Kapitel 43 - Atimis

Atimis erkannte zuerst das Glitzern des Mondlichtes auf dem Wasser, dann realisierte er, wie groß der See tatsächlich war. Wie sollten sie hier nur die Muräne, Poseidon, wiederfinden? 

Sein Blick wanderte zu Rilsa, die jedoch mit leicht geöffnetem Mund auf die spiegelglatte Wasseroberfläche blickte. 

„Atemberaubend, nicht wahr?", sagte Tessina zu niemand Bestimmten und Atimis nickte. 

„Ja, allerdings", sagte Rilsa neben ihm, wandte sich dann aber Kosiris zu und wischte sich eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr. 

„Hast du einen Treffpunkt ausgemacht?", fragte sie und sofort nickte die riesige Schlange. 

„Aber ja. Es ist nicht weit von hier. Folgt mir", erwiderte Kosiris und schlängelte durch das nicht mehr ganz so hohe Gras davon. Sie folgten ihm und neugierig betrachtete Atimis die Landschaft. Hier war er noch nie gewesen und die dicht beieinander stehenden Weiden wirkten im Mondlicht merkwürdig gruselig. Ihre Zweige hingen wie geifernde Finger hinunter, die sie jeden Moment versuchten, zu packen. Sie standen unmittelbar an der Wasserkante und überspannten den Weg entlang am Ufer. Im Sonnenlicht war es hier mit Sicherheit sehr schön, aber bei Nacht wirkte alles doch etwas gruselig. 

Kosiris führte sie an den Weiden vorbei, bis sie einer felsigen Landschaft wichen. Einer der Felsen war ins Wasser gestürzt und stellte so eine markante Landmarke dar, die sich gut als Treffpunkt eignete. 

Kosiris schlängelte sich ganz an den Rand des Felsens und glitt beinahe unsichtbar in dessen Schatten ins Wasser. Atimis trat näher heran, hütete sich aber davor, nasse Füße zu bekommen. Ein Fußmarsch mit nassen Socken war nun wirklich nicht angenehm. 

Er legte die Hand an den rauen Fels, der ihn um knapp 30 Zentimeter überragte. Er fühlte sich merkwürdig warm an und als er mit der Hand darüber strich, bröckelte kleine Stückchen davon ab. Vermutlich war es weicher Sandstein. 

Auf einmal bemerkte er, wie Rilsa neben ihr trat. Tessina ruhte auf ihren Schultern, die Schwanzspitze sanft um ihre Mitte geschlungen. 

„Hoffentlich lässt Poseidon uns nicht allzu lange warten", sagte Rilsa und Atimis bemerkte, dass ihr Blick suchend über die Wasseroberfläche glitt. 

„Ja, vermutlich sollten wir nicht länger als nötig hier draußen herumlaufen", stimmte er zu und dachte unweigerlich an Feridis zurück, der seinetwegen geschlagen worden war. Die Elstern suchten ihn, wieder einmal, aber dieses Mal würde er sich nicht ergeben. Er würde sich hier im Verborgenen halten, denn zu Hause gab es niemanden mehr, der auf ihn wartete oder den er beschützen musste. Laskina hatte ihn verlassen. 

Auf einmal spürte er, wie sein Herz schwer wurde. Er vermisste sie schrecklich, auch wenn er verletzt war, dass sie ihn für Ethonis fallen gelassen hatte. 

Eilig wandte er den Blick auf Kosiris, damit er nicht in Gedanken versank, die ihn schwermütig werden ließen. 

Die Schlange war leicht zu übersehen, so gut tarnte sie sich im Schatten des Felsens. Kosiris Augen ruhten knapp über der Wasseroberfläche und beobachten aufmerksam die Umgebung, während er hier herumstand und an Laskina dachte. 

Ein Seufzen entfuhr ihm und keine Sekunde später richteten Rilsa und Tessina den Blick auf ihn. Atimis räusperte sich und machte eine wegwerfende Handbewegung. 

„Er trauert", stellte Tessina nüchtern fest, was Atimis zusammenzucken ließ. 

„Natürlich trauert er. Seine Verbundene hat ihn verlassen", sagte Rilsa zu Tessina, als würde er nicht direkt neben ihnen stehen und sie hören. Kopfschüttelnd wandte er sich zu den beiden um. 

„Ich höre euch", sagte er, was Tessina grinsen ließ. 

„Das ist mir bewusst. Ändert nichts an der Tatsache, dass sie dich sitzen gelassen hat", stichelte Tessina weiter, auch wenn Atimis nicht glaubte, dass sie es böse meinte. 

„Dein Taktgefühl ist unglaublich", raunte Rilsa, schüttelte den Kopf und legte ihm einen Arm auf die Schulter. 

„Es ist in Ordnung, zu trauern. Wie lange wart ihr verbunden?", fragte Rilsa, die eindeutig versuchte, ihn aufzumuntern. 

„Sechs Jahre. Ein Paar waren wir seit dreien davon", erklärte er, seufzte tief und schüttelte wieder einmal den Kopf. Es war, als würde er erst nach und nach begreifen, was das alles tatsächlich bedeutete. Laskina würde nie mehr zu ihm nach Hause zurückkehren. Nie mehr würde sie ihm in ihrer aufgeregten Art von ihrem Tag berichten, von ihren Tagträumen, von ihren vollkommen unrealistischen Zukunftsplänen. Nie mehr würde sie ihn trösten, wenn er traurig war. Nie mehr würde er sie küssen können. 

Atimis vergrub die Hände in die Hosentasche und schob mit dem Fuß kleine Steinchen hin und her. 

„Sie fehlt mir nur so sehr", sagte er leise, hob wieder den Blick und sah in Rilsas Augen. Ihr Blick war weich und verständnisvoll und um ihre Mundwinkel zuckten ein kleines Lächeln. 

„Ich verstehe dich. Es ist schwer. Aber du bist stark, du schaffst das", versuchte sie ihn aufzubauen und tatsächlich funktionierte es. Er nickte, drängte Laskina aus seinen Gedanken und richtete den Blick wieder auf das Wasser. Erst da bemerkte er, dass Rilsas Hand noch immer auf seine Schulter lag, als wollte sie ihm Halt geben. Es war nicht unangenehm, ganz im Gegenteil, es zeigte, dass sie eine Gemeinschaft waren. Sie vier, mit Poseidon fünf, würden alles geben, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Eine ganze Weile warteten sie, bis auf einmal das Plätschern von Wasser zu hören war. Atimis spannte sich an, Rilsa und Tessina neben ihm ebenfalls. Nur Kosiris wirkte ganz entspannt und er sah, wie er untertauchte und mit dem dunklen Wasser verschmolz. 

„Ich glaube, Poseidon ist da", sagte Tessina leise und Rilsa nickte. Nur wenige Sekunden später tauchte Kosiris wieder auf, neben ihm eine Muräne. Atimis wich zurück, denn sie entblößte ihre spitzen, rasiermesserscharfen Zähne. 

„Das sind meine Verbündeten", sagte Kosiris und machte eine Kopfbewegungen zu ihnen herüber. Poseidon tauchte ein wenig weiter aus dem Wasser auf und nickte ihnen ehrfürchtig zu. 

„Schön, euch kennen zu lernen, auch wenn du mir bereits das Leben gerettet hast", sagte er wandte sich mit den letzten Worten an Rilsa. Sie senkte für einen Moment den Kopf, dann lächelte sie und trat einen Schritt vor. Tessina wirkte ein wenig nervös, denn sie rutschte unruhig auf ihren Schultern herum. 

„Es freut uns, dass du gekommen bist. Kosiris hat einen Plan entwickelt, der durchaus funktionieren könnte, allerdings bräuchten wir deine Hilfe", sagte sie und klang überraschend selbstsicher. Atimis fand, dass sie in diesem Moment etwas von einer Anführerin hatte. 

„Ich höre", erwiderte Poseidon und nun ergriff Kosiris das Wort und berichtete in kurzen Sätzen von seiner Idee der Flutwelle. Hin und wieder tauchte Poseidon unter, damit er nicht erstickte, doch als Kosiris geendet hatte, breitete sich ein teuflisches Grinsen auf seinem Gesicht aus. 

„Dein Plan ist genial. Aber ich werde einige Zeit brauchen, um die Meereslebewesen zu finden und von unserer Sache zu überzeugen. Zumindest diejenigen, die nicht in der Nähe von Menschen leben, werde ich nicht leicht überzeugen können", bemerkte er, was Atimis zweifeln ließ. Sie brauchten die Meereslebewesen, denn sonst würde ihr Plan scheitern. 

„Du meinst, du könntest du Küstenbewohner eher erreichen? Meinst du, sie könnten uns beim Ausheben der Tunnel helfen, während du die übrigen Meereslebewesen versuchst zu finden?", fragte Rilsa mit einem Enthusiasmus, der ihm ein wenig fehl am Platz vorkam. Poseidon überlegte einen Moment, dann nickte er. 

„Ja, das wird machbar sein. Allerdings können Sie nur die Wasser-Tunnel graben", bemerkte er. 

„Das ist besser als nichts. Mir fällt da gerade etwas ein", meldete Kosiris sich erneut zu Wort und alle Augen richteten sich gespannt auf ihn. 

„Ich bin mir nicht sicher, wie gut sich das umsetzen lässt, aber stellt euch vor, die Meereslebewesen graben unter Wasser bis zu unseren Tunneln. Wir installieren eine Art Schleuse an den Übergängen, sodass das Wasser an mehreren Stellen gleichzeitig unter die Gebiete der Hohen Menschen fließt", sagte er langsam und klang dabei, als würde er selbst noch darüber nachdenken, ob das wirklich eine so gute Idee ein. Rilsas Augen weiteten sich. 

„Das ist eine gute Idee! Es wird die Unterspülung sehr viel effektiver machen", warf sie ein, während sie einen Finger ans Kinn legte, als würde sie nachdenken. Atimis wusste nicht so recht, ob dieser Plan wirklich funktionierte. 

„Wie sollen die Meereslebewesen die bereits von uns gegrabenen Tunnel finden?", fragte er, denn selbst wenn die Meereslebewesen Tunnel gruben, die von diesem See und anderen Gewässern ausgingen, schien es ihm unmöglich, diese miteinander zu verbinden. 

„Delfine", sagte Tessina auf einmal trocken, als läge das auf der Hand. Verwirrt sah Rilsa sie an. 

„Aber ja! Das ist es!", rief Poseidon aus, bevor er noch einmal kurz untertauchte. 

„Natürlich müsstet ihr eine grobe Karte eurer Tunnel anfertigen, aber Delfine und Wale können durch ihr Echolot erkennen, wo die Tunnel sind. Zumindest, wenn sie nah an an das Wasser heranreichen", rief Poseidon aus, als er wieder auftauchte. Atimis war vollkommen verwirrt. 

„Bitte was? Ich verstehe gar nichts", sagte er und sah hilfesuchend zu Rilsa, die wiederum zu Tessina blickte. 

„Delfine und Wale besitzen ein Echolotsystem, mit welchem sie Ultraschallwellen aussenden und so erkennen können, wo sich Gegenstände im Wasser befinden. Nicht nur das, sie können die Größe, den Umfang und die Stärke erkennen. Heißt also: Sie können erkennen, wo die Erde dicker ist und wo dünner. Umso dünner sie wird, um so näher sind sie an einem unserer Tunnel dran", erklärte Tessina und erstaunt riss Atimis die Augen auf. Er hatte nicht gewusst, dass Delfine und Wale diese Fähigkeit hatten und ihm wieder einmal mehr bewusst, wie wenig er doch von der Welt und ihren Bewohnern wusste. 

„Das könnte wirklich eine Lösung sein", bemerkte Kosiris und nickte langsam. 

„Wir müssen es versuchen. Meine Unterstützung ist euch sicher", sagte Poseidon, was Rilsa neben ihm lachen ließ. 

„Wunderbar! Es ist... es scheint wirklich der erste Hoffnungsschimmer seit Jahren zu sein", rief sie aus, schlang die Arme um Tessina und drückte sie. 

„Gut. Was ist nun der nächste Schritt?", fragte Kosiris diplomatisch und sah sie alle der Reihe nach an. 

„Wir haben bereits eine grobe Karte unserer Tunnel angefertigt. Wir könnten sie verfeinern und großflächiger aufsetzen", sagte Tessina und Kosiris nickte. 

„Ja, das wird unsere Aufgabe sein, neben dem Weitergraben", stimmte er zu, dann sah er zu Poseidon. 

„Ich werde versuchen, so viele Meereslebewesen wie möglich zu finden. An erster Stelle Wale und Delfine", sagte er und wirkte auf einmal sehr verbissen. 

„Gut. Treffen wir uns in drei Tagen wieder hier und sehen, wie weit wir gekommen sind", schlug Kosiris vor und einstimmig nickten sie. 

„Da fällt mir noch etwas ein", sagte Poseidon auf einmal und Atimis sah die Muräne neugierig an. Ähnlich wir Kosiris schien er sehr besonnen zu sein und seine Gedanken erschienen sehr taktisch. 

„Ich habe von hier Zugang zu diesem Teich, der direkt in dem Garten eines Hohen Menschen liegt. Dort lebt auch ein Gorilla, der uns helfen kann. Hohe Menschen haben Werkzeuge, über die wir nicht verfügen, vielleicht kann er uns nützliche Dinge besorgen", sagte er und sofort schrillten in Atimis alle Alarmglocken. 

Ein Gorilla, der bei einem Hohen Menschen lebte? Nein, das konnte nicht sein. Sicherlich lebten viele Gorillas bei Hohen Menschen. Ein Keuchen entfuhr ihm, bevor er es verhindern konnte. 

„Was?", fragte Tessina unfreundlich, doch Atimis schüttelte den Kopf. 

„Nichts, das kann nicht sein. Solche Zufälle gibt es nicht", sagte er abwehrend und wandte sich wieder Poseidon zu, den er unfreiwillig unterbrochen hatte. Allerdings sprach er nicht weiter, sondern sah ihn aufmerksam an. 

„Es gibt keine Zufälle, die nichts bedeuten. Was weißt du?", fragte Poseidon ernst und Atimis spürte, wie seine Hände anfingen zu schwitzen. 

„Meine ehemalige Verbundene hat mich für einen Hohen Menschen verlassen. Erst vorletzten Abend. Sie ist nun mit einem Hohen Menschen verbunden, der mit einen Gorilla adoptiert hat. Generis heißt er. Es kann nicht allzu weit von hier entfernt sein", berichtete er und sah, wie sie mit jedem Wort die Augen der Muräne weiteten. 

„Du sagst, deine ehemalige Verbundene lebt bei Generis?", fragte er nach und matt nickte Atimis. Plötzlich lachte Poseidon kehlig auf. 

„Das kann kein Zufall sein, sondern Schicksal", sagte er und erfüllte damit Atimis schlimmste Befürchtungen. Der Teich, in dem Poseidon lebte, gehörte Ethonis, dem Hohen Menschen, der seine Verbundene dazu gebracht hatte, ihn allein zu lassen. Atimis ballte die Hände zu Fäusten und spürte, wie er anfing zu beben. 

„Atimis, bedeutet das, dass du und helfen kannst, Generis zu erreichen? Über deine ehemalige Verbundene?", fragte Tessina nun aufgeregt und beugte sich über Rilsas Schulter näher an ihn heran. 

„Sie will nichts mehr von mir wissen. Wie sollte ich da helfen?", fragte er mit zitternder Stimme, doch er sah bereits an dem Blick der anderen, dass sie das nicht so sahen. 

„Wir müssen es versuchen. Gehen wir zu Generis und versuchen, diesen Vorteil auszunutzen", sagte Rilsa bestimmt und ergeben nickte er. Was blieb ihm auch anderes übrig? 

„Schön, meinetwegen", brummte er und spürte augenblicklich, wie Tessina von Rilsas Schultern auf seine hinüberglitt. 

„Du bist nicht allein. Wir helfen dir. Aber wir sollten diesen Vorteil nutzen", flüsterte sie leise in sein Ohr und langsam nickte er. Sie hatte ja recht, das musste er selbst zugeben. 

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