Kapitel 40 - Rilsa

Rilsa sah den beiden Schlangen nach, bis sie aus dem Lager verschwunden waren, dann wandte sie sich Atimis zu. Zum ersten Mal betrachtete sie ihn genauer und sie musste zugeben, dass er einen sehr entschlossenen Blick hatte, der ihr zeigte, dass er eindeutig ein Gewinn für sie war. Sein Haar, das die Farbe zwischen blond und braun war, reichte bis auf seine Schultern, seine Haut war gebräunt von der Sonne, wirkte aber im fahlen Licht der Öllampe blass und glanzlos. Auch wenn er eher schlaksig wirkte, schien er stark zu sein, zumindest seine Schultern waren breit. Rilsa riss den Blick von ihm los, spürte aber, wie sie rot wurde. 

„Ist alles in Ordnung?", fragte Atimis und eilig nickte sie. Ihr blödes Herz schlug schneller in seiner Gegenwart, was es nicht gerade leichter machte, mit ihm zu sprechen. 

Kopfschüttelnd riss sie sich zusammen. Sie hatte keine Zeit für Liebschaften, abgesehen davon schien Atimis noch immer seine Verbundene oder besser gesagt: seine frühere Verbundene zu lieben. Atimis seufzte, dann spürte sie auf einmal seine Hand auf ihrer Schulter. 

„Kann ich irgendetwas tun?", fragte er und panisch überlegte sie, was sie ihm sagen sollte. Tatsächlich täten sie gut daran, sich auszuruhen, wenn sie heute Nacht aufbrechen wollten. 

„Wir sollten uns ausruhen, damit wir heute Abend alle Kräfte haben, um den Fußmarsch zu schaffen", sagte sie, entwand sich seinem Griff und legte sich in ihr Bett. Warum war sie nur so unsicher in seiner Gegenwart? 

„In Ordnung", sagte Atimis, legte sich ebenfalls in sein Bett und zog die Decke über sich. Sie lagen beide auf der Seite, sodass sie sich ansehen konnten, was sie auch unverhohlen tat. Atimis erwiderte ihren Blick und lächelte. 

„Es tut mir leid, dass ich einfach so hier aufgetaucht bin, als du geschlafen hast. Tessina hat mich hergeführt", sagte er und Rilsa nickte langsam. 

„Schon in Ordnung. Sie ist ständig auf der Suche nach Leuten, die sich uns anschließen. Allerdings war sie in letzter Zeit nicht sehr erfolgreich. Zumindest bis Kosiris aufgetaucht ist. Seit dem scheint sich etwas verändert zu haben. Es scheint... bergauf zu gehen", platzte es aus ihr heraus und spürte auf einmal eine Welle der Erleichterung durch sich schwappen. Vielleicht, weil sie endlich jemanden zum Reden hatte, während die beiden anderen draußen waren. 

„Manchmal fehlt einem der entscheidende Funke", erwiderte Atimis, allerdings bemerkte sie in seinen Augen ein Funkeln, das verdächtig nach Tränen aussah. Rilsa wusste nicht so recht, was sie darauf antworten sollte, doch recht schnell sprach Atimis weiter. 

„Anscheinend hat Laskina, meiner Verbundenen auch der letzte Funke gefehlt, den sie in Ethonis gefunden hat", sagte er, gefolgt von einem erstickten Laut. Laskina hieß sie also, die Frau, die ihm das Herz gebrochen hatte. 

„Woher kannte sie ihn?", wollte sie wissen, was Atimis tief seufzen ließ. Sie war sich nicht ganz sicher, ob er darüber reden wollte oder nicht, aber immerhin hatte er mit diesem Thema angefangen. 

„Sie arbeitet für ihn und... ich habe ihn auch kennengelernt. Er scheint anders zu sein, als die meisten Hohen Menschen, denn die Medizin, die ich dir gegeben habe, war von ihm. Die Elstern hatten mich vergiftet und er hat mir das Leben gerettet. Ich kann schon verstehen, dass sie sich in ihn verguckt hat, aber ich dachte, dass die Verbindung zwischen ihr und mir viel tiefer ist", plapperte er weiter und wirkte mit jedem Wort gelöster. Rilsa entschied sich, ihm eine Weile zuzuhören, denn seine Stimme war angenehm und sicherlich würde er sich danach auch besser fühlen. 

Er beschwerte sich noch eine ganze Weile, dass er nicht nachvollziehen konnte, warum sie ihn sitzen ließ, doch als er mit einem Seufzen schließlich endete, sah er sie hilfesuchend an. 

„Hätte sie die Verbundgemeinschaft nicht aufgelöst, wärst du vermutlich nicht hier", stellte sie fest und sie sah, wie er darüber nachdachte. 

„Nein, vermutlich nicht. Sie hätte sich niemals einer illegalen Organisation angeschlossen, auch wenn sie mit ihrem Leben nicht zufrieden war. Sie hat den einfachen, kurzfristigen Weg gewählt, es zu verbessern", sagte er, drehte sich anschließend auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. 

„Alles geschieht aus irgendeinem Grund. Vielleicht musste sie erst diesen Schritt gehen, damit ich den Weg zu euch finde", sagte er gedankenverloren und Rilsa stimme ihm im Stillen zu. Zwar war er erst seit ein paar Stunden hier und sie wusste noch nicht, welche Rolle er in ihrem Plan spielen würde, aber es war gut, dass er hier war. Jedes Lebewesen mehr machte ihren Erfolg wahrscheinlicher. Nicht, dass diese Wahrscheinlichkeit aktuell besonders groß war, aber sie fühlte sich zuversichtlich, dass sie irgendetwas verändern konnten.

Atimis hielt ihr helfend die Hand hin und auch wenn Rilsa es sicherlich ohne seine Hilfe durch das Erdloch geschafft hätte, nahm sie sie. Sein Griff war fest und bestimmt und er zog sie mehr nach draußen an die Oberfläche, als dass sie selbst ihre Kraft einsetzte. 

Sie schlichen sich nicht durch den Ausgang nah beim Slum, der in den hohlen Baum führte, sondern den auf der anderen Seite des Tunnels. Tessina und Kosiris waren bereits draußen und hielten nach neugierigen Blicken Ausschau, während Atimis und sie hinaus kamen. 

„Danke", murmelte sie leise, als sie sich aufrappelte und den Dreck von den Kleidern klopfte. Es war bereits stockdunkel und das Zirpen der Grillen war allgegenwärtig. 

Atimis setzte sich in Bewegung und eilig folgte sie ihm. Ihr Blick hing an seinem Rücken, auch wenn sein beiges Hemd in dem trockenen, hohen Gras eine gute Tarnung war. 

Wieder einmal hatte sie der plötzlich einsetzende Sommer überrascht. Noch vor wenigen Tagen war es eiskalt und frostig gewesen, nun war es selbst nachts noch warm. Sie krempelte ihre Ärmel hoch, um für ein wenig Abkühlung zu sorgen, doch es brachte nur wenig. 

„Wir bleiben im Dickicht und halten uns in Richtung Norden", hörte sie Kosiris tiefe Stimme, begleitet von einem leisen Zischeln. 

„Wie weit ist es bis zu dem See?", fragte Atimis leise und gedämpft. Rilsa erinnerte sich, dass Kosiris sogar bis zu dem Teich von Poseidon und wieder zurück innerhalb eines Tages geschwommen war, sodass sie Hoffnung hatte, dass sie den See in ein oder zwei Stunden erreichen konnten. 

„Nicht allzu weit. Wir sollten maximal zwei Stunden brauchen", sagte Kosiris ihre Erwartung erfüllen und sie hörte, wie Atimis neben ihr erleichtert ausatmete. 

„Machst du etwa schlapp?", fragte sie und grinste in sich hinein. Atimis lachte. 

„Nicht doch, es ist nur gut zu wissen, auf was für einen Marsch man sich einstellen muss", erwiderte er, doch bevor sie noch etwas sagen konnte, wurde sie von einem wütenden Zischen von Tessina unterbrochen. 

„Haltet die Klappe! Sonst werden wir noch erwischt", zischte sie und sofort presste Rilsa die Lippen aufeinander. Atimis jedoch warf ihr einen verschmitzten Blick über die Schulter zu, doch auch er blieb stumm.

Eine ganze Weile lang waren ihre Schritte auf dem trockenen, aber hüfthohen Gras die einzigen Geräusche, bis Atimis auf einmal vor ihr stehen blieb. Beinahe wäre sie in ihn hineingelaufen, erkannte dann aber, dass auch Tessina und Kosiris stehen geblieben waren. Verwirrt sah sie sich um, denn sie konnte keinen See erkennen. 

„Schnell, runter!", sagte Atimis leise, packte ihre Hand und zog sie auf den Boden. Unsanft landete Rilsa auf dem Bauch, Atimis neben ihr. Die beiden Schlangen hielten ebenfalls die Köpfe gesenkt. 

„Was ist?", formte Rilsa mit den Lippen, doch bevor ihr jemand antwortete, hörte sie es. Ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem Keuchen. Lachen ertönte, eindeutig das der Elstern. 

„Sag schon, Mann! Wo ist er?", hörte sie eine Stimme fragen, ganz und gar nicht freundlich. Es blieb stumm, dann wurde der Mann offensichtlich wieder mit einem stumpfen Gegenstand geschlagen. Wieder keuchte er, beantwortete aber wieder nicht die Frage. 

„Ich sage es nicht noch einmal: Wo ist Atimis?", fauchte die Stimme und Rilsa spürte, wie Atimis neben ihr zusammenzuckte. Noch immer hielt er ihre Hand und unwillkürlich verstärkte sie ihren Griff. 

„Ich weiß es nicht. Er ist heute nicht zur Arbeit erschienen. Mehr weiß ich wirklich nicht", sagte eine gequält klingende Stimme. Atimis neben ihr fing heftig an zu beben, als wollte er jeden Moment aufspringen. Rilsa drückte seine Hand fester, denn er durfte sie auf keinen Fall enttarnen. 

„Er scheint wirklich nichts zu wissen", ertönte die Stimme einer Elster, tief und kehlig. 

„Für heute kommst du davon Feridis, aber wir beobachten dich. Atimis wird dringend gesucht", sagte eine andere Elster, dann folgten Schritte, die sich von ihnen entfernten. Atimis machte Anstalten, sich zu erheben, doch sofort war Kosiris bei ihm. Eindringlich schüttelte er den Kopf, während Rilsa fester seine Hand umklammerte. Atimis sah sie hilfesuchend an, doch auch sie verdeutlichte ihm mit einem Kopfschütteln, dass er in Deckung bleiben sollte, bis die Elstern verschwunden waren. 

Eine gefühlte Ewigkeit kauerten sie noch auf dem Boden, bis Tessina langsam den Kopf erhob und über das Gras hinweg sah. 

„Die Luft ist rein. Weiter", sagte sie leise und mühsam rappelten sie sich auf und folgten den beiden. Atimis jedoch wandte sich in eine andere Richtung, eben in jene, aus der die Stimmen soeben gekommen waren. 

„Atimis, bleib hier. Wir müssen weiter", raunte sie ihm zu und sah eindeutig, wie er mit sich rang. 

„Es ist mein Chef. Sie haben ihn geschlagen, ich muss ihm helfen", sagte er leise, doch Rilsa schüttelte den Kopf. 

„Nein, das geht nicht. Er darf nicht wissen, wo du bist, er darf nicht wissen, dass du dich uns angeschlossen hast", sagte sie eindringlich. Atimis sah noch einmal in die Richtung, in der vermutlich der verletzte Hohe Mensch lag, nickte dann aber. 

„Entschuldigt, ihr habt recht", sagte er mit zitternder Stimme, dann setzten sie ihren Weg fort. Rilsa spürte, wie Atimis neben ihr bebte, ganz offensichtlich wurde seine Wut soeben noch weiter geschürt. Wut war gut, solange sie nicht blind war. 

„Bald sind wir da, schätzungsweise in 20 Minuten", hörte sie Kosiris sagen und Rilsa atmete erleichtert auf. Hoffentlich würden sie den restlichen Weg ohne Zwischenfälle schaffen. 

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