Atimis hatte den Blick auf den Boden gerichtet und versuchte krampfhaft, nicht an Laskina zu denken. Es gelang ihm nicht, immer wieder wanderten seine Gedanken zu ihr und unweigerlich zu Ethonis, den sie ihm vorgezogen hatte.
Sie marschierten schon nun eine ganze Weile, geschützt im hohen Gras. Rilsas und seine eigenen Schritte waren deutlich zu hören, während die beiden Schlangen beinahe lautlos durch das Gras glitten.
„An was denkst du?", riss ihn auf einmal Rilsas Stimme aus seinen Gedanken und erschrocken wandte er den Kopf zu ihr herum. Sie lief näher neben ihm, als er es erwartet hatte und er fragte sich, ob sie schon die ganze Zeit so nah bei ihm gewesen war. Missmutig zwang er sich zu einem Lächeln, doch es musste eher wie eine Fratze aussehen. Rilsas Blick hingegen war freundlich und aufmerksam, so als würde sie wirklich interessieren, wie es ihm ging.
„Ich habe Angst, sie wieder zu sehen", sagte er wahrheitsgemäß und sah, wie Rilsa nickte.
„Das verstehe ich gut, aber... was wäre das Schlimmste, das passieren könnte?", fragte sie weiter, was Atimis stocken ließ. Er konnte diese Frage gar nicht so ohne Weiteres beantworten, denn allein die Situation, dass sie voneinander getrennt waren, erschien ihm schon schlimm genug.
Langsam setzte er sich wieder in Bewegung, damit er den Anschluss an die anderen nicht verlor, doch nach und nach bildete sich eine klare Szene vor ihm, die sein Herz schwer werden ließ.
„Dass sie unglücklich ist und ihre Entscheidung bereut, sie aber nicht mehr rückgängig machen kann. Wenn ihr Leben nun noch schlimmer ist, als es zuvor war. Das wäre das Schlimmste, das passieren könnte", sagte er und spürte, wie sein Herz sich unangenehm zusammenzog. Rilsa setzte zu einer Erwiderung an, doch bevor sie etwas sagen konnte, wurden sie von einem gequälten Stöhnen unterbrochen.
Verwirrt sahen sie zu Tessina, von der das Geräusch gekommen war.
„Denk doch einmal nur an dich, Junge! Ist sie diesen Kummer wirklich wert? Sie hat den einfachen Weg gewählt und sich einen Hohen Menschen gesucht, anstatt zu kämpfen. Anstatt die Situation für alle zu verbessern, hat sie den einfachen, egoistischen Weg gewählt", sagte Tessina mit beinahe genervter Stimme, doch er erkannte auch so etwas wie Wehmut darin. Atimis wusste nicht, was er dazu sagen sollte, denn im Prinzip hatte Tessina recht.
„Taktvoll wie immer", kommentierte Rilsa, lachte aber leise. Machten sie sich etwa über ihn lustig? Atimis schnaubte, beschleunigte seine Schritte und ging an den beiden Schlangen vorbei. Wütend schob er die Hände in die Taschen und marschierten eilig weiter.
„Atimis! Es war nicht böse gemeint", rief Tessina ihm nach und wie von allein verlangsamte er seine Schritte wieder. Es wäre alles andere als klug, nun eingeschnappt allein durch die Gegend zu wandern. Er atmete tief durch, ließ die Schultern hängen und sah zu der Schlange herunter. Sie erwiderte den Blick und für eine Sekunde erkannte in ihrem Blick Verständnis.
„Ich will nur sagen, dass du dich nicht von ihr klein kriegen lassen solltest. Sie hat sich gegen dich entschieden, gegen uns, anstatt mit uns zu kämpfen. Es war allein ihre Entscheidung und nun muss sie damit leben. Mach dich nicht verrückt vor Sorge um sie. Wir sind alle bei dir und helfen dir. Du musst nicht allein dadurch", sagte Tessina und klang auf einmal ganz und gar nicht mehr spöttisch oder hämisch, sondern einfühlsam. Atimis nickte, dennoch war ihm klar, dass er derjenige sein würde, der mit Laskina sprechen musste.
Er richtete den Blick wieder nach vorn und erblickte Kosiris, der schon den ganzen Weg über schweigsam gewesen war. Er war einige Schritte von ihnen entfernt und ließ den Blick ständig umherwandern, auf der Suche nach Gefahren.
Atimis hörte, wie Rilsas Schritte wieder näher kamen und keine Sekunde später spürte er ihre Hand auf seiner Schulter.
„Was Tessina eigentlich sagen wollte: Kopf hoch", raunte sie ihm zu und auch wenn er wusste, dass Tessina ihn nicht verärgern wollte, taten diese Worte gut.
„Danke. Es ist noch alles verwirrend für mich", gab er leise zurück, woraufhin Rilsa ihre Hand wieder herunternahm und nickte.
Plötzlich blieb Kosiris vor ihnen stehen, so abrupt, dass Tessina gegen in knallte. Bevor sie sich lautstark beschweren konnte, zischte Kosiris als Zeichen, dass sie leise sein sollte. Offensichtlich hatte er etwas entdeckt und wie automatisiert duckte Rilsa sich neben ihm und zog ihn mit sich in Deckung.
Atimis hatte nichts erkennen können, doch als er lauschte, hörte er eindeutig Stimmen. Es mussten mehrere Männer sein, doch sie waren zu weit weg, als dass er etwas hätte verstehen können.
„Es sind Hohe Menschen", flüsterte Kosiris und spähte noch einmal über das hohe Gras hinweg.
Plötzlich sog er scharf die Luft ein, als hätte er etwas Schreckliches gesehen. Hektisch wandte er sich zu ihnen um, die Augen schreckgeweitet.
„Rilsa, sie vergiften hier die Erdbeeren", sagte Kosiris und bevor Atimis sich zurückhalten konnte, streckte er sich und spähte in die Richtung, in der er die Hohen Menschen vermutete. Ein Keuchen entfuhr ihm, als er erkannte, was dort vor sich ging.
Knapp zehn Meter von ihnen entfernt lag eine kleine Holzhütte, mitten im Gras. Allein das sah schon merkwürdig aus, denn hier so einsam und allein konnte niemand leben. Vor der Hütte war ein kleiner Tisch aus Holz, auf dem jede Menge Kisten mit Erdbeeren standen. Die Früchte waren prall und rot und augenblicklich lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Allerdings erkannte er noch etwas, oder besser gesagt: Jemanden.
„Oh nein", hauchte er und spürte sofort den Blick von Rilsa auf sich.
„Das ist der neue Verbundene von Laskina", sagte er leise und nun streckte auch Rilsa den Kopf über das Gras. Gebannt beobachtete Atimis, was nun geschah. Ethonis trug kistenweise Erdbeeren aus seiner Kutsche, die nur wenige Meter entfernt stand und stapelte sie auf dem Tisch vor der kleinen Hütte. Dort nahmen sie zwei Elstern in Empfang, nahmen Beere für Beere heraus und spritzten mit einer gigantischen Spritze etwas Dunkles hinein.
Gift. Eindeutig.
Kosiris hatte recht, sie vergifteten die Erdbeeren, die Ethonis ihnen brachte. Sobald sie eine Erdbeere mit der dunklen, Tod bringenden Flüssigkeit versetzt hatten, warfen sie sie achtlos in eine Metalltonne neben dem Tisch.
Kopfschüttelnd sah Atimis zu Ethonis, der genau in diesem Moment einen reichlich gefüllten Sack annahm, vermutlich mit Gold. Ethonis wog ihn in der Hand, bevor er sich mit einem Händedruck bei den Elstern verabschiedete und wieder zurück in auf seine Kutsche sprang.
Atimis spürte, wie blinde Wut in ihm aufkochte. Er hatte sich eindeutig in Ethonis getäuscht. Er war kein Deut besser als all die anderen Hohen Menschen. Wütend ballte er die Hände zu Fäusten und presste die Kiefer fest aufeinander.
„Wir müssen etwas unternehmen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Erdbeeren unter den Leuten verteilt werden", zischte Rilsa mit bebender Stimme, offensichtlich war sie genau so wütend wie er selbst. Kosiris wandte sich zu ihr um und nickte.
„Ich stimme dir zu, aber was sollen wir tun, solange die Elstern noch dort sind?", fragte er, was Rilsa für eine Sekunde den Blick senken ließ.
„Überlasst das mir", meldete sich Tessina, die ohne irgendeine Antwort abzuwarten den Kopf einzog und in Richtung der Hütte davonschlängelte. In dem hohen Gras war sie unsichtbar und Atimis fiel es schwer, sie im Blick zu behalten.
„Was hat sie vor?", fragte Rilsa, die sie deutlich anspannte. Niemand antwortete ihr, denn sie alle starrten ihr nach. Schnell gelangte Tessina an die Hütte und sie schlich sich von hinten an die beiden Eltern heran. Sie waren so sehr damit beschäftigt, die wunderbaren Früchte zu vergiften, dass sie sie gar nicht zu bemerken schienen. Tessina schlängelte sich immer näher an sie heran, bis sie nur noch wenige Zentimeter von ihnen entfernt war.
„Oh nein, ich weiß, was sie vor hat", raunte Atimis ihm zu und bevor er sie fragen konnte, was sie denn meinte, richtete Tessina sich auf, sperrte ihr Maul auf und biss die beiden Elstern mit einer atemberaubenden Schnelligkeit in ihre Beine. Bevor die beiden sich umwandten, war sie schon wieder im Schutz des Grases verschwunden.
Atimis schluckte schwer, doch er konnte den Blick nicht abwenden, ja es erfüllte ihn sogar mit Befriedigung, die beiden Elstern zu sehen. Sie griffen sich an die Beine und sanken keine Sekunde später zu Boden, schreiend und sich windend.
„Ihr Gift wirkt tatsächlich sehr schnell", bemerkte Kosiris, der genau wie er selbst des Todeskampf der beiden mit einer gewissen Genugtuung beobachtete. Nach ein paar Augenblick wandten die beiden Männer sich, dann blieben sie mit verzerrten Gesichtern regungslos liegen. Atimis Atem beschleunigte sich, denn auch wenn sie so den Tod vieler Niederer Menschen und Tiere verhindern konnten, fühlte es sich falsch an, dafür den Tod zweier Menschen in Kauf zu nehmen.
„Kommt schon", rief Tessina und Atimis sah, wie Kosiris und Rilsa sich sofort in Bewegung setzten. Er jedoch konnte sich nicht rühren.
Tessina hatte soeben zwei Menschen getötet, ohne mit der Wimper zu zucken.
Auf einmal sah er, wie Rilsa stehen blieb und sich nach ihm umsah. Ihr dunkles Haar wehte um ihr rundes, beinahe perfektes Gesicht im Wind und er musste zugeben, dass sie in diesem Moment wunderschön aussah. Abgesehen von der Tatsache, dass sie schon die ganze Zeit noch nicht einmal geblinzelt hatte, was ein wenig unheimlich war.
Sie bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, ihr zu folgen, hielt ihm aber gleichzeitig eine Hand hin. Atimis straffte die Schultern und hob den Blick. Ja, zwei Elstern waren tot, aber ihm war klar gewesen, dass sie auf ihrem Weg zur Gerechtigkeit über Leichen gehen mussten. Allerdings bemerkte er in diesem Moment, dass zwischen der Vorstellung und der Realität Welten lagen. Seine Beine setzten sich in Bewegung, aber er hatte kein Gefühl in seinen Gliedern. Erst als Rilsa seine Hand nahm und sie fest drückte, kehrte er zurück ins Hier und Jetzt.
Sie zog ihn eilig zu der kleinen Hütte, wo Kosiris bereits die Tonne mit den vergifteten Erdbeeren umgeworfen hatte. Sie rollten heraus und auch wenn Atimis wusste, dass sie vergiftet waren, spürte er den Drang, sie zu essen.
Rilsa ließ seine Hand los, griff nach der Tonne und schüttete die Erdbeeren auf den Boden, dann ließ sie die Tonne immer und immer wieder wie einen riesigen Hammer darauf niedersausen. Es bildete sich eine Pampe aus rot und schwarz, die unangenehm roch. Angewidert verzog er das Gesicht und wandte sich ab, allerdings fiel sein Blick dabei auf die reglosen Körper der beiden Elstern.
Ihre Münder standen noch weit offen, wie zu einem letzten Schrei. Atimis heftete den Blick wieder auf Rilsa, die eindeutig Spaß dabei zu haben schien, die Erdbeeren zu zermatschen. Tessina währenddessen schnappte sich eine Frucht aus den Kisten auf dem Tisch, die noch nicht vergiftet waren und schlang sie mit einem Biss herunter. Genüsslich seufzte sie, doch sofort hielt Rilsa in ihrer Arbeit inne.
„Tessina!", schrie die panisch, als erwartete sie, dass sie genau wie die beiden Männer zusammenbrechen würde. Doch nichts geschah.
„Keine Panik, diese hier sind nicht vergiftet", sagte Tessina und nahm gleich noch eine Erdbeere. Rilsa und auch Kosiris sahen sie noch eine Weile skeptisch an, doch dann griffen sie gierig nach dem Früchten. Auch Atimis konnte sich nicht mehr zurückhalten und er schnappte sich gleich eine ganze Handvoll.
„Wir sollten weiter", sagte Kosiris nach einer Weile und Rilsa nickte.
„Ja, du hast recht. Es kann nicht mehr weit sein", sagte sie, nahm sich noch einige Erdbeeren und ging zurück in das hohe Gras. Atimis folgte ihr, doch seine Gedanken hingen an Ethonis. Er hatte die Erdbeeren geliefert, vermutlich kamen sie aus seinem Garten. Wusste er, dass sie sie mit Gift versetzten? Es musste doch so sein, immer hatte er gesehen, wie die Elstern die schwarze Flüssigkeit hineingespritzt hatten. Dennoch störte ihn an dieser Vorstellung etwas.
Zwar war Ethonis ein Hoher Mensch, aber er war ihm nicht so hinterhältig vorgekommen. Immerhin hatte er ihm das Leben gerettet. Wäre es ihm egal, was mit den Niederen Menschen und Tieren geschah, wenn sie die Erdbeeren aßen, warum rettet er ihm dann das Leben? Verwirrt schüttelte er den Kopf. Hoffentlich würden sie das alles bald herausfinden.
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