.
„Gut. Bleib ruhig und atme gleichmäßig ein und aus."
Sie hörte seine tiefen Atemzüge und lächelte.
„Was hörst du?", fragte sie leise.
„Ehm, nicht mehr als sonst. Ich höre die Vögel zwitschern, aber das ist auch schon alles", gab Harry ehrlich zu.
Flüsternd erklärte Nuala, dass er sich auf seinen Herzschlag konzentrieren sollte und, wenn er ganz ruhig wäre, sollte er ihr sagen, was er hörte.
Nach einigen Minuten keuchte der Sänger auf und sie wusste, dass sein Hörsinn etwas geschärfter war.
„Ich kann den Wind im Blätterdach über uns hören und das Rascheln deiner Kleidung, wenn du dich bewegst. Irgendwo hämmert ein Specht gegen einen Baumstamm", listete er alles wispernd auf und Nuala lächelte.
„Gut", erwiderte sie genauso leise, „halte deine Augen geschlossen und gib mir deine Hand."
Er streifte ihren Oberarm, da er seine Hand zu weit nach rechts führte, doch sie kriegte seine Hand zu fassen und hielt sie sanft in ihrer.
„Was fühlst du?", fragte sie immer noch flüsternd und legte seine Handfläche auf den Baumstamm hinter ihnen.
Sie hörte, wie er seine linke Hand dazunahm und sachte über die Baumrinde fuhr. Er glitt immer weiter nach unten, bis er über den Holzboden der Plattform das Sitzkissen erreichte. Er tastete sich zu ihren weichen Unterlage und bekam ihre Hand zu fassen.
Sie ließ ihn diese in seine nehmen und spürte wenige Sekunden später sein schnell schlagendes Herz.
„Ich weiß nicht, was es ist, aber ich bin richtig aufgeregt", erklärte er leise und wieder musste Nuala schmunzeln.
Sie war sich ziemlich sicher, dass diese neuen Eindrücke über seine anderen Sinne für seine Aufregung und den erhöhten Puls verantwortlich waren, was sie ihm auch mitteilte.
„Nuala, das ist überwältigend. Du ... mit den Händen ... und Ohren ..."
Lachend nahm sie seine Hände wieder in ihre und vervollständigte seinen Satz: „Ja, ich sage immer, dass meine Augen zwar nichts taugen, aber sehen tue ich trotzdem. Ich gehe sogar soweit, dass ich sage, dass ich mit meinen Händen, meinen Ohren und meinem Herzen sehr viel mehr sehe als zu Zeiten, als ich mein Augenlicht noch besaß.
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Süß, wie unbeholfen und unwissend Harry ist, nicht?
Ich war noch nie im Epping Forest, weiß also auch nicht, ob es tatsächlich solche Plattformen gibt. Die Recherche lässt jedoch darauf schließen, dass es diese so in diesem Wald nicht gibt.
Ich habe mir dennoch die Freiheit genommen, sie für die Geschichte hier einzubauen.
Meine Lieben, das war das letzte richtige Kapitel. Ich habe noch den Epilog im Köcher und dann sind meine Pfeile für diese Geschichte ausgeschossen.
Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr mir spätestens beim Epilog sagen könnted, was ihr von dieser Kurzgeschichte haltet.
Lg und ein schönes Wochenende wünsche ich euch allen
Eure StephVi
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