Kapitel 6 - Atimis
„Du siehst nachdenklich aus", bemerkte Laskina und riss Atimis so aus seiner Erinnerung an die Begegnung mit der Schlange. Er saß auf dem Boden vor dem Kamin und starrte ins tanzende Feuer, während Laskina ihre frisch gewaschenen Kleider zusammenlegte. Er wandte den Kopf zu ihr herum und betrachtete sie eine Weile. Unweigerlich musste er an die Einschätzung der Schlange denken, dass sie seine Schwachstelle sein sollte. Laskina lachte verunsichert auf, legte die Kleidung beiseite und ließ sich neben ihm auf dem Boden nieder. Ihre Hand wanderte zu seiner und drückte sie.
„Ist etwas passiert?", fragte sie einfühlsam und als er den Kopf zu ihr herumdrehte, sah er ihre leuchtend blauen Augen. Diese Augen, die sie als geborenen Hohen Menschen auszeichneten. Seine hingegen waren blass und wässrig, beinahe trüb. Eilig legte er den Arm um sie und zog sie an sich.
„Nein, es... es war nur ein anstrengender Tag", sagte er wie von allein, als wollte ein kleiner, unterbewusster Teil von ihm nicht, dass er mit ihr über die Begegnung mit der Schlange sprach. Laskina musterte ihn einen Moment lang eindringlich, als würde sie ahnen, dass er nicht die Wahrheit sprach.
„Es ist schon spät, wir sollten ins Bett gehen", sagte er schließlich, machte sich von ihr los und erhob sich. Sofort spürte er die Kälte auf seiner Haut, als sich ihre Hand von seiner löste. Er straffte die Schultern, verdrängte die abwegigen Gedanken an eine Rebellion und ging die wenigen Schritte zum Bett.
Er machte sich daran, die Kleider ordentlich zusammenzulegen, so wie Laskina es eben noch getan hatte. Langsam kam sie zu ihm, legte ihm eine Hand auf die Schulter und schob ihn bestimmt beiseite.
„Ich mache das schon", sagte sie und legte die Kleider in die Truhe neben dem Bett. Atimis beobachtete sie, bis sie schließlich wieder zu ihm kam und die Arme um ihn schlang. Ihre Nähe fühlte sich gut an und war in dieser Welt eine der wenigen Dinge, die ihm Freude bereiteten. Langsam führte er sie zum Bett, drückte sie auf die weiche Matratze, die er eigenhändig mit mühsam gesammelter Wolle zusammengenäht hatte und breitete die Decke über ihr aus.
„Sicherlich hattest auch du einen anstrengenden Tag", sagte er, doch Laskina zuckte die Schultern.
„Nein, es... es war ganz gut. Ich war heute bei einem anderen Hohen als sonst. Er war neu und hat mich ausgewählt", berichtete sie, was ihn verwirrt die Stirn runzeln ließ. Sicherlich war es nicht unüblich, dass man auf dem Arbeiterinnenstrich von unterschiedlichen Hohen Menschen eingesammelt wurde, um für sie zu arbeiten, aber eigentlich wurde man häufig von dem gleichen abgeholt. Genau so wie Atimis, der schon seit einigen Jahren von Feridis angeheuert wurde. Er legte sich neben Laskina ins Bett und musterte sie aufmerksam.
„Er war der Erste, der heute Morgen kam und er hat auf mich gezeigt und gefragt, ob ich gärtnern kann. Als ich bejahte, hat er mich angewiesen, in seine Kutsche zu steigen", fuhr sie fort. Atimis entfuhr ein überraschtes Keuchen.
„Eine Kutsche?", hakte er nach, denn offensichtlich hatte sie für einen sehr reichen Hohen Menschen gearbeitet, wenn er sogar eine Kutsche besaß. Die meisten kamen zu Fuß zum Arbeiterstrich oder höchstens mit einem Pedalwagen, so wie Feridis.
„Ja, er kam mit einer Kutsche, die von zwei Pferden gezogen wurde. Weißt du, zunächst hatte ich Angst, aber als ich erst einmal drin saß, war es recht angenehm. Er saß mir gegenüber und wir haben noch zwei weitere Arbeiterinnen eingesammelt, die mit uns gefahren sind", berichtete sie weiter. Atimis wurde jedoch das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte.
„Er hat nur Mädchen angeheuert? Für Gartenarbeit?", fragte er, denn auch wenn er wusste, dass Laskina hart anpacken konnte, war das unüblich. Für die schweren Arbeiten bevorzugten Hohe Menschen Jungen oder junge Männer, die mehr Kraft besaßen. Laskina zuckte die Schultern.
„Ja, so war es. Auf jeden Fall sind wir zu ihm nach Hause gefahren. Du glaubst nicht, was er für ein riesiges Haus hatte", schwärmte sie und komischerweise hatte Atimis das Gefühl, dass sie schon den ganzen Abend davon hatte erzählen wollen. Der freudige Schimmer in ihren Augen ließ ihn lächeln und aufmunternd nickte er ihr zu, damit sie weiter sprach.
„Ich habe es nur von außen gesehen, aber es war riesig! So groß wie zwanzig Hütten und erst der Garten! Er war wunderschön, es gab Gewächshäuser mit allerlei Blumen und Gemüse, das hättest du sehen müssen", erzählte sie. Atimis konnte es sich bildlich vorstellen, auch wenn er ein solches Anwesen wie sie es beschrieb noch nie in echt gesehen hatte. Komischerweise machte ihn das wütend, denn diese offensichtliche Kluft zwischen dem Reichtum dieses Hohen Menschen und der absichtlichen Armut hier bei ihnen war einfach nur ungerecht.
„Und was musstest du arbeiten?", fragte Atimis weiter, was sie aus ihren Gedanken an das prachtvolle Anwesen zu reißen schien.
„Ich habe Unkraut gejätet und Blumen geschnitten und zu Sträußen zusammengebunden", antwortete sie und lächelte.
„Und die Bezahlung?", fragte er, denn das war der wichtige Punkt. Laskina schob ihre Hand unter die Decke und kramte aus ihrer Hosentasche ein paar Münzen hervor. Sie zeigte sie ihm und strahlte.
„Allein für heute habe ich drei Goldmünzen bekommen", verkündete sie und reichte sie ihm. Atimis jedoch schloss ihre Finger wieder darum.
„Behalte sie. Du hast sie dir verdient", sagte er, woraufhin sie den Kopf schief legte und ihn beinahe genervt ansah.
„Es sind unsere Münzen. Wir sind verbunden, das heißt, wir teilen alles", sagte sie und auch wenn das eine der Regeln für Verbundgemeinschaften war, wusste er, dass sich nicht alle daran hielten.
„Du hast Karotten besorgt, also nimm schon", forderte sie, legte ihm zwei der drei Münzen auf die Brust und schob die letzte zurück in ihre Hosentasche. Atimis nahm zögernd die schweren Münzen und wog sie kurz in der Hand.
„Meinst du, er kommt dich morgen wieder abholen?", fragte er, doch Laskina zuckte die Schultern.
„Ich weiß es nicht. Er hat nicht wirklich viel mit mir gesprochen. Dafür habe ich mit seinem Gorilla-Jungen geredet", sagte sie und wieder legte sich ein ungewohntes Strahlen auf ihr Gesicht. Atimis riss die Augen auf und starrte sie an.
„Er hatte einen Gorilla adoptiert?", fragte er, denn auch wenn er wusste, dass dies durchaus vorkam, war es doch nicht die Regel.
„Ja, ich konnte es auch erst nicht glauben. Ich dachte, das wird immer nur erzählt, damit die Hohen Menschen ein besseres Ansehen haben. Aber ich habe ihn getroffen, als er im Garten gespielt hat. Ich habe ihm etwas zu Essen in einem Korb gegeben", berichtete sie.
„War er menschenähnlich?", fragte Atimis, denn auch wenn viele der lebenden Affen menschenähnlich waren, gab es auch animalische.
„Aber ja. Allerdings glaube ich, dass er eigentlich nicht mit den Arbeitern sprechen darf", fuhr sie fort, was Atimis verwirrt die Stirn runzeln ließ.
„Warum nicht?", wollte er wissen, doch Laskina zuckte nur die Schultern.
„Ich weiß es nicht genau. Vielleicht sehe ich ihn noch einmal, wenn ich morgen wieder dort arbeiten kann. Dann frage ich ihn", sagte sie, doch auf einmal schüttelte sie sich.
„Ich habe zuvor noch nie einen Gorilla aus der Nähe gesehen", sagte sie leise, drehte sich auf die Seite und schmiegte sich an ihn. Ihre Hand lag auf seiner Brust, genau auf seinem Herzen.
„Ich auch nicht, zumindest nicht aus der Nähe", erwiderte er und dachte an das benachbarte Slum, in welchem einige menschenähnliche Tiere, auch Gorillas, lebten.
„Er wirkte noch nicht ausgewachsen, aber er war riesig", sagte sie und klammerte sich fester an ihn.
„Hattest du Angst?", fragte er, doch sie schüttelte den Kopf.
„Nein, ich wusste, dass er einer von uns ist", sagte sie und seufzte. Einer von uns. Das bedeutete eines von den Lebewesen, die von den Hohen Menschen unterdrückt wurden.
„Dennoch unterscheidet sich sein Leben sicherlich sehr von unserem", bemerkte Atimis, denn allein die Tatsache, dass er nicht in einer zugigen, kleinen Hütte lebte, sondern einem riesigen Anwesen, ließ ihn schwermütig werden. Ja, es war ungerecht, aber so war die Welt nun einmal.
„Ja, vermutlich", seufzte sie und er wusste, dass sie den selben Gedanken hatte wie er selbst.
„Uns geht es doch gut, oder?", hörte er sie fragen, aber es klang eher resigniert. Atimis nickte.
„Aber ja, du hast heute drei Goldmünzen verdient, damit kann ich morgen auf dem Markt sicherlich etwas Leckeres kaufen", sagte er und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Laskina versteifte sich.
„Du musst auf dich aufpassen. Lass dich bloß nicht erwischen", mahnte sie ihn, doch Atimis lachte nur leise.
„Es ist dein verdientes Geld, sie können mir nichts tun", sagte er, allerdings nur, um sie zu beschwichtigen. Laskina wusste nicht, wie es auf dem Markt zuging, auf dem er arbeitete. Denn eigentlich war es Niederen Menschen nicht gestattet, die dort angebotenen Lebensmittel zu kaufen, selbst wenn es von ihrem verdienten Geld war. Die Hohen Menschen wollten nicht, dass sie mehr Essen als unbedingt nötig bekamen, damit mehr für die selbst übrig blieb.
„Sei trotzdem vorsichtig", bat sie, woraufhin er nickte. Ihm war klar, dass sie allein nicht zurecht kommen würde. Nicht, dass sie schwach war, aber Frauen verdienten meist nicht gut und sie würde kaum die Abgaben für diese Hütte bezahlen können.
„Wir sollten schlafen", hörte er Laskina neben sich sagen, doch anstatt sich bequemer hinzulegen beugte sie sich über ihn und küsste ihn. Ein wenig überrascht erwiderte er den Kuss und zog sie eng an sich.
„Ich liebe dich", sagte sie und sofort fing sein Herz an zu klopfen.
„Ich liebe dich auch", hauchte er und suchte für einen Moment ihren Blick. Wieder einmal wurde ihm bewusst, wie großes Glück er doch mit ihr hatte. Nicht nur, dass sie als Verbundene ein gutes Team waren, sie war auch noch seine große Liebe.
Laskina seufzte zufrieden, legte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Atimis betrachtete sie unverhohlen und er bemerkte den Schimmer des Feuers im Kamin in ihren Augen glitzern.
„Stell dir nur mal vor, wie es wäre, wenn wir in einem so großen Haus leben würden. Wir hätten immer genug zu essen, immer genug Kohlen und wir hätten Leute, die für uns arbeiten", schwärmte sie, doch Atimis schnaubte. Er wusste, dass Laskina oft darüber nachdachte, doch selbst wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, einer von ihnen zu sein, würde er es nicht wollen.
„Laskina, das wird aber nicht passieren. Und du vergisst mal wieder, dass die Hohen Menschen anders sind als wir. Sie sind nicht freundlich und gutmütig, so wie du und ich. Sie nutzen Lebewesen aus und unterdrücken sie", erinnerte er sie verbittert, doch Laskina machte ein grimmiges Gesicht.
„Lass mich doch träumen", beschwerte sie sich, drehte sich auf die Seite und wandte ihm den Rücken zu. Atimis schluckte schwer, denn auch wenn er Laskinas Sehnsüchte bis zu einem gewissen Grad teilte, wusste er, dass die Hohen Menschen schlecht waren.
Er legte sich etwas gemütlicher hin, zog die Decke bis zum Kinn und schloss die Augen. Morgen lag wieder einmal ein harter Tag vor ihm, denn Feridis Kohl war erntereif. Er spürte, wie schon jetzt seine Arme schmerzten, doch er hatte keine Wahl, als wie jeden Tag auf das Feld zu fahren, Kohlköpfe einzusammeln und schließlich den vollgeladenen Karren den unebenen, holprigen Weg bis zum Markt zu ziehen. Das war sein Leben und er wusste, dass sich von allein auch nichts daran ändern würde.
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