Kapitel 67 - Atimis

Tatsächlich hatte Atimis sich nach drei Tagen unter der Erde ein wenig an die Dunkelheit und dieses erdrückende Gefühl gewöhnt. Was vermutlich auch an Rilsas Anwesenheit lag und daran, dass sie beinahe durchgehend seine Hand gehalten hatte. 

Noch immer kam es ihm merkwürdig vor, dass er so schnell Gefühle für sie hatte entwickeln können, aber da sie in den letzten Tagen so viel Zeit miteinander verbracht hatten, war er sich ziemlich sicher. Zumindest, dass er Rilsa sehr mochte und in der neuen Welt mit ihr ein gemeinsames Leben haben wollte. 

Aber vielleicht lag es auch ein wenig an der Stimmung, die sich seit sie bei den Androiden gewesen waren, auf sein Gemüt gelegt hatte. Er konnte es nicht recht beschreiben, doch es glich einer Art Weltuntergangsstimmung. 

Nicht, dass sie vorhatten, die Welt komplett zu zerstören, aber sie wollten etwas Neues aufbauen. Weltveränderungsstimmung passte vielleicht besser. 

„Wir müssten jeden Moment da sein", verkündete Rilsa, die am Hologramm stand und es eindringlich studierte. Atimis konnte noch nicht so recht glauben, dass sie tatsächlich drei Tage unterwegs waren, denn ganz ohne Sonnenlicht viel es ihm schwer, die Zeit einzuschätzen. 

Zwar waren sie hin und wieder für kurze Momente an die Oberfläche gegangen, um ein wenig frische Luft zu schnappen, aber die meiste Zeit hatten sie hier unten verbracht. Sie waren schlafen gegangen, wenn sie müde waren und hatten etwas von ihren Vorräten gegessen, wenn sie hungrig waren, aber ganz ohne Sonne war ein Tagesrhythmus kaum möglich. 

„Wunderbar! Ich freue mich schon auf frische Luft um die Nase", lachte er, erhob sich vom Boden, auf dem er gesessen hatte und trat näher an sie heran. Sie seufzte genüsslich, als er die Arme um sie legte. 

„Darauf freue ich mich auch", sagte sie sehnsüchtig, doch da fiel Atimis ein, dass sie noch jede Menge Zeit unter der Erde verbringen mussten, wenn sie wirklich das gesamte Gebiet der Hohen Menschen untergraben wollten. 

Eilig schob er diesen Gedanken jedoch beiseite und warf nun selbst einen Blick auf das Hologramm. Der blinkende rote Punkt, der ihr Ziel kennzeichnete rückte immer näher und Atimis spürte, wie er nervös wurde. 

Endlich konnten sie etwas Konkretes vorweisen, das ihren Plan vorantrieb. Sie hatten mit den Tunneln begonnen, so weit waren sie noch nie gewesen. 

Auf einmal blieb die Grabungsmaschine mit einem Ruckeln stehen, sodass er und auch Rilsa ein wenig ins Straucheln gerieten. Unwillkürlich wanderte sein Blick nach oben an die Decke. 

„Scheint, als wären wir da", sagte er, löste sich von Rilsa und griff nach dem Stein, den er schon am ersten Tag gefunden hatte. Er hatte eine beinahe schaufelartige Form, sodass man mit ihm gut graben konnte. Auch Rilsa hatte einen solchen Stein und gemeinsam fingen sie an, ein Loch in die Decke in Richtung Oberfläche zu graben. Immer wieder fielen ihm Erdkrumen ins Gesicht, doch inzwischen machte es ihm nichts mehr aus. Glücklicherweise bewegten sie sich nicht tief unter der Erde, sodass sie recht schnell vorankamen, trotz der fehlenden Schaufeln. 

„Beim nächsten Mal nehmen wir uns Schaufeln mit", sagte Rilsa, die offensichtlich genau in diesem Moment den gleichen Gedanken hatte. 

„Ja, darauf kannst du einiges wetten", erwiderte er, was sie zum Kichern brachte. Nach wenigen Minuten brach Atimis durch die Oberfläche und stieß mit der Faust das Loch so groß, dass sie bequem hindurchschlüpfen konnten. Rilsa half ihm mit einer Räuberleiter hinaus, anschließend zog er sie an der Hand nach draußen. 

Auch wenn es bereits Abend war und die Sonne nur noch ein kleiner, schmaler Streifen am Horizont war, musste er die Augen zusammenkneifen, so sehr blendete es. Rilsa schien es ähnlich zu gehen, denn sie legte die Hand über die Augen und ließ sich erschöpft ins Gras fallen. 

Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit und als er sich schließlich umsah, erkannte er in wenigen Metern Entfernung den See. 

„Komm, suchen wir die anderen", sagte er und hielt immer wieder Ausschau nach Kosiris und Tessina, die sich jedoch in dem hohen Gras gut tarnen konnten. Rilsa erhob sich, klopfte sich die restliche Erde von den Händen und folgte ihm in Richtung des Seeufers. Atimis erkannte recht schnell den Stein, an dem sie das erste Mal Poseidon getroffen hatten und er beschloss, sich wieder dort niederzulassen. 

„Sie scheinen noch nicht hier zu sein", sagte Rilsa, als sie sich mit dem Rücken an den großen Stein lehnten. Noch einmal sah Atimis sich um, konnte aber weder die Schlangen, noch Poseidon entdecken. 

„Sie werden sicherlich gleich kommen", sagte er und ließ den Blick in die Ferne gleiten. 

„Es ist schön hier", sagte er und erinnerte sich daran, was Rilsa gesagt hatte. 

„Könntest du dir vorstellen, an einem Ort wie diesem zu leben?", fragte er und sofort nickte sie. 

„Ja, es ist wunderschön hier", sagte sie, schloss die Augen und hielt ihr Gesicht den letzten Sonnenstrahlen entgegen. Atimis suchte ihre Hand und verschränkte seine Finger mit ihren und schloss ebenfalls die Augen. Wie schön es doch wäre, könnten sie einfach für immer hier sitzen bleiben und die Sonnenstrahlen genießen. 

„Da sind sie", unterbrach Kosiris tiefe Stimme die Idylle und eilig riss er die Augen wieder auf. Rilsa löste sich von ihm und erhob sich. Auch er stand auf und blickte in das hohe Gras, das schon bald die beiden Schlangen freigab. Er musste lächeln, denn auch wenn sie nur drei Tage weg gewesen waren, freute er sich, sie zu sehen. 

„Ich nehme an, es hat alles nach Plan funktioniert?", erkundigte Kosiris sich, als er vor ihnen zum Stehen kam. 

„Ja, es hat alles genau so geklappt, wie wir es geplant haben. Was habt ihr erreichen können?", fragte Rilsa und sah abwechselnd zwischen Tessina und Kosiris hin und her. 

„Ich habe mit Poseidon gesprochen und er hat mich durch die Wasser-Tunnel zu einem der Meereslebewesen geführt", berichtete er und sofort trat Atimis neugierig näher. 

„Tatsächlich?", fragte er, woraufhin Kosiris nickte. 

„Ja, ich habe mit einem Orca sprechen können. Er nennt sich Ikinngut und er ist sozusagen der Sprecher der Meereslebewesen", fuhr er fort und sah kurz zu Tessina, die sich schüttelte. 

„Er ist einfach atemberaubend. Er ist riesig und wahrlich sinnt er nach Rache", erklärte Kosiris, kam etwas näher an sie heran und senkte die Stimme. 

„Er kann es kaum erwarten, gemeinsam mit seinen Artgenossen die Flutwelle auszulösen. Er sagte, er zählt auch einige Blauwale, die größten Lebewesen dieser Erde zu seinen Freunden", berichtete Kosiris und nun lief auch Atimis ein kalter Schauer über den Rücken. 

„Das klingt, als müssten wir überhaupt keine Tunnel graben, die Flutwelle wird so kraftvoll sein, dass sie alles unter sich begräbt", warf Rilsa ein, doch Kosiris schüttelte den Kopf. 

„Wir sollten kein Risiko eingehen. Ikinngut wirkte unberechenbar, ich bin mir nicht sicher, ob wir seinem Wort trauen können. Aber mit Sicherheit wird eine Welle verursacht werden, die durch unsere Tunnel das Land unterspült", widersprach er und Atimis musste ihm recht geben. Sie konnten es sich nicht leisten, ein Risiko einzugehen. Ihr Plan musste funktionieren, sie hatten nur diesen einen Versuch, wenn sie die Regierung überrumpeln wollten. 

„Gut. Haben die anderen Meereslebewesen bereits mit den Tunneln angefangen?", fragte Rilsa weiter und sofort nickte Kosiris. 

„Aber ja. Vor allem die kleineren Delfine sind sehr fleißig und alle sind fest entschlossen, uns zu helfen. Es scheint, als hätten wir viele Verbündete im Meer", sagte er, was Atimis aufatmen ließ. 

Es fühlte sich gut an zu wissen, dass sie keine Einzelkämpfer mehr waren, sondern Lebewesen hinter ihnen standen, mit denen die Hohen Menschen sicherlich nicht rechneten. 

Plötzlich hörte Atimis ein Wasserplätschern und erschrocken wandte er sich um. Poseidon streckte den Kopf aus dem Wasser, auf seinem Gesicht lag ein äußerst zufriedenes Grinsen. 

„Poseidon", rief Kosiris aus und schlängelte auf ihn zu. 

„Mein Freund", begrüßte Poseidon ihn und warf anschließend einen Blick zu den anderen. 

„Wie meine Freunde die Delfine mit mitteilten, habt ihr bereits ein großes Tunnelnetz angelegt", sagte er und nun trat Atimis neben Kosiris. 

„Ja, wir haben damit begonnen. Aber wir wollen noch weitermachen", bestätigte er, was Poseidon nicken ließ. 

„Wunderbar. Das ist wirklich gut", sagte er und wirkte auf einmal ganz nervös. 

„Wie lange werdet ihr brauchen, um euer Tunnelnetzwerk fertig zu stellen?", fragte er und fragend sah Atimis zu Rilsa. Sie legte einen Finger ans Kinn, als würde sie nachdenken. 

„Vermutlich noch einmal drei Tage. Dann sollten wir das komplette Gebiet der Hohen Menschen untertunnelt haben", sagte sie und auf einmal spürte Atimis ein aufgeregtes Kribbeln in sich aufsteigen. 

Drei Tage war nicht wirklich lang und dennoch kam es ihm noch unendlich weit weg vor, bis die Meereslebewesen tatsächlich die Flutwelle auslösten. 

„Gut. Dann nichts wie an die Arbeit. Mein Vorschlag wäre, dass wir uns noch einmal in drei Tagen treffen und besprechen, ob alles geklappt hat. Ich werde anschließend zum Meer schwimmen und Ikinngut treffen. In der Zeit solltet ihr euch in Sicherheit bringen und all eure Freunde", sagte Poseidon und er sah, wir Kosiris nickte. 

„So machen wir es. Passt auf euch auf", erwiderte Kosiris, dann verschwand Poseidon genau so schnell, wie er aufgetaucht war. Kosiris wandte sich wieder ihnen zu und sah sie alle der Reihe nach an. 

„Rilsa und Atimis, würdet ihr weiter die Grabungsmaschine bedienen?", fragte er und wartete ab, bis sie beide nickten. Ein Lächeln zuckte über Atimis Lippen, denn auch wenn er kein Freund der erdrückenden Dunkelheit war, freute er sich auf die Zweisamkeit mit Rilsa. 

„Tessina, du und ich könnten in der Zwischenzeit die Niederen Menschen und die Tiere warnen. Wir sollten in die Slums gehen", sagte er und sofort nickte Tessina, die bisher ungewöhnlich still geblieben war. 

Atimis sah, dass Rilsa ihren Blick suchte und als hätte Tessina nur darauf gewartet, schlängelte sie sich über ihr Bein hinauf bis zu ihren Schultern. 

„Kommt mir ja heil aus der Erde wieder", sagte sie leise, doch auch Atimis konnte es hören. Rilsa lachte. 

„Keine Sorge. Und ihr solltet euch besser nicht von Elstern schnappen lassen", gab sie zurück und nun legte sich ein Grinsen auf Tessinas Lippen. 

„Niemals", erwiderte sie, glitt wieder von ihren Schultern hinunter und gesellte sich zu Kosiris. 

„Poseidon hat recht. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich habe in der Nähe einen Apfelbaum gesehen, dort könnt ihr euch mit Proviant versorgen", sagte er und deutete mit dem Kopf hinter sich. 

„In Ordnung. Also in drei Tagen sehen wir uns wieder hier", schloss Atimis und Kosiris nickte wieder. 

„Ja, wir sehen uns in drei Tagen. Wir sollten los. Seid wachsam", sagte er noch, dann wandte er sich ab und verschwand mit Tessina im Schlepptau. 

Atimis sah ihnen nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren und richtete den Blick anschließend zu Rilsa. Sie zitterte, lächelte aber. 

„Nun, in drei Tagen geht es also los", sagte sie und wirkte auf einmal vollkommen aufgekratzt. 

„Ja, in drei Tagen. Es wird alles gut gehen, da bin ich mir sicher", sagte er, griff nach ihrer Hand und drückte sie, in der Hoffnung, sie ein wenig zu beruhigen. 

„Hoffen wir es. Aber nun gibt es auch kein Zurück mehr", sagte sie und zog ihn in die Richtung des Apfelbaums. 

„Na komm, holen wir uns etwas zu essen und machen uns dann wieder an die Arbeit", sagte sie und lief eilig durch das hohe Gras. 

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