Kapitel 56 - Rilsa

„Zeig mir die Wunde", forderte Atimis, kaum dass sie im geschützten Unterholz angelangt waren. Erschöpft und ein wenig außer Atem ließ Rilsa sich auf den weichen Waldboden fallen. 

Ihre Finger wanderten zu dem verkohlten Fleck auf ihrem Hemd, der zum Glück nicht größer geworden war. Atimis kniete sich vor sie und starrte sie an. 

„Rilsa, die Wunde muss versorgt werden", sagte er, streckte die Hand aus und fing an, ihr das Hemd aufzuknöpfen. Rilsa spürte, wie ihr heiß wurde, denn diese Berührung kam ihr seltsam intim vor. Sie ließ Atimis ihr das Hemd ein Stück herunterschieben, bis er die Wunde am Ansatz ihrer Brust sehen konnte. 

Es war ein Schnitt in ihrer Haut, aus dem jedoch kein Blut sickerte, so wie es bei Atimis der Fall gewesen wäre. Atimis sah sich suchend um, griff schließlich nach einem Stück Moos, das auf einem Baumstumpf neben ihnen wuchs und drückte es sanft auf die verletzte Stelle. Einige Sekunden lang presste er die Hand darauf, wie um eine Blutung zu stillen und kam ihr dabei unerwartet nah. 

Rilsa wandte den Blick ab, dennoch spürte sie, dass er sie unverwandt ansah. 

„Wir sollten es noch einmal versuchen", sagte er, was sie erschrocken den Blick herumreißen ließ. Sofort fing er ihren Blick ein und hielt ihn fest. Seine Hand ruhte noch immer auf ihrem Brustkorb und sicherlich spürte er ihr Herz gegen seine Hand hämmern. 

„Nein, wir sollten uns nicht unnötig in Gefahr begeben", erwiderte sie und meinte es durchaus ernst. Womöglich würden die Wachen kein zweites Mal zögern und ihnen die Schwerter direkt in die Brust rammen. 

Atimis schwieg und schien auf einmal nachdenklich zu sein. Langsam löste er seine Hand von ihr und rückte ein Stück von ihr weg, bis er sich neben sie setzte. Er hatte die Beine aufgestellt und umklammerte sie mit den Armen. 

„Wir müssen es noch einmal versuchen", beharrte er, doch Rilsa schüttelte entschieden den Kopf. 

„Atimis, nein. Ich werde nicht zulassen, dass einem von uns etwas geschieht. Das ist es nicht wert", sagte sie, was Atimis unerwartet verächtlich schnauben ließ. Rilsa zuckte zusammen und sah ihn fragend an. Er war eindeutig angespannt und bohrte seine Fußspitze in den weichen Waldboden. 

„Was macht es denn schon, wenn ich sterbe? Dann war es wenigstens für eine gute Sache. Wenn mich die Elstern finden, werden sie mich ohnehin umbringen", sagte er leise und eindeutig missmutig, so als würde er alle Hoffnung verloren haben. Rilsa rutschte näher an ihn heran und sah ihn eindringlich an. 

„Sag so etwas nicht. Wir werden nicht sterben. Unser Plan wird funktionieren und wir werden ein freies, glückliches Leben führen", sagte sie, auch wenn sie selbst davon noch nicht so ganz überzeugt war. Aber diese Hoffnung war das einzige, das sie im Moment noch hatten. 

Atimis seufzte, bevor er ihren Blick erwiderte. In seinen blassen Augen lag so viel Schmerz, dass sie das drängende Bedürfnis verspürte, ihn in den Arm zu nehmen. Ihre Hand wanderte zu seiner Schulter und drückte sie sanft. 

„Atimis, bitte. Verliere nicht den Mut, nicht nach all dem, was wir bereits erreicht haben", sagte sie und verstärkte ihren Griff auf seiner Schulter. Er seufzte, straffte dann aber die Schultern und erwiderte ihren Blick. 

„Du hast recht. Wir schaffen es auch ohne die Androiden", sagte er fest entschlossen, schüttelte ihre Hand ab und erhob sich. Anschließend hielt er ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Ohne zu zögern nahm sie sie und ließ sich von ihm aufhelfen. Unerwartet schwungvoll zog er an ihrem Arm, sodass sie beinahe gegen ihn gestoßen wäre. Sie kicherte verlegen, denn auch wenn Atimis einige Jahre jünger war als er, übte er eine merkwürdige Anziehungskraft auf sie aus. Eilig machte sie sich von ihm los, denn für Gefühlsduselei war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt. 

„Vielleicht schafft ihr es ohne uns, aber mit uns wäre es doch eindeutig leichter", ertönte eine gedämpfte, weibliche Stimme wie aus dem Nichts und erschrocken zuckte Rilsa zusammen und sah sich panisch um. 

Unwillkürlich ging sie in eine Verteidigungshaltung und bemerkte, dass Atimis es ihr gleichtat. Die Stimme lachte und auf einmal bewegte sich neben dem Baumstumpf, von dem Atimis das Moos gepflückt hatte, der weiche Erdboden. 

Rilsa wich einen Schritt zurück und starrte auf die Erde, die sich nach und nach auftat, so als würde jemand aus einem unterirdischen Tunnel hervorkommen. 

„Wer bist du?", fragte Atimis, griff nach Rilsas Arm und schob sie hinter sich. Er war wirklich ein Held, wie er im Buche stand. 

„Erkennst du mich nicht, Rilsa?", fragte die Stimme, kurz bevor im Erdboden und Loch erschien, aus dem eine Androidin den Kopf streckte. 

Rilsa zuckte zusammen, denn dieses Gesicht kannte sie. Nicht nur von früher, sondern auch von Fotos. Es war die Verbundene von Loris, die sie schon als junge Androidin gekannt hatte und von der Loris immer geschwärmt hatte. 

Noch immer war ihr Haar braun, ebenso wie ihre Augen, was eindeutig ungewöhnlich war. Deswegen erinnerte Rilsa sich so gut an sie, da sie dunkle Augen hatte. 

„Kelsa?", fragte sie dennoch, um sicher zugehen. Kelsa nickte, stemmte die Hände in den weichen Boden und drückte sich aus dem Loch heraus, bis sie in voller Größe vor ihnen stand. 

„Ihr kennt euch?", fragte Atimis verwirrt und sah zwischen ihr und Kelsa hin und her. Langsam nickte Rilsa, trat an Atimis vorbei und betrachtete die Androidin. Sie war eindeutig weniger menschlich, als sie selbst oder Loris es gewesen waren, vermutlich weil sie nicht in der Nähe von Menschen gelebt hatte. 

„Was suchst du hier? Und wer ist dein Begleiter?", fragte Kelsa mit monotoner Stimme, sodass es Rilsa unmöglich war, eine Gefühlsregung daraus zu erkennen. Sie sah zu Atimis, der noch immer wachsam wirkte. 

„Das ist Atimis. Wir... versuchen, Verbündete für unseren Plan zu finden", sagte sie, denn es war eindeutig, dass Kelsa mehr wusste als andere Androiden, immerhin war sie trotz Loris Verbannung aus der Gesellschaft der Androiden mit ihm im Geiste verbunden geblieben. 

Bevor sie es verhindern konnte, wanderte ihr Blick zu ihrem Armring. Er war weiß, also hatte sie nach Loris Tod keinen neuen Verbundenen bekommen. 

Einen Moment lang schwieg Kelsa, als würde sie nachdenken, doch dann nickte sie. 

„Es werden in der Siedlung nicht viele sein, die euch unterstützen, aber... einige meiner Freunde, die wie ich im Labor arbeiten, werden euch helfen. Solange wir im Verborgenen bleiben, wir werden nicht kämpfen", sagte Kelsa und auch wenn Rilsa noch nichts von ihrem Plan erzählt hatte, schien Kelsa irgendetwas zu ahnen. 

„Wir sind für jede Unterstützung dankbar, die wir bekommen können", sagte Rilsa und sah zu Atimis. Er schien noch immer skeptisch zu sein. 

„Kommt mit, hier draußen ist es zu gefährlich", sagte Kelsa und glitt mit einer schnellen Bewegung zurück in das Erdloch, bis nur noch ihr Kopf zu sehen war. 

„Kommt", forderte sie und verschwand. Rilsa trat einen Schritt vor, um ihr zu folgen, als Atimis sie am Arm zurückhielt. 

„Warte. Du vertraust ihr?", fragte er und ohne zu zögern nickte sie. 

„Aber ja. Sie ist die Verbundene meines gefallenen Verbündeten Loris. Sie ist auf unserer Seite", sagte sie und auch wenn Atimis nickte, schien er misstrauisch zu sein. 

„Es ist eine Chance, vielleicht kann sie uns helfen", versuchte sie, ihn zu überzeugen, machte sich von ihm los und ließ sich auf dem Boden nieder. Atimis stieß einen missmutigen Laut aus, doch dann trat auch er näher an das Loch im Boden. 

„Also gut, versuchen wir es", stimmte er schließlich zu, was Rilsa lächeln ließ. Sie schob die Beine in die kleine Öffnung und ließ sich vorsichtig hineingleiten, bis sie festen Boden unter den Füßen spürte. Der Schacht war nicht tief, sodass sie gerade so unter dem Loch stehen konnte. 

Sofort umgab sie das gewohnte Gefühl der Enge, das sie immer unter der Erde bekam und suchend sah sie sich nach Kelsa um. Sie stand nur wenige Schritte von ihr entfernt. 

„Komm ein Stück hier herüber, damit auch er herunterkommen kommen kann", forderte sie und eilig gehorchte Rilsa. 

„Atimis, du kannst herunter kommen, es ist nicht tief", rief sie Atimis zu und keine zehn Sekunden später rutschte auch er durch das Loch und kam neben ihm zum Stehen. 

Erst da flammte auf einmal ein Licht neben ihnen auf und als Rilsa sich umsah, erkannte sie einen elektrischen Leuchter, der an der Wand befestigt war. Sie befanden sich in einem kleinen Raum, der aus der Erde ausgehoben worden war. Er maß vielleicht zwei mal zwei Meter, sodass Atimis unweigerlich ziemlich nah an ihr stand. Sie spürte seine Wärme und hörte seinen aufgeregten Atem. 

Kelsa neben ihr schob die Hand über die Wand aus Erde, bis auf einmal mit einem Klicken aus der Decke eine Art Scheibe fuhr, die sich über das Loch schob, durch das sie hineingekommen waren. 

Rilsa zuckte zusammen, betrachtete den Mechanismus anschließend genauer. Es schien eine Platte aus Metall zu sein, die in die Decke eingebaut war. Fassungslos sah sie zu Kelsa, denn auch wenn sie wusste, dass die Androiden durchaus technikaffin waren, konnte sie sich nicht daran erinnern, dass es solche Dinge schon gegeben hatte, als sie die Androiden verlassen hatte. 

„Ich verlange nur eine Gegenleistung", sagte Kelsa und verschränkte die Arme vor der Brust. Rilsa wurde nervös, denn ihr wurde bewusst, dass sie hier gefangen war. Es gab keinen Fluchtweg. 

„Ich will wissen, was genau mit Loris geschehen ist. Ich weiß nur, dass er tot ist, mehr nicht. Ich will wissen, wie er gestorben ist", sagte sie, was Rilsas Herz schwer werden ließ. Für einen Moment schloss sie die Augen, dann nickte sie. 

„In Ordnung. Ich werde es dir erzählen", erwiderte sie, was Kelsas Mundwinkel zucken ließ. 

„Haltet euch fest", sagte sie dann und legte ihre Hand wieder auf eine Stelle an der Wand. Panisch sah Rilsa sich um, doch es gab hier nichts, an dem sie sich festhalten könnte. Genau in diesem Moment legte Atimis ihr den Arm um die Schultern. 

„Ich halte dich, keine Angst. Was auch immer geschehen mag", flüsterte er leise, dann ging auf einmal ein Ruck durch sie. Beinahe wäre sie gefallen, doch Atimis hielt sie fest. 

Kelsa schien das alles nichts auszumachen, sie schien sich sogar über ihre Unsicherheit zu amüsieren. Noch einmal ruckte es, dann setzte sich plötzlich der Boden unter ihren Füßen in Bewegung. Sie fuhren nach unten, die Decke und der lichtspendende Leuchter entfernten sich immer weiter, bis sie von einer allumfassenden Schwärze umgeben waren. 

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