Kapitel 5 - Atimis

Atimis spürte, wie seine Muskeln unter der Anspannung anfingen zu zittern, doch er konnte sich keine Pause erlauben. Er hob den Blick und erkannte in wenigen Metern Entfernung den Hohen Menschen, für den er arbeitete. Mit einer eindringlichen Handbewegung forderte dieser ihn auf, sich zu beeilen und Atimis biss noch einmal die Zähne zusammen und zog den vollbeladenen Karren bis zu ihm. 

Keuchend stellte er ihn ab und schob die Keile unter die Räder, damit der Karren an Ort und Stelle blieb. Er war voll beladen mit Kohlköpfen, die Atimis geerntet und direkt hineingelegt hatte. 

„Danke, mein Junge", hörte er den Hohen Menschen sagen, dann spürte er ein Klopfen auf seiner Schulter. Atimis stützte die Hände auf den Knien ab, bis er ein wenig zu Atem gekommen war. Als er sich wieder aufrichtete und den Blick über den immer voller werdenden Marktplatz schweifen ließ, fühlte er sich erleichtert, dass seine Arbeit zumindest für den Moment getan war. 

„Hier, nimm das. Bis morgen", sagte der Hohe Mensch, Feridis, zu ihm und drückte ihm unauffällig eine Goldmünze in die Hand. Sofort schlossen sich Atimis Finger darum und er nickte ihm dankbar zu. 

„Bis morgen, ich werde pünktlich sein", versprach Atimis, dann machte er sich davon und hetzte durch die Karren, die gerade aufgebaut wurden. Es herrschte noch ein wenig Unruhe und ständig wurden Arbeiter von den Hohen Menschen angeschrien, dass sie schneller arbeiten sollten. 

Schließlich fand Atimis, wonach er Ausschau hielt. Er ging zu einem der Karren, an denen an Niederer Mensch allein stand. Er bot Karotten an, die durch die Düngemittel aus dem Labor leuchtend rot waren. Atimis suchte den Blick des Arbeiters und als wüsste dieser, was er von ihm wollte, nickte er kaum merklich. Atimis schlenderte an ihm vorbei, überreichte ihm heimlich die Münze und schnappte sich mit geübten Fingern eine Handvoll der Karotten, die er unter seinem weiten Mantel verschwinden ließ. Als wäre nichts geschehen schlenderte er weiter und verließ schließlich den überfüllten Marktplatz. 

Komischerweise pochte sein Herz nicht mehr so schnell wie am Anfang, als er heimlich Nahrung mit dem zugesteckten Geld von Feridis besorgt hatte. Denn eigentlich war es Niederen Menschen nicht erlaubt, Nahrungsmittel außerhalb der Ausgabe zu erhalten. Sollte er erwischt werden, drohte ihm eine öffentliche Prügelstrafe oder Folter. 

Unwillkürlich legte er seine Hand an die Brust, die von hässlichen, roten Narben überzogen war. Schmerzlich erinnerte er sich an das hämische Grinsen der Elstern zurück, als sie ihm diese Narben mit einem rostigen Messer zugefügt hatten, als er einige Goldmünzen von Feridis gesammelt hatte, um für Laskina ein hübsches neues Hemd zu kaufen. 

Verbittert biss er die Zähne aufeinander und lief weiter über den matschigen Weg, der bis zu dem Slum führte, in dem er und Laskina lebten. Der Markt lag etwas außerhalb auf einem großen, gepflasterten Platz, von dem jede Menge Trampelpfade abgingen, die zu den Slums führten. Natürlich hatten sich die Hohen Menschen nicht die Mühe gemacht, auch diese Wege zu pflastern. 

Atimis spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Er wollte so dringend etwas verändern, sein Leben verbessern, doch ihm fehlten die Mittel. Was sollte er, ein unbedeutender Niederer Mensch, denn schon gegen die Hohen Menschen tun? Sie mit Karotten erschlagen, während sie mit Messern, Giftpfeilen und Sprengsätzen antworteten? Frustriert schnaubte er und trat in die festgetretene Erde. Kleine Matschklumpen flogen umher und als er ein merkwürdiges Geräusch hörte, zuckte er zusammen. 

„He, was soll das?", beschwerte sich jemand und panisch sah Atimis sich um. Er sah niemanden und kopfschüttelnd ging er weiter. Seine Fantasie spielte ihm schon Streiche. 

„Jetzt haut er einfach ab", sagte da schon wieder diese Stimme, zischender als zuvor. Abrupt blieb Atimis stehen und sah sich panisch um. Auf einmal bemerkte er zu seinen Füßen eine fließende Bewegung und er machte einen Satz rückwärts. Erst da erkannte er, dass es eine Schlange war, die gut getarnt auf dem braunen, erdigen Boden auf ihn zu schlängelte. Sein Herz pochte noch immer wie verrückt, doch da die Schlange eindeutig gesprochen hatte, musste sie menschenähnlich sein. Atimis ging in die Hocke, um sie besser betrachten zu können. 

Sie war erdbraun und beige gefärbt, sodass sie sich perfekt tarnen konnte. In ihren schwarzen, kleinen Augen erkannte er die menschengemachte Intelligenz. Ihre Zunge schoss hervor und berührte seine Stiefel. 

„Entschuldige, ich habe dich nicht gesehen", sagte er zu ihr, was sie mit einem Zischen kommentierte.

„Ich rieche Karotten. Ich denke, ein kleiner Happen würde mich milde stimmen", sagte sie, was Atimis leise lachen ließ. Sie war genau wie er selbst immer auf der Suche, zusätzliches Essen zu ergattern. Atimis griff in seinen Mantel und zog eine der Karotten heraus und hielt sie ihr hin. 

„Bitte", sagte er, woraufhin die Schlange das Maul aufriss und ein unerwartete großes Stück abbiss. 

„Vielen Dank, du bist ein guter Junge", sagte sie, schlängelte an seinen Füßen vorbei und verschmolz wieder mit dem Pfad. 

„Warte, nimm doch den Rest auch noch", sagte Atimis und hielt die Karotte in ihre Richtung. Er sah, wie sie innehielt, sich umwandte und wieder zu ihm zurückkam. In ihren Augen funkelte es, dann verschlang sie auch die zweite Hälfte. 

„Du bist gütig wie deine Eltern", sagte die Schlange und sofort durchzuckte es Atimis schmerzlich. Ein Keuchen entfuhr ihm, denn seine Eltern waren schon vor einigen Jahren gestorben. Kurz, bevor er Laskina getroffen hatte, waren sie bei einem Anschlag ums Leben gekommen. Die Schlange machte sich wieder davon und eilig rannte er ihr nach. 

„Warte! Bitte", rief er und als er zu ihr aufgeschlossen hatte, suchte er ihren Blick, dem sie jedoch auswich.

„Du kanntest meine Eltern?", fragte er, was sie mit einem Brummen und einem Nicken kommentierte. Atimis schwirrten unendlich viele Fragen durch den Kopf, denn seine Eltern waren Teil einer Untergrundorganisation gewesen, die sich für die Rechte der Niederen Menschen, Tiere und Androiden eingesetzt hatte. Er wusste nicht viel über ihre Arbeit, die sie stets vor ihm geheimgehalten hatten, denn natürlich war es verboten, sich gegen die Regierung aufzulehnen. 

„Es ist nicht sicher, hier darüber zu reden", sagte die Schlange leise und sah sich panisch um. Sofort presste Atimis die Hand auf den Mund, damit nicht noch mehr Fragen herauspurzelten. Auf einmal spürte er, wie die Schlange sich sein Bein emporschlängelte. Erschrocken blieb er stehen, denn auch wenn Schlangen, vor allem menschenähnliche wie diese hier, grundsätzlich friedlich waren, kam ihm diese doch ein wenig verschlagen vor. Er spürte ihren starken Körper über seinen Rücken gleiten, bis sie ganz nah an seinem Ohr innehielt. 

„Deine Eltern haben an meiner Seite für eine gute Sache gekämpft. Sie ereilte der Tod, ich kam mit dem Leben davon. Seitdem lebe ich im Verborgenen, um nicht ebenfalls getötet zu werden", flüsterte sie in sein Ohr. Atimis Atem ging stoßweise, denn die Erinnerung an seine Eltern schmerzte noch immer. 

„Hast du noch Kontakt mit dem Untergrund?", fragte Atimis leise, denn auch wenn er Laskina nicht in Gefahr bringen wollte, spürte er tief in dich drin den Keim der Rebellion, so wie ihn auch seine Eltern in sich getragen hatten. Es war lebensgefährlich, sich gegen die Hohen Menschen zu stellen, aber nur so konnte auf lange Sicht das Leben der anderen Lebewesen verbessert werden. 

„Nein, schon lange nicht mehr", antwortete die Schlange und auf einmal überkamen ihn Zweifel, was die Motive der Schlange waren. 

„Warum erzählst du mir das?", fragte er, woraufhin sie langsam von ihm herunterglitt. 

„Sagen wir, ich wurde von einer guten Freundin geschickt, um dich zu holen", sagte sie kryptisch und machte Anstalten, davon zu gleiten. Eilig rannte Atimis ihr nach. 

„Mich zu holen? Was soll das heißen?", fragte er mit gedämpfter Stimme, woraufhin die Schlange laut zischte, um ihm zu bedeuten, dass er leiser reden sollte. 

„Es ist gefährlich, hier darüber zu sprechen. Wenn du dir sicher bist, dass du etwas verändern willst, dann suche nach Rilsa", sagte die Schlange. Atimis prägte sich den Namen ein, doch dann schüttelte er verwirrt den Kopf. 

„Wo finde ich sie?", fragte er, doch wieder funkelte die Schlange ihn an, als wäre sie davon überzeugt, dass das hier alles nicht richtig war. 

„Du musst dir absolut sicher sein und dein Leben für diese Sache riskieren. Genau so, wie deine Eltern es getan haben", sagte sie und sofort nickte Atimis, ohne darüber nachzudenken. 

„Ja, das will ich", platzte es aus ihm heraus, denn schon lange grübelte er über die Missstände in dieser Welt und wenn er nur gewusst hätte wie, dann hätte er alles dafür getan, um etwas zu ändern. 

„Nein, du bist noch nicht so weit. Ich habe dich beobachtet. Du hast eine Schwachstelle", fuhr die Schlange fort. Verdutzt sah Atimis sie an. 

„Eine Schwachstelle?", fragte er, denn wenn sie glaubte, dass es ihm an dem nötigen Willen fehlte, dann irrte sie sich. Eine Weile schwieg die Schlange, dann hielt sie abrupt an und richtete sich beinahe drohend auf. 

„Deine Verbundene. Sie ist deine Schwachstelle", sagte die Schlange, dann schoss sie durch das hohe Gras abseits des Weges davon. 

„Warte!", rief Atimis, doch sie war verschwunden. Kopfschüttelnd und vollkommen durcheinander blieb er einen Moment lang stehen. Es kam ihm vor wie ein Traum, denn das war einfach zu verrückt, als dass es wirklich passiert sein konnte. Eine Schlange, die offensichtlich im Verborgenen lebte und seine Eltern gekannt hatte, schien ihn für den Untergrund gewinnen zu wollen. Gleichzeitig schien sie nicht davon überzeugt zu sein, dass er wirklich der Richtige war. Sie hatte von Laskina gesprochen und sie als Schwachstelle bezeichnet. Atimis Kehle wurde eng, dass Laskina war alles andere als eine Schwachstelle. Sie war klug, fleißig und manchmal ein wenig eigensinnig, aber ganz sicher keine Schwachstelle. 

Langsam setzte er sich wieder in Bewegung und versuchte, sich einen Reim auf das alles zu machen. Er wusste, dass die Untergrundorganisation noch existierte, für die seine Eltern gestorben waren, aber eigentlich war es in den letzten Jahren still um sie geworden. Er erinnerte sich noch an die Zeiten, als er ein kleiner Junge war. Ständig gab es Nachrichten über Angriffe des Untergrundes auf Regierungsgebäude und Proteste. Doch nach dem großen Anschlag, bei dem neben seinen Eltern noch mehrere Tausend Niedere Menschen, Tiere und Androiden gestorben waren, war es still um den Untergrund geworden. Die meisten Mitglieder waren gestorben oder verhaftet worden, doch ganz offensichtlich waren einige davon gekommen. Atimis spürte, wie er sich anspannte und der Gedanke der Rebellion, der ihm von seinen Eltern eingepflanzt worden war, wieder erwachte. 

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