Kapitel 7 - Laskina
Nervös hielt Laskina Ausschau nach der Kutsche, die sie gestern mitgenommen hatte, doch obwohl schon einige Hohe Menschen ankamen, war sie nicht zu sehen. Sie stand in einer Reihe mit den anderen Mädchen, die hier am Straßenrand darauf warteten, von Hohen Menschen zum Arbeiten abgeholt zu werden. Sie sah einige bekannte Gesichter und erkannte einige der Hohen Menschen, die die Reihe entlang schlenderten und die Mädchen abfällig betrachteten.
Die Hohen Menschen unterschieden sich deutlich von ihnen, den Niederen Menschen. Sie waren wohlgenährt, die meisten sogar dick und sie trugen schicke schwarze Hosen und glänzende Hemden. Ihre Augen leuchteten strahlend blau, genau so wie ihre eigenen. Manchmal hätte sie am liebsten ihre Augen verschlossen, damit niemand erkannte, dass sie als Hoher Mensch geboren war.
Immer mehr Hohe Menschen kamen mit Pedalwagen angefahren. Es waren im Prinzip große Holzkisten mit Sitzbänken darin, die auf vier Rädern montiert worden waren. Diese trieb man auf den Bänken sitzend mit Pedalen an. Ganz vorne hatte der Hohe Mensch seinen Platz, sodass die strampelnden Arbeiterinnen hinter ihm saßen. Er lenkte den Wagen mit einer Lenkstange, doch sobald genug Arbeiterinnen darin saßen, um den Wagen anzutreiben, ließ er sie die Arbeit machen.
Immer mehr Wagen fuhren an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. Allmählich wurde ihr mulmig zumute, denn auch wenn es hin und wieder vorkam, dass nicht alle Frauen eingesammelt wurden, war es selten. Unruhig fing Laskina an, auf den Fußballen auf und ab zu wippen, denn auch der nächste hohe Mensch ging an ihr vorbei, ohne sie zu beachten.
Als sie noch einmal die Straße entlang sah, entdeckte sie endlich die Kutsche. Es war eindeutig der Hohe Mensch von gestern, Ethonis und eilig legte sie ein charmantes Lächeln auf. Die Kutsche kam näher und als sie bemerkte, wie der Blick von Ethonis durch die Reihe wanderte, trat sie einen Schritt nach vorn. Als hätte er sie tatsächlich gesucht, hielt er die Kutsche vor ihr an. Die Pferde, von denen sie gezogen wurde, trippelten nervös hin und her, doch Ethonis sprang beinahe lässig von der Kutsche herunter und kam auf sie zu. Ehrfürchtig, oder eher einstudiert senkte sie den Blick auf den Boden und machte einen kleinen Knicks.
„Du, Laskina! Du kommst mit", sagte er in lautem Ton und noch einmal knickste sie vor ihm. Erleichtert atmete sie auf, denn nicht nur, dass Ethonis sie gut bezahlte, die Arbeit im Blumengarten war auch nicht allzu anstrengend. Sie beeilte sich, in den Kutschwagen zu klettern und zu ihrer Überraschung war er leer. Sie setzte sich ganz in die Ecke ans Fenster, das jedoch mit einem dichten Vorhang verhangen war, sodass sie nur einen winzigen Spaltbreit nach draußen sehen konnte.
Die Tür des Kutschwagens stand noch offen, so als würde Ethonis noch weitere Arbeiterinnen aussuchen, die jeden Moment zu ihr einsteigen würden. Neugierig sah sie sich in dem hölzernen Wagen um. Die Bänke waren sogar mit weichen Kissen gepolstert und sie erlaubte sich, mit der Hand über den weichen Stoff zu fahren. Sehnsüchtig stellte sie sich vor, wie sich wohl Kleider als einem so weichen Stoff anfühlen mussten.
Auf einmal wurde sie von einem Ruck aus ihren Träumereien gerissen und panisch klammerte sie sich an der Bank fest. Die Pferde wieherten und die Kutsche wurde unsanft durchgerüttelt, bis auf einmal Schreie zu hören waren. Schreie? Laskina wurde panisch und gerade als sie nach draußen springen wollte, um nachzusehen, was diesen Tumult ausgelöst hatte, hörte sie einen ohrenbetäubenden Knall.
Laskinas Ohren rauschten und es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass sie auf dem Boden des Kutschwagens lag und hin und her rutschte. Die Kutsche holperte über den Weg, so schnell, dass die Tür immer wieder auf und zu schlug. Laskina schrie und versuchte krampfhaft, sich an der Bank hochzuziehen, doch es gelang ihr nicht. Immer wieder wurde sie quer durch den Wagen geschleudert und mehrmals stieß sie unsanft gegen die harten Holzwände, bis auf einmal ein erneuter Knall ertönte. Die Pferde wieherten voller Panik und bevor sie wirklich begriff, was passierte, kippte der Wagen.
Laskina wurde durch die noch immer offenstehende Tür geschleudert, während sich die Kutsche überschlug. Es fühlte sich an, als flog sie durch die Luft. Sie schrie und schloss die Augen, die Hände schützend vor dem Gesicht. Doch einen Aufprall auf dem harten Boden konnte sie nicht mehr verhindern. Sie landete auf der Seite und sie hörte es eindeutig knacken, gefolgt von einem stechenden Schmerz in ihrer Schulter.
„Rennt! Sie werfen Granaten!", hörte sie eine gedämpfte Stimme und als sie mühsam versuchte, sich aufzurichten, wurde sie von trampelnden Füßen getroffen. Offensichtlich herrschte Panik und sie Leute rannten wild umher. Noch einmal stützte sie sich auf den Armen ab und hob den Blick, doch sie sah nichts als umherlaufende Menschen, die in Panik vor etwas flohen.
„Hilfe", schrie sie, denn sie wusste, dass sie niemals allein würde hochkommen und im Strom mitlaufen können. Genau in diesem Moment spürte sie Füße, die sie im Rücken trafen und sie wieder auf den Boden stürzen ließen.
„Hilfe", brachte sie noch einmal hervor, aber keiner schien sie in der Panik zu bemerken.
„Hier her!", hörte sie auf einmal eine Stimme, dann spürte sie einen festen Druck um ihre Mitte. Beinahe fühlte es sich an, als hätte jemand ein Seil um sie gebunden und zöge nun an ihr. Mühsam hob sie den Blick und erkannte vor sich den Kopf einer Schlange.
„Du musst mir helfen!", rief die Schlange, bewegte sich nach vorn und gleichzeitig spürte Laskina einen Druck um ihre Mitte. Erst da begriff sie, dass die Schlange versuchte, sie vom Weg zu ziehen, damit sie nicht zu Tode getrampelt wurde. Sie kroch geduckt vorwärts, halb gezogen von der Schlange, halb aus eigener Kraft, bis sie schließlich in den Graben neben dem Weg rutschte.
Sie landete unsanft auf dem Rücken und erst da bemerkte sie den pochenden Schmerz in ihrer Schulter.
„Danke", keuchte sie, doch die Schlange war nicht mehr zu sehen. Hatte sie sich das nur eingebildet?
„Laskina!", hörte sie ein Rufen, eindeutig eine männliche Stimme. Sie vermutete Ethonis, der nach ihr suchte.
„Hier bin ich", rief sie und hob die Hand, damit er sie bemerkte. Keine zwei Sekunden später schlitterte jemand zu ihr in den Graben und griff nach ihrer Hand.
„Bist du verletzt?", fragte Ethonis. Seine Stimme klang panisch und irgendwie voller Angst, als sei sie nicht bloß eine Arbeiterin, die leicht zu ersetzen war. Ethonis kniete neben ihr und zog an ihrer Hand, sodass sie in eine sitzende Position kam.
„Meine Schulter", sagte sie und bemerkte erst da, dass ihr linker Arm in einem ungesunden Winkel herunterhing. Ethonis Atem ging stoßweise und eilig kniete er sich hinter sie, um sie zu stützen. Komischerweise fühlte sich sein Griff stark und schützend an, auch wenn sie ihn heute erst das zweite Mal sah.
„Was ist passiert? Die Kutsche...", fragte sie, doch ihre Stimme brach. Zu sehr schmerzte ihre Schulter und noch immer hallte es in ihren Ohren von den Explosionen.
„Die Pferde sind durchgegangen und sie sind gestürzt. Ich habe sich nur aus der Kutsche stürzen sehen", sagte Ethonis und auf einmal spürte sie seine Hand auf ihrem Kopf. Sanft strich er ihr durchs Haar und komischerweise war das irgendwie tröstlich.
„Was genau ist passiert?", wollte sie wissen, woraufhin Ethonis verächtlich schnaubte.
„Granaten", sagte er kalt und sofort durchzuckte es sie. Granaten? Ein Anschlag?
„Wer...?", setzte sie an, doch wieder schnaubte Ethonis.
„Das ist im Moment nicht wichtig. Wir müssen hier weg und zwar schnell", sagte er, erhob sich und zog sie auf die Beine. Um sie herum drehte sich alles und sie brauchte einen Moment lang, um sich zu orientieren. Als sie erkannte, was für ein Durcheinander um sie herum herrschte, schlug sie die Hand vor den Mund.
„Oh nein", entfuhr es ihr, denn die Pferde, die Ethonis Kutsche gezogen hatten, lagen regungslos da, ebenso einige Menschen. Überall wuselten Leute herum, einige halfen denjenigen, die am Boden lagen. Etwas weiter in die Richtung, aus der sie gekommen war, erkannte sie ein großes Einschlagloch. Gut einen Meter im Durchmesser war ein Loch in den Boden geschlagen worden, darum herum lagen Menschen reglos auf der staubigen Erde. Waren sie... tot?
„Wir müssen ihnen helfen!", schrie sie und machte Anstalten, in Richtung des Einschlagloches zu rennen, doch Ethonis starke Arme hielten sie fest.
„Wir müssen hier weg und das so schnell wie möglich", widersprach er und zog sie in die entgegengesetzte Richtung. Laskina stolperte, doch Ethonis zog sie weiter, bis sie ein gutes Stück entfernt im hohen Gras schnaufend zusammenbrachen und liegen blieben. Laskina keuchte, denn ihre Schulter schmerzte heftig und ihr Puls raste. Ein Schluchzen brauch aus ihr hervor und sofort spürte sie Ethonis beschützende Arme um sich.
„Sch", machte er beruhigend und fing an, sie sanft hin und her zu wiegen. Laskina konnte nicht glauben, was so eben passiert war. Ein Anschlag? Hier bei ihnen vor den Toren des Slums auf dem Arbeiterinnenstrich? Wer würde denn einen Nutzen davon haben, unschuldige Menschenfrauen zu töten?
Noch immer hörte sie in einiger Entfernung Schreie, aber nicht mehr von panischen Frauen und Mädchen, sondern von den Elstern. Sie konnte sie nicht verstehen, aber es klang so, als wollten sie die Frauen nach Hause schicken. Sie bemerkte, wie Ethonis in die Richtung der Elstern sah und sich erneut aufrappelte.
„Komm, bringen wir dich nach Hause. Du musst dich ausruhen", sagte er, half ihr dabei, auf die Beine zu kommen und führte sie abseits des Weges entlang in Richtung des Slums. Laskina fühlte sich wie gelähmt, doch auf einmal spürte, wie ihr Armring warm wurde auf ihrer Haut. Sofort blieb sie stehen, riss sich den Ärmel ihres Mantels hoch und betrachtete den Armring, der sie nicht nur als Niederen Menschen, sondern auch als Atimis Verbundene kennzeichnete. Der Ring wurde immer wärmer und fing an zu vibrieren, eindeutig ein Zeichen, dass Atimis sie suchte und Angst um sie hatte. Diese Ringe konnten auf eine unheimliche Weise die Gefühle des anderen widerspiegeln.
„Atimis", keuchte sie, umfasste den Ring und versuchte ihm so zu zeigen, dass mit ihr alles in Ordnung war. Augenblicklich wurde der Ring kühler und hörte auf zu vibrieren und sie wusste, dass Atimis spüren würde, dass sie außer einer Blessur an der Schulter nichts abbekommen hatte.
„Ist Atimis dein Verbundener?", fragte Ethonis, den sie für einen Moment ganz vergessen hatte. Erschrocken sah sie zu ihm und als sie in seine offenen, neugierigen Augen sah, nickte sie. Er war so anders als die übrigen Hohen Menschen, die sie bisher kennengelernt hatte.
„Seid ihr in einer Liebesbeziehung?", fragte Ethonis ungeniert weiter, was Laskina erröten ließ. Es war ungewöhnlich, dass Ethonis sich ganz normal mit ihr unterhielt. Verlegen senkte sie den Blick, nickte dann aber erneut.
„Zu dumm", kommentierte er, was sie abrupt stehen bleiben ließ. Ethonis bemerkte es erst, als er schon einige Schritte von ihr entfernt war. Er blieb ebenfalls stehen und wandte sich zu ihr um. Sein Lächeln wirkte auf einmal gequält und Laskina verspürte den Drang möglichst schnell von ihm wegzukommen. Unweigerlich musste sie an die Elstern denken, die in ihrem Slum die Nachtwache übernahmen und an die Angebote, die sie den Mädchen machten. Sie sendete ein Stoßgebet zu Atimis, dass er sie vielleicht suchte und hier fand, denn auf einmal wollte sie nicht mehr von Ethonis nach Hause begleitet werden. Sie schluckte schwer, als er ihr eine Hand hinhielt. Sie ignorierte sie, setzte sich aber wieder in Bewegung.
„Und du und deine Verbundene?", hörte sie sich fragen, denn auch wenn seine Bemerkung mehr als unangemessen war, sollte sie ihn nicht verärgern. Immerhin zahlte er gut und sie wollte weiterhin für ihn arbeiten. Ethonis lachte leise und freudlos.
„Wir waren es einmal. Aber schon seit einiger Zeit kann ich sie nicht mehr ausstehen", sagte er abschätzig, als wäre sie ein lästiger Klumpen Dreck, den man sich von den Schuhen schlagen musste. Laskina schluckte schwer, sagte aber nichts. Sie wusste, dass Verbundgemeinschaften auch wieder aufgehoben werden konnten, allerdings war das allein bei den Hohen Menschen verbreitet. Niedere Menschen konnten es sich weder leisten, noch kam es häufig vor, dass sie sich so sehr stritten, dass eine Verbundgemeinschaft aufgelöst wurde. Zumindest hatte sie noch nie davon gehört. Außerdem konnte sie sich nicht vorstellen, jemals von Atimis getrennt zu sein, dafür waren ihre Leben viel zu sehr miteinander verbunden.
„Weißt du, als wir vor zwei Jahren Generis adoptierten, dachte ich, es würde wieder besser werden. Unser Ansehen ist gestiegen und sie genießt durchaus die anerkennenden Blicke der Menschen, aber sie fürchtet sich vor ihm", sagte er dann und auch wenn es ihr eigentlich nicht zustand, etwas aus dem Privatleben ihres Arbeitgebers zu erfahren, lauschte sie neugierig. Sein Leben war so anders als ihr eigenes. Sie erinnerte sich an den Gorilla-Jungen zurück und auch wenn er allein durch seine schiere Größe einschüchternd war, schien er ein sanftes, verspieltes Wesen zu sein.
„Generis mag dich, das habe ich an seinem Blick gesehen", fuhr Ethonis fort und tatsächlich zuckte für eine Sekunde ein Lächeln über ihr Gesicht.
„Ich würde mich freuen, wenn ihr beide euch wiederseht, vielleicht wird er dann ein wenig ausgeglichener. Wenn er den ganzen Tag mir Emevra allein ist, wird er aggressiv", sagte Ethonis und überrascht sah Laskina ihn an. Ihre Blicke trafen sich für einen Moment und erst da betrachtete sie Ethonis genauer. Obwohl er eine für Hohe Menschen übliche Leibesfülle hatte, schien er körperlich fit zu sein. Zumindest hielt er mit ihr Schritt und als sie vorhin geflohen waren, hatte er sie hinter sich her gezogen, so schnell konnte er laufen. Sein Haar war dunkel und kurz, seine Haut olivfarben. Er war deutlich älter als sie oder Atimis, denn um seine strahlend blauen Augen legten sich bereits Falten.
„Generis wirkte nicht aggressiv auf mich", sagte sie und hörte, wie kratzig ihre Stimme klang.
„Nein, er scheint dich wirklich zu mögen. Daher wollte ich dich fragen, ob du anstatt im Blumengarten mit ihm zusammen arbeiten möchtest. Du könntest sozusagen sein Kindermädchen sein. Sicherlich ist er mit seinen elf Jahren kein Kind mehr, aber er könnte Gesellschaft gebrauchen, wenn ich nicht da bin", sagte er dann und erst begriff Laskina nicht, was er da sagte. Sollte das ein Angebot sein, dauerhaft für ihn zu arbeiten?
„Du musst dich nicht heute entscheiden. Sag mir morgen Bescheid, ich komme dich morgen auf dem Arbeiterinnenstrich abholen", sagte er und ohne wirklich darüber nachzudenken nickte sie.
„Ja, ich würde sehr gerne mit Generis arbeiten", platzte sie heraus, was Ethonis übers ganze Gesicht strahlen ließ.
„Das höre ich gern. Also, ich werde dich morgen abholen", sagte er und blieb auf einmal stehen. Erst da bemerkte Laskina, dass sie bereits am Eingangstor des Slums angelangt waren. Ethonis war es nicht gestattet, das Slum zu betreten, aus Sicherheitsgründen. Die Elstern oder besser gesagt: die Regierung war der Meinung, dass es in den Slums gefährlich für Hohe Menschen wäre.
„Vielen Dank Ethonis", sagte sie und tatsächlich hielt er ihr die Hand hin. Ohne zu zögern nahm sie sie.
„Ich danke dir. Bis morgen", verabschiedete er sich, dann löste er seine Hand aus ihrer und ging davon. Einen Moment lang sah sie ihm nach, dann rannte sie auf einmal los. Sie musste Atimis davon erzählen und zwar sofort.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top