Kapitel 9 - Rilsa

Die Explosionen ließen Erdklumpen von der Decke rieseln und Rilsa spürte die Erschütterung durch Mark und Bein gehen. Sie hörte wenige Meter über sich Schreie und das Trampeln der aufgescheuchten Leute. Leise fluchte sie und sah panisch zu Tessina, die eine schwach flackernde Öllampe mit ihrem Schwanz festhielt. Eilig kam die braune Schlange auf sie zu, Panik in ihrem Blick. Rilsa, eine Androidin, keuchte und schüttelte den Kopf. Tessina hielt neben ihr inne, sah aber den dunklen Tunnel entlang, in dem sie sich versteckten. 

„Nein, das darf nicht wahr sein", sagte Rilsa mehr zu sich selbst, dennoch antwortete Tessina. 

„Wir sind zu spät. Los! Hilf den anderen dabei, noch weitere Granatenwürfe zu verhindern, ich helfe den Menschen", sagte sie, drückte ihr die Öllampe in die Hand, die gefährlich wackelte und schlängelte eilig in die Richtung, aus der sie gekommen waren. 

„Sei vorsichtig!", rief Rilsa ihr nach, doch Tessina war bereits in der Dunkelheit des Tunnels verschwunden. Noch einmal atmete Rilsa tief durch, dann wandte sie den Blick nach vorn und rannte los. Sie durfte keine Zeit verlieren, denn mit jeder Sekunde, die sie tatenlos herumstand, gefährdete sie weitere Leben. 

Ihre weichen Lederschuhe passten sich perfekt dem erdigen Untergrund an und inzwischen hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit unter der Erde gewöhnt. So schnell sie konnte lief sie einige hundert Meter bis sie in einen größeren, unterirdischen Raum kam. Sofort wanderte ihr Blick zur Decke und sie erkannte das Schlupfloch, das sie und ihre Verbündeten gegraben hatten. Hier war einer der vielen geheimen Ausgänge aus ihrem angelegten Tunnellabyrinth. 

Auch wenn sie das hier alles einhundert Mal durchgespielt hatten, war es in der Theorie etwas ganz anderes. Sie zitterte, als sie die Lampe neben sich auf dem Boden abstellte und anschließend die Hände durch das kleine Loch in der Decke schob. Sofort fand sie das Seil und zog es durch das Loch, bis es weit genug herunterhing, sodass sie sich daran hochziehen konnte. Sie war so aufgeregt und stand so sehr unter Spannung, dass es ihr unendlich schwer vorkam, sich durch das enge Loch zu quetschen. Die ganze Zeit fühlte sie sich zu langsam, aber sie schaffte es einfach nicht, ihre zitternden Glieder unter Kontrolle zu halten. 

Sie gelangte durch das Erdloch in einen hohlen, knorrigen Baumstamm, in dem so gerade eine Person Platz hatte. Sie spürte die umschließende Enge des verdorrten Holzes um sich und spähte vorsichtig durch das Astloch auf Kopfhöhe nach draußen. Erst da hörte sie auch die Schreie der Menschenfrauen, die Opfer des Angriffs geworden waren. 

Rilsa stockte der Atem und panisch schlug sie die Hand vor den Mund, als sie einige reglose Körper am Boden liegen sah, keine zehn Meter von ihr entfernt. Sie spürte eine unendliche Last auf sich ruhen, denn sie fühlte sich für den Tod dieser Menschen verantwortlich. Sie und ihre Verbündeten hatten es nicht verhindern können, dass die Regierung Granaten auf die Menschen abgeworfen hatten, obwohl sie von diesem Plan gewusst hatten. 

Wütend ballte sie die Hände zu Fäusten und konnte nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken. Sie musste weiter, den anderen irgendwie helfen. Noch einmal warf sie einen Blick durch das Astloch und sah sich nach Elstern um. Doch sie erkannte nur Niedere Menschen, die panisch umherliefen und den Verwundeten halfen. Sie duckte sich und presste sich ungesehen durch den kleinen Schlitz im Baumstamm, dann rannte sie los. 

Geschützt durch das hohe Gras rannte sie abseits des Weges in Richtung des Slums. Sie würde hoffentlich nicht auffallen, denn sie trug die Kleidung, die die Menschen in dieser Gegend normalerweise trugen und sie hoffte, ihre für sie als Androidin typischen ruckartigen Bewegungen verbergen zu können. 

Nach einer gefühlten Ewigkeit gelangte sie an den Zaun, der das Slum umgab und geduckt eilte sie weiter. Das Gras schützte sie, allerdings war ihr durchaus bewusst, dass hier am Zaun hin und wieder Elstern postiert waren. Sollte ihr Plan jedoch funktioniert haben, waren diese bereits ausgeschaltet. 

Ihre Lungen brannten vor Anstrengung und die eiskalte Luft kroch über ihre schweißnasse Haut. Sie hetze weiter, bis sie das Hauptquartier erblickte. Es war ein kleines, aber im Gegensatz zu den hier stehenden Holzhütten ein gemauertes Gebäude. Oben befand sich eine Art Ausguck, auf dem normalerweise Elstern Wache hielten. 

Rilsa presste sich mit dem Rücken an den Maschendrahtzaun und spähte hinauf. Niemand war zu sehen, also waren ihre Verbündeten erfolgreich gewesen. Zumindest in einem Punkt des Plans. Das Hauptquartier lag ganz am Rande des Slums, eingeschlossen von dem dichten, drei Meter hohen Maschendrahtzaun. Allerdings befand sich auf der Rückseite ein Hintereingang, der nicht vom Zaun geschützt war. 

Sie eilte weiter, um durch den Hintereingang ins Innere zu gelangen, wo sie ihre Verbündeten vermutete. Noch einmal sah sie sich panisch um, ob auch niemand sie beobachtete, dann rannte sie auf die schwarze Tür zu. Doch bevor sie sie erreichte, hielt sie inne. Ein Schrei entfuhr ihrer Kehle und sofort presste sie sich da Hand auf den Mund. Wie gelähmt stand sie da und starrte auf die Eingangstür. 

„Flieh", keuchte Loris und es klang, als hätte er diese Worte mit seiner letzten Kraft gesprochen. Er stand an der Tür, oder besser gesagt: er hing an der Tür. Sein Gesicht war ihr zugewandt, seine Arme und Beine hingen schlaff und in einem unnatürlichen Winkel herunter und in seiner Brust steckte ein Speer, der ihn an die Tür spießte. Elektronisches Knistern zuckte um die Eintrittswunde, eindeutig ein Zeichen, dass Loris nur noch wenige Minuten zu leben hatte. Rilsa stolperte und fiel ungeschickt auf den Boden. Sie musste irgendetwas tun, doch ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen. 

„Rilsa! Flieh! Sie zünden die Granaten. Hier!", stieß Loris aus, dann sank sein Kopf auf die Brust und das Knistern um seine Brust erlosch. 

„Nein", entfuhr es ihr und Tränen rannen ihr über die Wangen, denn die Erkenntnis, dass Loris tot war, traf sie wie ein Hammerschlag. Das durfte nicht passiert sein! Sie hatten doch alles bis ins kleinste Detail geplant, wie konnte er tot sein? 

Irgendwie schaffte sie es, sich aufzurappeln und sie stolperte auf ihn zu. Sein Gesicht sah beinahe friedlich aus, so als würde er schlafen. Ihr Blick wanderte zu seinem Handgelenk und genau in diesem Moment verblasste sein grüner Armring und wurde weiß, ein Zeichen, dass die Verbundgemeinschaft von ihm gelöst worden war und zwar durch seinen Tod. 

Panisch griff Rilsa nach dem Ring und versuchte so viel Liebe und Mitgefühl durch ihre Hände hineinströmen zu lassen, wie sie in diesem Moment übrig hatte. Loris Verbundene, ebenfalls eine Androidin, die zu Hause auf ihn wartete, sollte spüren, dass sie sich um ihn kümmern würde. 

Rilsa griff nach dem dicken, metallenen Speer in seiner Brust und zog daran, doch er bewegte sich keinen Zentimeter. Sie stemmte einen Fuß gegen die schwarze Tür und versuchte erneut, ihn von diesem unnatürlichen Ding in seiner Brust zu befreien. Mit einer beinahe verspottenden Langsamkeit löste sich der Speer aus seinem Körper, bis er schließlich ganz aus ihm herausglitt. 

Loris fiel augenblicklich mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden. Ihr Magen drehte sich um und mit einem Wutschrei schleuderte sie den Speer weg. Sie fiel auf die Knie und drückte Loris Hand, als könnte ihn das wieder zurück in die Welt der Lebenden holen, doch natürlich rührte er sich nicht mehr. Eine Träne rollte ihr über die Wange und am liebsten wäre sie einfach hier bei ihm sitzen geblieben und hätte um ihn getrauert, aber sie musste weiter. Gefühle hatten in ihrem Plan keinen Platz. 

Sie packte Loris Körper unter den Armen und schleifte ihn ein Stück weg, sodass er verborgen im Gras lag. Sie faltete seine Hände auf seiner Brust, dann erhob sie sich und starrte wutentbrannt in Richtung des Hauptquartiers. Ihre Lippe fing an zu zittern und sie spürte diesen vertrauen Zorn in sich aufsteigen, der sie antrieb. 

Mit festen Schritten ging sie zurück zur Tür, an der ihr Freund aufgespießt worden war. Sie hatte keine Ahnung, wo seine Mörder waren und ob er es geschafft hatte, die Granaten zu zerstören, aber es gab nur einen Weg, das herauszufinden. 

Sie legte die Hand an die Klinke, doch bevor sie sie öffnen konnte, sah sie aus dem Augenwinkel einen Schatten. Sie zuckte heftig zusammen und presste sich erschrocken mit dem Rücken an die Tür, als auf einmal etwas vor ihr von oben herabfiel. Es war vielleicht so groß wie ein Kürbis und als sie näher herantrat, um den Gegenstand zu betrachten, hörte sie ein hämisches Lachen. 

Panisch riss sie den Kopf hoch und sah eine Elster, die ihr ins Gesicht lachte. Sie stand oben auf dem Ausguck und erst da wurde ihr bewusst, dass sie etwas heruntergeworfen hatte. Rilsas Blick wanderte wieder ins Gras und endlich erkannte sie, was es war. Galle stieg in ihr auf und sie presste die Hand auf den Mund, um nicht zu schreien. 

Denn vor ihr lag ein Kopf, abgetrennt vom Körper. Das schwarze Haar war unverkennbar, ebenso die vor Schreck geweiteten grauen Augen. Bregis. Loris Begleiter, ihr Verbündeter, war eindeutig tot. Ermordet von den Elstern. Rilsa bebte vor Wut und noch einmal wanderte ihr Blick nach oben, wo die Elster noch immer stand und auf sie herabsah. 

„Euer jämmerlicher Versuch ist gescheitert. Wir werden euch töten, bis auf den Letzten von euch!", höhnte die Elster, legte den Kopf in den Nacken und lachte. Auf einmal ertönte ein ohrenbetäubendes Geräusch und Rilsa sah in den Himmel. Wind kam auf und zerzauste ihr das Haar. Sie begriff, dass es ein Helikopter war, der herangeflogen kam. Panisch drückte sie sich an die Tür des Hauptquartiers und beobachtete, wie die Elstern aus dem Ausguck über eine heruntergelassene Leiter in den Helikopter kletterten. Nur einer von ihnen blieb auf der Leiter stehen, während der Helikopter sich höher in den Himmel schraubte. Er sah Rilsa genau ins Gesicht, da erkannte sie auf einmal einen kleinen Apparat in seiner Hand. Er grinste teuflisch, drückte auf dem Apparat herum und ließ ihn fallen. Er landete genau neben Bregis Kopf und als sie begriff, was es war, stolperte sie vorwärts. Leuchtende rote Zahlen blinkten auf. 10, 9, 8... Es war eine Zündung! 

Rilsas Herz raste wie verrückt und sie hastete weiter nach vorn, weg vom Hauptquartier, weg von den Sprengsätzen, die zweifelsohne gleich in die Luft gingen. Es kam ihr vor, als rannte sie auf der Stelle, als wären ihre Beine gelähmt. Hatten sich so Loris und Bregis gefühlt, kurz bevor sie ermordet worden waren? Rilsa wagte es nicht, zurück zu sehen, denn sie wusste, dass sie noch viel zu nah am Hauptquartier war. Ein Schluchzen brach aus ihr hervor, denn ihr wurde bewusst, dass auch sie sterben konnte. Aber es war noch nicht ihre Zeit! Sie durfte nicht sterben, sie konnte die anderen nicht allein lassen. 

Genau als sie das dachte, hörte sie die Explosion. Ein ohrenbetäubendes Getose brach los, dann spürte sie die Schockwelle. Sie flog durch die Luft und landete hart auf dem Boden. Instinktiv presste sie sich ins hohe Gras, schützte den Kopf mit den Händen und wartete auf den tödlichen Aufprall. Irgendetwas musste sie doch treffen und töten, so wie die anderen Menschen auf dem Arbeiterinnenstrich. 

Allmählich hörten die Explosionen auf und ließen nur ein penetrantes Piepen in ihren Ohren zurück. Plötzlich spürte sie einen harten Schlag direkt neben sich und erschrocken schrie sie auf. Sie wagte es nicht, den Blick zu heben, doch nach ein paar Sekunden der Stille nahm sie langsam die Arme von ihrem Kopf und sah zur Seite. 

Neben ihr, keine dreißig Zentimeter von ihrem Kopf entfernt war ein riesiges Trümmerteil eingeschlagen, das sie ohne Zweifel getötet hätte. Rilsa zitterte, denn sie konnte nicht glauben, dass sie noch lebte. Vielleicht war sie auch tot und sie hatte es nur noch nicht begriffen. Sie spürte, wie sie zurück ins Gras sank und liegen blieb. Sie hatte einfach keine Kraft mehr, um aufzustehen, geschweige denn zurück zum Eingang in die Tunnel und zurück ins Lager zu gehen. Nach und nach ließ das Piepen in ihren Ohren nach und wich einer allumfassenden Schwärze. 

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