Kapitel 69 - Generis

Es war bereits später Abend, als Generis das vertraute Geräusch hörte, das den Tagesrapport ankündigte. Er setzte sich ein wenig aufrechter in seinem Bett hin und spitzte die Ohren. 

„Lebewesen! Hiermit erinnert die Regierung erneut daran, dass jede Aktivität des Untergrundes sofort zu melden ist. Wer Mitgliedern des Untergrundes begegnet, muss dies sofort melden oder sie ausschalten. Ende des Tagesrapports", ertönte die beinahe gelangweilt klingende Stimme des Regierungssprechers. Generis zog verwundert die Stirn in Falten, denn normalerweise gab es ausführlichere Berichte. Langsam erhob er sich, denn auf einmal kam ihm eine Idee. 

Er ging in das obere Stockwerk, einer merkwürdigen Intuition folgend. Es war noch immer totenstill im Haus, denn Ethonis und Laskina waren noch nicht von ihrer Geschäftsreise zurückgekehrt. 

Generis betrat das Arbeitszimmer von Ethonis und betrachtete das Hologramm, durch das er Nachrichten empfangen konnte. Er betätigte den kleinen Schalter, der es aktivierte und beobachtete, wie sich das kleine Bild vor ihm aufbaute. 

Sofort erstarrte er, denn vor ihm war eindeutig Ethonis Gesicht zu erkennen. Es war blass und seine Augen waren geschlossen und er schien in einem Bett zu liegen. Sofort spürte Generis, wie ihm das Herz schneller gegen die Rippen schlug. Was hatte das nur zu bedeuten? 

„Dieser Mann wurde gemeinsam mit seiner Verbundenen in der Nähe des nördlichen Siedlungsgebietes der Hohen Menschen gefunden. Augenscheinlich wurden sie von Plünderern überfallen und Ethonis war schwer verletzt. Glücklicherweise wurde er rechtzeitig von seinem Handelspartner gefunden, der ihn gesucht hatte, nachdem er nicht zu einem gemeinsamen Termin erschienen war. Er wurde in ein nahegelegenes Behandlungszentrum gebracht. Sein Zustand ist trotz der hervorragenden Medizin kritisch. Seine Verbundene erlitt einen Nervenzusammenbruch, ansonsten ist sie unversehrt", sagte eine Stimme vollkommen emotionslos. 

Generis brauchte einen Moment, bis er begriff, was er soeben erfahren hatte. Laskina und Ethonis waren überfallen worden! Ihm entwich ein erstickter Laut und er sank kraftlos auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch zusammen. Was sollte er nun tun? Er hatte eine ungefähre Ahnung, wo die beiden sein konnten, aber wie sollte er sie noch rechtzeitig finden und retten? 

Ihm war klar, dass er nicht mehr viel Zeit hatte, bevor die Meereslebewesen die Flutwelle auslösten und auch wenn Ethonis ihn die meiste Zeit schlecht behandelt hatte, wollte er ihn warmen. Abgesehen davon, dass Laskina bei ihm war und sie wollte er unter keinen Umständen in Gefahr wissen. 

Panisch fing er an, im Zimmer auf und ab zu gehen. Was wollte er nur tun? Das nördliche Siedlungsgebiet war weit entfernt, zumindest wenn man zu Fuß ging. Aber was blieb ihm anderes übrig? Ethonis hatte die Kutsche genommen, sodass er nur zu Fuß gehen konnte. 

Kopflos rannte Generis nach unten, doch als er die Hand auf die Klinke der Gartentür legte, zwang er sich zu einem rationalen Gedanken. Vielleicht könnte er Poseidon erreichen, auch wenn es sehr unwahrscheinlich war, dass er so kurz vor dem entscheidenden Putschversuch noch hier im Teich vor. 

Dennoch musste er es versuchen. Er öffnete die Tür und eilte so schnell er konnte zu dem Teich, in dem Poseidon zuweilen lebte. Am Ufer fiel er auf die Knie und rief verzweifelt Poseidons Namen. 

Auch als er einige Sekunden lang gewartet hatte, konnte er ihn nicht in dem seichten Wasser ausmachen. Noch einmal rief er nach ihm, aber allmählich wurde ihm klar, dass die Muräne nicht hier war. 

Fluchend sprang Generis wieder auf und lief zum Ausgangstor des Grundstückes. Auch wenn es bereits anfing zu dämmern und er sich im Dunkeln im Wald nur schwer zurechtfinden würde, musste er es versuchen.

Noch einmal holte er tief Luft, dann verließ er das Grundstück, auf dem er die letzten zwei Jahre seines Lebens verbracht hatte. Beinahe fühlte es sich an, als beträte er eine andere Welt, so als fühlte sich hier das Gras anders unter seinen Füßen an als im Garten. So schön dieses Gefühl von Freiheit auch war, er musste sich beeilen. Er hörte das trockene, hohe Gras unter seinen Schritten brechen, als er in Richtung des Waldes lief. Er musste in Richtung Norden, sicherlich bis zum anderen Ende des Waldes. 

„He, wo willst du denn hin?", fragte auf einmal eine allzu bekannte Stimme, die Generis innehalten ließ. Suchend sah er sich nach Tessina um, erkannte sie aber erst, als sie sich direkt vor ihm aufrichtete. Sie war allein, zumindest konnte er Kosiris nirgendwo entdecken. 

„Ich... ich muss zum nördlichen Siedlungsgebiet. Ethonis und Laskina wurden überfallen und sie befinden sich in einem Behandlungszentrum", platzte er heraus, woraufhin Tessina verwirrt den Kopf schüttelte. 

„Dann sind sie doch gut versorgt", sagte Tessina, die offensichtlich nicht begriff. 

„Tessina, wenn wir sie nicht finden und retten werden sie der Flutwelle zum Opfer fallen", rief er aus und endlich verstand Tessina offensichtlich, warum er so in Eile war. 

„Verflucht! In Ordnung. Such sie und bringe sie wenn möglich hier her. Oder noch besser zum See", sagte sie, doch Generis sah sie fragend an.

„Wo ist der See?", fragte er, was Tessina seufzen ließ. Dennoch erklärte sie ihm in kurzen Sätzen den Weg und er versuchte, ihn sich einzuprägen. 

„Na los, verschwinde schon und rette dieses Mädchen, das alle aus einem mir nicht ersichtlichen Grund mögen. Kosiris und ich warnen die Niederen Lebewesen", sagte sie, dann verschmolz sie wieder mit den braunen, hohen Gras. 

„Danke!", rief er noch, dann rannte er los.

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Generis wusste nicht, wie lange er schon gelaufen war, aber seine Füße schmerzten und er war unendlich müde. Gleichzeitig fühlte er sich nervös und aufgekratzt, als er endlich in der Dunkelheit Lichter ausmachen konnte. Sie lagen noch in einiger Entfernung, aber das musste sicherlich das Siedlungsgebiet sein, in dem Ethonis und Laskina waren. Immerhin war das besiedelte Gebiet, in dem sie lebten, nicht wirklich groß, sodass tatsächlich alles mehr oder weniger gut zu finden war, wenn man sich an den Himmelsrichtungen orientierte. 

Generis hörte seinen eigenen, viel zu schnellen Atem, als er sich der Siedlung näherte. Er bemerkte, dass sie nicht eingezäunt war und er konnte auf den ersten Blick auf keine Wachen erkennen, die ihn hindern würden, einfach in die Siedlung hineinzugehen. 

Immer näher kamen die hell erleuchteten Fenster der Häuser und als er schließlich am Eingang der Siedlung ankam, hielt er inne. Suchend sah er sich um, doch niemand war zu sehen. Es kam ihm merkwürdig vor, dass er einfach hineingehen konnte. 

Zaghaft setzte er einen Fuß über die unsichtbare Schwelle der Siedlung und erwartete beinahe, dass Pfeile auf ihn zurasten oder eine Falle zuschnappte, aber nichts dergleichen geschah. Er trat weiter in die Siedlung hinein, unbemerkt und ungesehen. Denn immerhin war es Nacht und niemand mehr auf den Straßen. Obwohl die Fenster in den Häusern meist hell erleuchtet waren, wirkte die Siedlung wie ausgestorben. 

Suchend sah er sich nach irgendetwas um, was nach einem Behandlungszentrum aussah, aber hier schienen nur normale Wohnhäuser zu sein. Eilig hetzte er die Straße entlang, bis er plötzlich ein Geräusch hörte. 

Sofort hielt er inne und sah sich um und erkannte einen Schatten, der sich aus einem Hauseingang löste. 

„Wer bist du und was willst du hier, Tier?", fragte eine männliche Stimme, eindeutig zitternd und ängstlich. Sofort hob Generis die Hände, als Zeichen, dass er nicht bewaffnet war. Allerdings erkannte er nun, dass eindeutig ein Stich in seine Richtung gehalten wurde. 

„Ich... ich suche meinen Adoptivvater. Ethonis. Er ist verletzt und ich möchte zu ihm. Er soll hier im Behandlungszentrum sein", sagte er wahrheitsgemäß, denn das kam ihm als die einzige Möglichkeit vor, die er hatte. 

Die Gestalt, die noch immer halb verborgen im Schatten lag, starrte ihn weiterhin an, bis schließlich langsam der Stich gesenkt wurde. 

„Du bist der Sohn von Ethonis?", fragte er und Generis bejahte. 

„Bitte, ich mache mir große Sorgen um ihn", fuhr er fort, woraufhin der Mann endlich aus dem Schatten ins Licht trat. Er trug ein weißes Nachthemd, das im seichten Wind um seine Beine wehte, doch sein Gesichtsausdruck sah ganz und gar nicht danach aus, als sei er gerade aus dem Bett gekommen. Er beäugte ihn wachsam und argwöhnisch, bis sein Blick auf einmal weich wurde. 

„Warte einen Moment, ich zeige dir den Weg", sagte er, verschwand aber wieder im Haus. Ein wenig unschlüssig blieb Generis stehen, doch bevor er sich entscheiden konnte, was er nun tun sollte, kam der Mann wieder heraus. Er hatte sein Nachthemd gegen eine schwarze Hose und ein ebenso schwarzes Hemd getauscht und den Stich schien er ebenfalls abgelegt zu haben. 

„Folge mir", sagte er, ging an ihm vorbei und marschierte schließlich die Straße entlang. Generis folgte ihm, bis der Mann nach einigen Minuten stummen Fußmarschs vor einem unscheinbaren, weißen Gebäude stehen blieb. 

Er trat an die Haustür und klopfte gegen das massive Haus. Beinahe sofort wurde eine kleine Klappe in der Tür geöffnet und ein Gesicht einer Frau erschien. 

„Entschuldige die Störung. Ich bringe Ethonis Sohn. Er möchte seinen Vater sehen", sagte er und einen Moment lang schien die Frau hinter der Tür zu überlegen, doch dann legte sich ein Schatten auf ihr Gesicht und sie nickte. 

„Komm herein", sagte sie, schloss die kleine Klappe wieder und öffnete stattdessen die Tür. 

„Vielen Dank", sagte er noch zu dem Mann, der sich bereits schon wieder abgewandt hatte. 

„Nicht dafür", murmelte er und verschmolz mit der Dunkelheit. Generis richtete den Blick wieder auf die Frau, die ihm die Tür aufhielt und eilig schlüpfte er hinein. 

Im ersten Moment war er von dem hellen Licht geblendet, doch als seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Er befand sich in einem riesigen Raum, in dem jede Menge Krankenbetten standen, in ordentlichen Reihen. Die meisten Menschen schienen zu schlafen, aber einige wimmerten auch leise. 

„Bitte folge mir", sagte die Frau, die eine weiße Hose zu einer weißen Bluse trug. Ihr Haar war dunkel, was sie als einen Hohen Menschen auszeichnete. Sie lief zwischen den Betten umher und Generis folgte ihr. 

Noch bevor sie Ethonis Bett erreicht hatten, erkannte er ihn. Oder besser gesagt: er erkannte das, was einmal Ethonis gewesen war. Er stürzte das letzte Stück bis zu dem Bett und kniete sich daneben nieder. 

Erst da bemerkte er Laskina, die neben Ethonis Kopf hockte, die Arme auf der Bettkante und das Gesicht darin vergraben. Sie weinte. 

Generis Blick fiel auf Ethonis blasses Gesicht. Er lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen und trotz seiner normalerweise olivfarbenen Haut, wirkte er fahl. Auf seiner Brust war ein riesiger Verband, der jedoch von Blut getränkt war. 

„Oh nein", entfuhr es ihm, denn auch wenn er kein Mediziner war, wusste er, dass es schlecht um Ethonis stand. In diesem Moment schien Laskina ihn erst zu bemerken, denn sie zuckte heftig zusammen und hob langsam den Kopf. 

„Generis?", fragte sie mit kratziger Stimme. Ihre Augen waren verquollen und ihr Gesicht zeugte von einer unendlichen Traurigkeit. 

„Ja, ich bin hier, um euch zu holen", sagte er leise, doch Laskina schüttelte den Kopf und neue Tränen liefen ihr über die Wangen. 

„Nein, er... er wird es nicht nach Hause schaffen. Sie haben ihm bereits sechzig Ampullen Medizin verabreicht. Sie sagen, sein Herz ist irreparabel geschädigt", schluchzte sie, brachte aber die Worte mit einer solchen kalten Distanz hervor, dass Generis erschauerte. Zunächst begriff er nicht, was sie ihm sagen wollte, doch dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. 

„Du meinst, er stirbt?", fragte er, was Laskina mit einem Nicken beantwortete. 

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