Kapitel 78 - Generis
Erst hier unten erkannte Generis das wahre Ausmaß der Zerstörung. Kein Stein war mehr dort, wo er einmal gewesen war, ja die ganze Landschaft war vom Wasser neu geformt worden.
„Schnell, wir sollten zuerst in Richtung des Königspalastes", sagte Tessina, die es offensichtlich kaum erwarten konnte, ihre Zähne in jeden Hohen Menschen zu bohren, dem sie begegneten.
Generis blickte auf den Boden und erkannte jede Menge Schlamm, durch den sie sich würden kämpfen müssen. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, doch mehr als einmal rutschte er aus und fiel beinahe hin.
Um ihn herum herrschte absolutes Chaos. Obwohl hier in dieser Gegend so gut wie keine Menschen gelebt hatten, lagen überall Trümmer herum. Holzplanken, Pflanzen und Hausrat lag verstreut im Schlamm.
Ein merkwürdiges Gefühl machte sich in ihm breit und als er zu Kosiris sah, der nur wenige Meter von ihm entfernt war, wusste er, dass er sich ebenso beklommen fühlte wie er selbst. Nur Tessina schien bester Laune zu sein. Elegant schlängelte sie sich durch die Trümmer hindurch und zischte dabei leise vor sich hin.
Auf einmal beschleunigte Tessina und sie verschmolz beinahe mit dem braunen, matschigen Boden.
„Tessina!", rief Kosiris, der sich beeilte, ihr nachzukommen. Generis jedoch hielt wachsam Ausschau nach dem, was Tessina womöglich entdeckt hatte.
Plötzlich hörte er ein Wimmern, das ganz in der Nähe sein musste. Abrupt hielt er inne und sah sich suchend um, als er auf einmal ein winziges Gesicht im Schlamm entdeckte.
Es war ein kleiner Gorilla, ein Kind, vielleicht drei oder vier Jahre alt. Er war bis zum Hals im Schlamm versunken, nur eine Hand ragte noch heraus. Sofort sank Generis neben ihm nieder und fing an, den wässrigen Schlamm mit den Händen beiseite zu schaufeln. Allerdings rutschte immer wieder Schlamm nach, sodass er nur langsam vorankam.
„Keine Angst, ich helfe dir", sagte er zum dem Kleinen, der nur noch mehr wimmerte.
„Kosiris, hilf mir", rief Generis, ohne den Blick von dem panischen Gesicht des Jungen zu nehmen. In seinen Augen lag so viel Angst, dass Generis ihn am liebsten in den Arm genommen hätte.
„Befreie seine Hand, ich ziehe ihn heraus", hörte er auf einmal Kosiris Stimme neben sich und erleichtert atmete Generis auf, dass die Anakonda sein Rufen gehört hatte. Eilig schob Generis den Schlamm um die herausragende Hand des Jungen weg, bis nach und nach sein Arm befreit wurde. Sogleich umschlang Kosiris ihn und zog, während Generis weiter um den kleinen Körper herum den kalten Schlamm wegschaffte.
Mit einem schmatzenden Geräusch löste der Junge sich schließlich aus dem Schlamm und mit einem Schluchzen brach er zusammen. Panisch nahm Generis ihn in die Arme und strich ihm sanft über den Kopf.
„Du bist in Sicherheit", sagte er, erhob sich und ging zurück in Richtung der Seilbahn. Er fühlte sich wie in einem Traum, denn auch wenn er sich schon oft die Auswirkungen der Flutwelle vorgestellt hatte, war die Realität doch um einiges erschreckender.
Wie viele unschuldige Kinder waren wohl tief unter dem Schlamm und den Trümmern verborgen? Wie viele von ihnen würden sie retten können?
Generis spürte, wie ihm auf einmal das Atmen schwer fiel. Die Vorstellung, dass es womöglich einige Niedere Lebewesen das Leben gekostet hatte, ließ sein Herz brechen. Der kleine Gorilla in seinen Armen klammerte sich an ihm fest, als wäre er seine Mutter.
Panisch vertrieb er den Gedanken an die wahrscheinlich toten Eltern des Kleinen und beschleunigte so gut es ging seine Schritte, bis er endlich an der Seilbahn ankam und den Jungen in den Stuhl setzte.
Wie schon bei Laskina stellte er sich neben den Beinen des Kleinen auf die Sitzfläche und zog ihn nach oben zu den anderen Überlebenden. Sicherlich würde sie sich gut um ihn kümmern. Sofort nahmen ihn die Lebewesen auf dem Plateau in Empfang und umsorgten ihn.
Doch auch wenn er am liebsten hier geblieben wäre, musste er zurück und Tessina und Kosiris helfen. Denn noch war ihr Plan nicht zu Ende. Erst wenn das Königspaar tot und die überlebenden Hohen Menschen zur Kapitulation gebracht worden waren, würden sie erfolgreich gewesen sein.
Noch einmal sah er zu dem kleinen Jungen, doch dann ließ er sich mit der Seilbahn nach unten sausen und eilig hetzte er den beiden Schlangen nach, die sich zielstrebig in Richtung des Königspalastes bewegten.
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Es dauerte einen Moment, bis er zu ihnen aufgeschlossen hatte, aber als er neben Kosiris ankam, sah dieser zu ihm, ein wenig Sorge im Blick.
„Sie ist sehr verbissen, im wahrsten Sinne des Wortes", sagte er und auch wenn dieser Witz im Anbetracht der Situation mehr als unangemessen war, zuckte ein Lächeln über Generis Lippen.
„Es macht mir nur zu schaffen, dass auch Unschuldige ums Leben gekommen sind", sagte er leise, doch Kosiris schüttelte den Kopf.
„So darfst du nicht denken. Wir müssen nach vorn blicken", sagte er mit fester Stimme und auch wenn Generis nickte, gelang es ihm nicht.
Immer wieder hielt er Ausschau nach Überlebenden, doch auf dem ganzen Weg bis hier her hatte er niemanden mehr gesehen. Entweder waren die Lebewesen, die hier im Randgebiet gelebt hatten rechtzeitig geflohen oder sie waren alle sehr viel tiefer unter dem Schlamm begraben.
„Kommt schon! Ich will es zu Ende bringen", rief Tessina, die schon einige Meter vor ihnen war. Kopfschüttelnd sah Generis zu der kleinen, braunen Schlange, die sich durch den Schlamm schlängelte.
Noch einmal ließ Generis den Blick umherwandern und auch wenn er wusste, dass das besiedelte Gebiet flächenmäßig nicht sehr groß war, wirkte es nun ohne Bauten und ohne Bäume, die ebenso dem Erdboden gleich gemacht worden waren, unendlich groß.
Nur ein Gebäude war genau zu erkennen, nämlich der Königspalast im Regierungsbezirk. Wie ein einsamer Berg stach er hervor und auch wenn er sicherlich noch einige Kilometer entfernt war, wirkte er zum Greifen nah.
Plötzlich fiel ihm etwas ein und er wandte sich wieder Kosiris zu.
„Sollten nicht Rilsa und Atimis wieder zu uns stoßen?", fragte er, woraufhin Kosiris nickte.
„Ja, du hast recht. Ich bin sicher, sie sind hier irgendwo, aber wir können nicht auf sie warten. Wir müssen die überlebenden Regierungsmitarbeiter ausschalten, bevor sie sich mobilisieren können", sagte er, was Generis unsanft zusammenzucken ließ.
„Glaubst du, es sind so viele, dass sie uns gefährlich werden können?", fragte er, denn bei der Vorstellung, womöglich über mehrere Tage kämpfen zu müssen, bis eine Seite gewonnen hatte, wurde ihm übel. Denn es führte ihm nur vor Augen, dass sie noch immer von den Regierungsmitarbeitern besiegt werden konnten.
„Sicherlich haben sich nicht wenige im Königspalast verschanzen können", erwiderte er und bestätigte damit seine Befürchtung.
„Aber wir müssen Tessina geschickt einsetzen. Sie dürfen sie nicht direkt sehen", fuhr er fort und Generis nickte langsam.
„Weiß sie das auch?", fragte er mit einem Blick zu Tessina, die fest entschlossen zu sein schien. Kosiris seufzte.
„Ich werde sie kurz vor unserer Ankunft am Königspalast noch einmal daran erinnern", sagte er, dann verfielen sie in Schweigen.
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