Kapitel 31 - Rilsa

Rilsa spürte die Anstrengung, die das Graben in ihr verursachte. Dennoch fühlte es sich merkwürdig zufriedenstellend an. Mit jedem Stückchen Erde, das sie von der Wand lösten, gelangten sie näher an das Hauptquartier der Regierung. Immer und immer wieder sagte sie sich diesen Satz, bis ihre Arme so stark anfingen zu zittern, dass sie die Schaufel nicht mehr halten konnte. 

„Du bist erschöpft. Ruh dich einen Moment lang aus", hörte sie Tessina neben sich sagen und erst da fiel ihr wieder ein, dass sie nicht allein hier war. Sie sah zu der Schlange, die ebenfalls die Schaufel auf den Boden fallen ließ und sich wie zum Schlafen zusammenrollte. 

Rilsas Blick fiel jedoch zu dem Karren, der bereits reichlich gefüllt war mit Erde, sodass sie bald wieder zum Schacht gehen musste, um die Erde dort hinein zu befördern. 

Tatsächlich hatten sie diesen Schacht erst kürzlich entdeckt, zuvor hatten sie die abgetragene Erde heimlich nach draußen gebracht. Auch wenn das eine willkommene Möglichkeit war, ein paar Minuten frische Luft einzuatmen, war der Schacht eindeutig die sicherere. 

„Ich leere noch die Karre aus, dann mache ich auch eine Pause", sagte sie zu Tessina, die nur müde nickte, dann griff sie nach den Handstücken und hob die Karre an, sodass sie auf dem Rad vorne stand und man sie schieben konnte. Nur mit einiger Kraftanstrengung gelang es ihr, die Karre in Bewegung zu setzen, doch als sie einmal rollte, ging es leichter. 

Rilsa folgte dem wackligen Schein der Öllampe, die sie vorne an der Karre befestigt hatte und gelangte schließlich zu dem Schacht, den sie mit einem dicken Stock gekennzeichnet hatte, den sie in die Erde gerammt hatte. Hinter fielen sie noch versehentlich hinein. 

Eilig schob sie die Karre bis zum Rand und leerte sie aus. Sie lauschte dem prasselnden Geräusch, als die Erde auf dem Boden des Schachts aufkam. Es stellte sie ziemlich zufrieden, denn es klang so, als wäre darin noch jeden Menge Platz für weitere Erde. 

Plötzlich hörte sie ein Geräusch, das sie zusammenfahren ließ. Verwirrt schüttelte sie den Kopf, denn sicherlich hatte sie es sich nur eingebildet. Sie zog die Karre vom Schacht weg und wollte sich gerade abwenden, als sie es erneut hörte. 

Augenblicklich schoss ihr Puls in die Höhe und sie klammerte sich Hilfe suchend an der Karre fest. Da war es wieder! Ein scharrendes oder eher schabendes Geräusch, das von der Wand kam, die hinter dem Schacht lag. Rilsa griff nach der Öllampe und hielt sie in die Richtung, doch es war nichts zu sehen. Der Schein der Lampe flackerte, so sehr zitterte sie. 

„Hallo? Wer ist da?", rief sie, auch wenn das vollkommen dämlich war. Hier war niemand, sie konnte von hier das Ende des Tunnels gut überblicken, sodass das Geräusch von der anderen Seite der Wand kommen musste. Was wiederum bedeutete, dass hinter dem Schacht nicht wie sie bisher geglaubt hatte massives Erdreich, sondern ebenfalls ein Tunnel sein musste. Noch immer war dieses schabende Geräusch zu hören und erst da begriff sie, dass jemand von der anderen Seite ebenfalls graben musste. 

Sofort wurde sie panisch. Hatten etwa die Elstern oder die Regierung selbst mitbekommen, dass sie Tunnel gruben und waren nun unterirdisch auf der Suche nach ihnen? Panisch sah sie sich um, doch komischerweise waren ihre Füße wie festgewachsen. Sie musste weg hier, denn ganz egal, wer da von der anderen Seite grub, er würde bald zu ihr durchbrechen. 

Ihre einzige Hoffnung war, dass derjenige unaufmerksam war und in den Schacht fiel, der nur wenige Schritte von der Wand entfernt lag. Bevor sie sich zu irgendeiner sinnvollen Handlung entschließen konnte, sah sie auf einmal, wie ein winziges Loch in der Wand entstand. 

Es war ungefähr auf einem Meter Höhe und auf einmal erkannte sie, dass daraus Wasser tropfte. Erschrocken zog sie die Luft ein, denn das schabende Geräusch wurde immer lauter, bis auf einmal bis einem platschenden Geräusch ein etwa 25 Zentimeter großes Loch entstand und etwas dadurch herausfiel. 

Rilsa schrie erschrocken auf und presste sich sofort die Hand vor den Mund. Was auch immer aus dem Loch gefallen war, es war groß und lang, wie eine Schlange. Es zappelte und wand sich auf dem Boden, wie ein Fisch und erst da wurde Rilsa klar, was es war. 

Noch immer floss Wasser aus dem Loch, nun in großen Schwällen und geistesgegenwärtig sprang sie über den Schacht und bückte sich. Auf dem Boden zappelte eine Muräne, groß, braun und ziemlich gruselig. 

„Tessina!", schrie Rilsa und hoffte, dass ihre Freundin sie hörte. 

„Hilf mir", hörte sie auf einmal eine erstickte Stimme, die von der Muräne kommen musste. Rilsa zuckte zusammen, denn dass sie sprechen konnte, bedeutete, dass sie menschenähnlich war. 

„Wasser! Schnell, heb mich zurück in das Loch", keuchte die Muräne und eilig stellte Rilsa die Öllampe beiseite. Sie schob die Arme unter die Muräne, die augenblicklich aufhörte zu zappeln und Rilsa versuchte, sie hochzuheben. Sie keuchte, denn die Muräne war unerwartet schwer. Dennoch gelang es ihr, sie zurück durch das Loch zu schieben, aus dem sie gefallen war. 

Augenblicklich schlängelte sie sich hinein und verschwand in der Schwärze. Inzwischen bildete sich um Rilsas Füße eine knöcheltiefe Lache, die nur langsam in den Schacht hinein ablief, doch aus dem Loch schoss immer mehr Wasser hinaus. 

„Rilsa!", hörte sie Tessinas Stimme und wenige Augenblick später hörte sie das vertraute Zischen ihrer Freundin. 

„Hier ist Wasser hinter, was soll ich tun?", fragte sie panisch und sah zu Tessina, sie mit geweiteten Augen auf der anderen Seite des Schachts stand und ungläubig zu ihr hinüber starrte. 

„Fülle das Loch mit Erde, schnell", befahl sie und Rilsa kratzte mit bloßen Händen Erde von der Wand. Doch recht schnell wurde ihr klar, dass sie eine andere Lösung finden musste, denn so würde sie das Loch keinesfalls stopfen können. 

Auf einmal wurde der Wasserschwall aus dem Loch weniger und nur einen Augenblick später wurde ein dicker Stein von der anderen Seite in das Loch gepresst, sodass es wieder fest verschlossen war und kein Wasser mehr heraus drang. Rilsa spürte, wie das Wasser um ihre Füße in den Schacht ablief und eilig trat sie näher an die Wand heran.

„Danke! Wie... wie heißt du?", rief sie, in der Hoffnung, die Muräne könnte sie hören. 

„Jetzt hat sie vollkommen den Verstand verloren", hörte sie Tessina lauter als nötig murmeln und sofort bedachte Rilsa sie mit einem strafenden Blick. 

„Hier war eine menschenähnliche Muräne! Sie scheint genau wie wir Tunnel zu graben", erklärte sie, legte ihr Ohr wieder an die Wand und lauschte. 

„Bist du noch da?", rief sie, doch es drang kein Laut mehr zu ihr. Offensichtlich war die Muräne verschwunden. Doch auch wenn sie eben panisch gewesen war, erfüllte sie diese Erkenntnis mit Freude. 

„Tessina! Da war eine menschenähnliche Muräne, die auch einen Tunnel gräbt!", wiederholte sie und strahlte übers ganze Gesicht. Tessina schüttelte ungläubig den Kopf, doch sie hatte sich aufgerichtet und sah nun merkwürdig aufgeregt aus. 

„Du meinst...", stammelte sie, brachte den Satz aber nicht zu Ende. Bevor Rilsa antwortete, nahm sie ein wenig Anlauf und sprang über den Schacht zu ihrer Freundin. Sie sah in Tessinas Augen und sah auch in ihrem Blick die Erkenntnis, dass das eben eine bedeutungsvolle Begegnung war. 

„Ich glaube, wir haben einen neuen Verbündeten gefunden. Wir müssen ihn nur wieder finden", sagte sie und spürte, wie sehr ihre Stimme zitterte. Die Muräne schien genau wie sie einen Plan zu haben, nämlich sich unterirdisch bis zu den Regierungsgebäuden durchzugraben und vielleicht hatte sie noch mehr Verbündete, mit denen sie sich zusammenschließen konnten. 

„Das müssen wir unbedingt Kosiris erzählen!", sagte Tessina und wandte sich um, doch beinahe sofort hielt sie inne und wandte sich noch einmal um. 

„Rilsa! Ich glaube, ich habe gerade einen Geistesblitz", rief sie aus und wirkte ganz aufgeregt. 

„Was denn?", fragte sie nach, als Tessina keine Anstalten machte, weiter zu sprechen. 

„Kosiris! Er ist eine Anakonda. Das heißt, er kann schwimmen! Er könnte...", setzte Tessina an, doch Rilsa unterbrach sie. 

„Er könnte durch das Loch schwimmen und nach der Muräne suchen", beendete sie den Satz für sie und sofort nickte Tessina. 

„Los, lass uns zu ihm zurückgehen. Je schneller er der Muräne nachtaucht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er sie noch entdeckt", sagte sie und gemeinsam eilten sie davon. Vielleicht war das tatsächlich endlich einmal ein Hoffnungsschimmer, den es lohnte, zu verfolgen. 

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