Kapitel 52 - Atimis
Atimis wachte von einem quietschenden Geräusch auf. Panisch riss er die Augen auf und sprang auf. Sofort war er in Alarmbereitschaft, immerhin versteckten sie sich vor der Regierung und ihm war nur allzu bewusst, dass Laskina oder Generis sie jederzeit ausliefern konnten.
Sein Blick wanderte durch den kleinen Raum und er bemerkte, dass die Tür ein kleines Stück offenstand. Hindurch drang Tageslicht, was ihn verwirrt blinzeln ließ. Hatte er wirklich so lange geschlafen, dass es bereits hell war? Suchend sah er sich um und entdeckte zunächst Kosiris, dann Tessina, die eng aneinander geschmiegt auf dem staubigen Boden lagen und schliefen.
Doch Rilsa fehlte. Eilig und möglichst leise ging er die wenigen Schritte bis zu der offenstehenden Tür und schlüpfte hindurch ins Freie. Augenblicklich blendete ihn das helle Sonnenlicht und er blinzelte ein paar Mal, bis er sich daran gewöhnt hatte.
Schließlich erkannte er Rilsa, die nur ein kleines Stück von ihm entfernt im Gras saß. Sie hatte die Beine angezogen und mit den Armen umschlungen und den Kopf darauf abgelegt. Atimis schluckte und sah sich suchend um, denn es war alles andere als ungefährlich, hier zu sitzen.
„Rilsa", sagte er leise, was sie zusammenzucken ließ. Erschrocken wandte sie den Kopf herum und sah ihn mit großen Augen an, als hatte sie befürchtet, er sei eine Elster.
„Wir sollten wieder in den Schuppen gehen, hier ist es nicht sicher", sagte er, doch anstatt sich zu erheben und wieder in Richtung des Schuppens zu gehen, seufzte sie und legte den Kopf wieder auf ihre Knie.
Langsam ging Atimis näher an sie heran und setzte sich neben sie ins Gras. Auch wenn ihr Blick ihm zugewandt war, schien sie durch ihn hindurchzusehen und ihre Augen wirkten glasig.
„Ist etwas geschehen?", fragte er, allerdings bekam er wieder nur ein Seufzen. Noch einmal sah er sich um, konnte aber niemanden entdecken. Anscheinend verirrte sich selten jemand in diesen Teil des Gartens.
Atimis rutschte ein wenig näher an Rilsa heran, bis sich ihre Schultern berührten. Sanft stupste er sie an.
„He, rede mit mir. Wir müssen in diesen Zeiten zusammenhalten", sagte er und endlich klärte sich ihr Blick und sie blinzelte ein paar Mal, als sei sie aus einer Trance aufgewacht.
„Ach", seufzte sie nur, zog die Beine noch enger an ihren Körper und wippte ein wenig vor und zurück. Atimis wusste nicht so recht, was in ihr vorging, denn schon seit einigen Tagen schien sie nachdenklicher zu sein als sonst.
„Bitte, sprich mit mir", versuchte er ein weiteres Mal, sie zum Reden zu bewegen und tatsächlich hob sie den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. In diesem Moment wirkte sie so menschlich, dass er beinahe hätte vergessen können, dass sie eine Androidin war.
„Weißt du, mir ist da eine Idee gekommen", setzte sie an, unterbrach sich aber und schüttelte den Kopf. Sofort war Atimis neugierig, denn er wusste, dass Rilsas Ideen meist gut waren und sie in ihrem Plan weiterbrachten.
„Was für eine Idee?", hakte er nach und stieß sie noch einmal an der Schulter an. Sie holte tief Luft und straffte die Schultern, bevor sie erneut ansetzte.
„Wir haben schon Verbündete aus allen Niederen Kategorien, außer den Androiden, meinesgleichen. Ich dachte, es wäre einen Versuch wert, sie in unser Vorhaben einzuweihen. Vielleicht finden wir Unterstützer", sagte sie, doch Atimis spürte, dass sie selbst nicht wirklich überzeugt von dieser Idee war.
Er wusste nicht viel über die Androiden, aber sie lebten abgeschottet von den anderen Lebewesen und blieben unter sich. Sie mischten sich weder in die Belange der Hohen noch der Niederen Menschen und Tiere ein.
„Glaubst du, sie würden dich anhören?", fragte er, denn Rilsa selbst war von ihrer eigenen Kategorie verstoßen worden. Wie wahrscheinlich war es dann, dass sie ihr zuhörten? Rilsa zog die Stirn zweifelnd in Falten und zuckte die Schultern.
„Ich weiß es nicht. Sie haben mich wohl nicht ohne Grund ausgestoßen, aber einen Versuch wäre es wert. Meinst du nicht?", erwiderte sie und sah Atimis fragend an. Einen Moment lang überlegte er, aber er kannte außer Rilsa keine Androiden und er wusste weder, wie sie sich verhielten noch auf wessen Seite sie standen, wenn sie denn auf einer Seite standen.
„Weißt du, wo sie sich aufhalten?", wollte er wissen, denn wenn sie sie zunächst suchen mussten, wäre es sicherlich keine gute Idee. Immerhin wurde jede helfende Hand beim Graben der Tunnel benötigt, damit ihr Plan funktionierte.
„Ja, ich weiß, wo sie sind. Wenn meine Orientierung mich nicht trügt müssten wir nur einen halben Tagesmarsch von ihnen entfernt sein", sagte sie, was Atimis überrascht die Augenbrauen hochziehen ließ.
„Ach, tatsächlich? Ich dachte, sie würden sich weit abseits der anderen Lebewesen aufhalten", bemerkte er, doch Rilsa schüttelte den Kopf.
„Nein, nicht durchgehend. Sie wandern, damit sie den Kontakt anderen Kategorien vermeiden können. Nur weiß ich als eine von ihnen, wo sie sind. Ich kann es spüren", sagte sie, was Atimis einen überraschten Laut entlockte.
„Tatsächlich? Wie fühlt es sich an?", wollte er wissen, denn er konnte sich dieses Gefühl nicht wirklich vorstellen. Rilsa überlegte.
„Es ist einfach ein Gefühl in mir drin. Ein Instinkt. Es ist schwer zu beschrieben, aber es ist, als würde mein tiefstes Innerstes zu ihnen gerufen werden", erklärte sie, aber noch immer konnte Atimis sich dieses Gefühl nicht vorstellen. Vielleicht war es wie bei Laskina und ihm, wenn sie durch den Armring miteinander kommuniziert hatten.
„Würdest du mich begleiten? Kosiris wird weiter mit Poseidon in Kontakt bleiben wollen und ich bin mir sicher, dass Tessina ihm nicht von der Seite weicht", schlug sie auf einmal vor, wobei ihre Stimme aufgeregt und nervös klang. Atimis suchte ihren Blick und bemerkte ein leichtes Zucken ihrer Mundwinkel.
„Aber ja. Wenn es nur einen halben Tagesmarsch entfernt ist, werden wir nicht viel Zeit verlieren. Ohnehin warten wir im Moment auf Generis, bis er uns Waffen und Werkzeuge besorgt. Wann möchtest du aufbrechen?", fragte er und sah, wie Rilsas Mund sich ungläubig öffnete, dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
„Du... du würdest mitkommen?", fragte sie nach, als würde sie ihm nicht glauben. Atimis lachte leise.
„Warum zweifelst du? Deine Idee ist einen Versuch wert und da wir aktuell nicht viel anderes tun können als zu warten, können wir die Zeit auch sinnvoll nutzen", gab er zurück.
„Gut, dann... sollten wir keine Zeit verlieren. Ich wecke die beiden anderen und anschließend sollten wir aufbrechen", sagte sie, erhob sich unerwartet schnell und eilte zurück zu dem kleinen Schuppen.
Atimis sah ihr nach und hörte nur wenige Augenblicke später das schläfrige Zischen von Tessina. Langsam ging er näher, blieb aber im Türrahmen stehen und blickte zu den beiden Schlangen, die sich inzwischen aus ihrer verschlungenen Position gelöst hatten.
Kosiris wirkte wie üblich hellwach, auch wenn er bis vor wenigen Moment noch geschlafen hatte. In kurzen Sätzen berichtete Rilsa von ihrer Idee und als sie geendet hatte, sah Kosiris abwechselnd von ihr zu Atimis. Er schien nachzudenken, doch schließlich nickte er.
„Ihr habt recht, es ist einen Versuch wert. Ich werde mit Poseidon sprechen, ob er bereits die Meereslebewesen erreichen konnte und auch noch einmal mit Generis. Viel Glück bei eurem Vorhaben", sagte er, lächelte und wandte sich Tessina zu, die ganz und gar nicht zufrieden aussah. Langsam schüttelte sie den Kopf und starrte Rilsa an, die sichtlich nervös wurde.
„Du bist eine Ausgestoßene. Womöglich begibst du dich in Gefahr, wenn du versucht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen", bemerkte sie, was Rilsa schuldbewusst den Blick senken ließ. Atimis räusperte sich und trat zu den anderen in den Schuppen. Sofort richteten sich drei Augenpaare auf ihn.
„Ich werde auf sie aufpassen", versprach er, doch Tessina schüttelte weiter den Kopf.
„Das sollte sogar ein Grund mehr sein, euch nicht gehen zu lassen. Wie oft wurde die in den letzten Wochen das Leben gerettet? Von diesem Hohen Menschen? Und von mir?", fragte sie eindeutig vorwurfsvoll und erinnerte Atimis nur zu deutlich an jenen Tag, an dem er zu 100 Peitschenhieben verurteilt worden war. In der Tat wäre er ohne Tessinas Hilfe und die Medizin, die er von Ethonis bekommen hatte, gestorben. Er schluckte schwer und straffte die Schultern und wurde so all die Unsicherheiten los.
„Ich verspreche dir, dass ihr nichts geschehen wird. Wir haben einen Plan", sagte er und sah für eine Sekunde zu Rilsa, in der Hoffnung, dass sie tatsächlich einen Plan hatte.
„Es wird schon alles gut gehen", warf Rilsa eilig ein, streckte die Hand nach Tessina aus und strich ihr über den glatten, braunen Körper.
„Ich nehme dich beim Wort", sagte sie streng, schlängelte sich zwischen ihnen hindurch und verließ nach einem kurzen Blick nach links und nach rechts den Schuppen. Sofort verschwand sie im Gras und auch wenn sie braun anstatt grün war, konnte sie beinahe ungesehen durch den Garten huschen.
„Gut. Nehmt euch noch etwas zu Essen von den Feldern und macht euch auf den Weg. Ich erwarte euch spätestens morgen Abend zurück", sagte Kosiris mit seiner tiefen, respekteinflößenden Stimme und sofort nickte Atimis.
„Wir werden spätestens morgen wieder hier sein", erwiderte er und suchte für einen Moment den Blick der Schlange. Kosiris nickte ihm zu, dann folgte er Tessina nach draußen. Kaum dass er verschwunden war, atmete Rilsa erleichtert auf.
„Tessina ist morgens unausstehlich. Aber wir sollten uns wirklich beeilen", sagte sie, stieß Atimis an der Schulter an und bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, dass er ihr folgen sollte. Er gehorchte und halb geduckt hetzten sie zu dem nächstgelegenen Feld, schnappten sich ein paar Karotten, die sie sich in die Taschen stopften und liefen anschließend zur Hecke, die das Grundstück begrenzte.
Rilsa sah sich suchend um, fand aber recht schnell eine Lücke, durch die sie hindurchpassten. Atimis folgte ihr ein wenig ungeschickte durch die kleine Lücke im Zaun, doch gerade als er auf der anderen Seite durch die Hecke brechen wollte, knallte er gegen Rilsa.
„Warte", flüsterte sie und packte ihn am Arm, als befürchtete sie, dass er einfach an ihr vorbei laufen würde. Sofort beschleunigte sich Atimis Herzschlag und er sah fragend zu Rilsa, die jedoch nickte.
„Die Luft ist rein. Anscheinend haben sie die Suche vorerst aufgegeben. Aber wir müssen auf der Hut bleiben", sagte sie leise und Atimis nickte. Dass ihnen Elstern begegneten hatte ihnen gerade noch gefehlt.
„Komm", sagte sie leise, griff nach seinem Handgelenk und zog ihn aus der schützenden Hecke hinaus über die freie Fläche. Unwillkürlich sah er sich immer wieder um, aber niemand war zu sehen.
„Wir müssen wieder in den Wald, dort sind wir geschützt", sagte sie, beschleunigte ihre Schritte noch etwas und zog ihn innerhalb weniger Augenblicke hinein in den Wald.
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