Kapitel 3 - Generis
Unruhig wanderte Generis in seinem Gefängnis auf und ab. Wut war die stärkste Empfindung, die in diesem Moment in ihm umherschwappte und jeden Moment drohte, überzulaufen. Hin und wieder warf er Blicke in Richtung der Glasscheibe, die ihn von dem Rest des Hauses abgrenzte.
Jedes Mal zuckte Emevra, seine Adoptivmutter, zusammen. Komischerweise befriedigte ihn die Erkenntnis, dass sie Angst vor ihm hatte, gleichzeitig machte sie ihm schmerzlich bewusst, dass sich sein Leben womöglich für immer hinter dieser Glasscheibe abspielen würde. Frustriert schlug er gegen die weiße Wand und hinterließ eine Kuhle in dem harten Beton. Emevra schrie auf und wieder einmal sah er durch die Glasscheibe zu ihr. Sie saß am Tresen, der die Küche vom Wohnbereich abgrenzte und nippte an irgendeinem Getränk.
Ihr Mann Ethonis, sein Adoptivvater, war noch nicht zurück ins Haus gekommen, sondern er erteilte der neuen Gärtnerin Befehle. Das konnte Ethonis wirklich gut, Befehle erteilen. Aus dem Augenwinkel sah Generis, wie Emevra sich erhob, ihren Becher in die Hand nahm und zu ihm an die Glasscheibe trat.
Sein Gefängnis, oder sein „Zimmer", wie Ethonis und Emevra es nannten, war ein vom Wohnbereich durch eine Glasscheibe abgetrennter Bereich. Tatsächlich war er recht großzügig, zumindest im Vergleich zu seinem Zimmer im Labor, aber wirklich frei war er hier nicht. Er wandte sich von Emevra ab, die sich wenige Zentimeter vor die Glasscheibe stellte, die er auch mit größter Kraftanstrengung nicht würde zerbrechen können. Generis ging zu seinem Bett aus Stroh und buddelte sich ein. Er ertrug es nicht mehr lange hier drin, das war ihm klar, aber er kannte keinen Ausweg aus dieser Lage.
Seit knapp zwei Jahren lebte er nun hier in diesem riesigen Haus, das von einem noch viel riesigeren Garten umgeben war. Ethonis und Emevra, zwei angesehene Hohe Menschen hatten ihn, einen Gorilla-Jungen aus dem Labor adoptiert. Zunächst war Generis zuversichtlich, dass er hier ein besseres Leben haben würde, denn im Labor wurde ihm erzählt, dass diejenigen, die von Hohen Menschen adoptiert wurden, viele Freiheiten und immer genug zu Essen haben würden. All das waren Lügen und er hatte es auf die harte Tour lernen müssen. Schon bei seiner Ankunft hatte er bemerkt, dass Emevra Angst vor ihm zu haben schien. Wenn er im Garten herumgerannt war, hatte sie sich immer hilfesuchend an Ethonis geklammert, der jedoch mit ihm als Sohn ziemlich zufrieden wirkte. Immerhin galt es unter den Hohen Menschen als angesehen, ein Tier zu adoptieren. Allerdings war das alles nur Fassade, denn in Wahrheit fristeten die meisten Tiere ein tristes Dasein, genau wie er selbst. Generis schnaubte und versuchte, sich zurück ins Hier und Jetzt zu holen.
Er war gereizt und hungrig, denn auch wenn schon Abend war, hatte Emevra es nicht für nötig befunden, ihm etwas zu Essen zu bringen oder ihn nach draußen zu lassen. In seinem Zimmer, das ausschließlich weiß gestrichen war, gab es kein Fenster. Abgesehen von der Glasscheibe, durch die er in den Wohnbereich und die Küche sehen konnte. Den ganzen Tag hatte er noch kein Sonnenlicht gesehen, was ihn ziemlich frustrierte. Missmutig rollte er sich enger in seinem Bett zusammen und schloss die Augen. Vielleicht würde Ethonis heute gut gelaunt sein und sich ein wenig mit ihm unterhalten.
„Generis", riss ihn eine schrille, nur allzu verhasste Stimme aus seinen Gedanken und eilig sprang er auf. Emevra stand noch immer an der Glasscheibe, umklammerte mit zitternden Fingern ihren Becher und sah abwechselnd zu ihm und in Richtung der Gartentür. Ethonis musste im Garten sein, denn dort beaufsichtigte er die engagierten Gärtnerinnen, die die Felder für ihn bewirtschafteten und seine Blumen in Schuss hielten.
„Generis, komm hier her", befahl Emevra und gehorsam erhob er sich und ging in Richtung der Glasscheibe. Er hielt etwas Abstand, denn allein sein Näherkommen ließ Emevra erzittern.
„Ethonis sagt, du kannst in den Garten", sagte sie und hielt ihr kleines Mobilgerät in die Höhe. Darauf zu erkennen war Ethonis, der anscheinend live dazugeschaltet war.
„Generis, mein Junge. Komm doch zu uns in den Garten", sagte Ethonis Stimme durch das Gerät, welche er durch die Glasscheibe nur gedämpft hörte. Etwa auf Bauchhöhe waren in der Glasscheibe eine Reihe von etwas handtellergroßen Luftlöchern eingelassen, durch die er manchmal etwas zu Essen zugesteckt bekam, wenn Emevra nicht hinsah.
„Danke", sagte er zu Ethonis, dann sah er fragend zu Emevra, die sich jedoch keinen Millimeter rührte. Damit er hinaus in den Garten gehen konnte, musste sie die Tür in der Glasscheibe öffnen. Langsam ging er zur Tür, um ihr zu zeigen, dass sie keine Angst vor ihm haben brauchte. Sicherlich lag es nicht in seiner Absicht, ihr wehzutun, aber diese Frau machte ihn rasend. Ihre herablassende, beinahe schon verachtende Art und die Tatsache, dass sie ihn hungern ließ, wenn Ethonis nicht im Haus war, trieben ihn noch in den Wahnsinn.
„Ethonis, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Er war eben ganz unruhig", hörte er Emevra sagen. Generis ballte die Hände zu Fäusten und atmete tief ein und aus. Er musste sich beherrschen, wenn er nach draußen wollte.
„Lass ihn nach draußen kommen", sagte Ethonis durch das Mobilgerät, dann hörte er das leise Klicken, das bedeutete, dass Emevra das Gespräch beendet hatte. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie langsam näher zu Tür kam. Sie war ängstlich, was ihn seltsam befriedigte. „Du wirst ganz ruhig sein, habe ich recht, Gorilla?", fragte Emevra, während sie den Schlüssel in das dicke Schloss der Tür schob. Generis juckte es in den Fingern, sich in seiner vollen Größe vor ihr aufzubauen und sie anzubrüllen, doch er hielt sich zurück. Gleich würde er rennen und so seinen Frust abbauen können.
„Ja, du brauchst keine Angst vor mir haben", sagte er ruhig, doch allein beim Klang seiner Stimme zuckte sie zusammen. Eilig schloss sie die Tür auf und öffnete sie. Ihm entging nicht dass sie sie schützend vor sich hielt. Generis riss sich zusammen und ging durch die Küche ins Wohnzimmer. Es war alles in weiß eingerichtet, sogar das riesige Sofa. Alles hier wirkte steril und wenig heimisch, allein der Garten gefiel ihm. Er ging an dem Sofa vorbei und öffnete die Gartentür.
Sofort schien ihm die warme Sonne ins Gesicht, auch wenn es draußen noch eisig kalt war. Beinahe enthusiastisch rannte er nach draußen in den parkähnlichen Garten. Das Gras unter seinen Füßen zu spüren fühlte sich unendlich gut an, auch wenn es gefroren war. Generis rannte bis zur Begrenzung des Gartens, einer riesigen Hecke, in der sich ein Elektrozaun verbarg.
„Generis, mein Junge!", hörte er Ethonis rufen und eilig wandte er sich zu der Stimme seines Adoptivvaters um. Er war ein wohlbeleibter Mann, doch sein dunkles Haar und die dunklen Augen ließen ihn attraktiv erscheinen. Zumindest für einen Menschen. Er hob die Hand über den Kopf und winkte ihn zu sich heran. Generis gehorchte seiner Aufforderung und lief über die Wiese zu ihm, bis er ihn erreichte.
Er stand vor dem Eingang zum Blumengarten, einem überdachten, riesigen Bereich, in dem jede Menge Blumen in den unterschiedlichsten Farben blühten. Es war wie ein Gewächshaus, wodurch die Blumen auch im Winter prächtig blühten. Erst als er vor Ethonis stehen blieb, bemerkte er ein Mädchen neben ihm. Sie versteckte sich halb hinter ihm und hielt einen Korb gefüllt mit Leckereien in den Händen. Generis lief das Wasser im Mund zusammen und gierig griff er nach dem Korb und riss ihn dem Mädchen aus den Händen. Sie machte ein überraschtes Geräusch, lachte dann aber.
„Hast du Hunger?", fragte sie, was ihr einen strafenden Blick von Ethonis einhandelte. Generis hielt inne und starrte sie an, denn normalerweise erlaubte Ethonis seinen Gärtnerinnen nicht, mit ihm zu sprechen. Ähnlich wie Emevra hielt er ihn anscheinend für gefährlich, dabei würde er keiner Fliege etwas zuleide tun, wenn man ihn nur anständig behandeln würde.
Erst als er sie genauer ansah, bemerkte er, dass sie älter war, als er zunächst gedacht hatte. Er schätzte sie auf achtzehn oder neunzehn. Sie war zierlich und trug um ihren Arm einen blauen Armreif mit einer Kennzeichnung darauf. Sie war ein Niederer Mensch, der in einer Verbundgemeinschaft lebte. Generis neigte den Kopf nach unten, um ihr zu zeigen, dass sie keine Angst vor ihm haben brauchte. Als er nach wenigen Sekunden den Kopf wieder hob, erwiderte sie diese Geste des gegenseitigen Respekts. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, doch dann spürte er den festen Händedruck seines Adoptivvaters auf seiner Schulter.
„Generis liebt es, ihm Garten herumzurennen, da kann er all seine angestaute Energie rauslassen", erklärte Ethonis, allerdings zeigte sein Ton ganz eindeutig, dass er es überhaupt nicht gut fand, wie das Mädchen auf ihn reagiert hatte. Die meisten Gärtnerinnen ignorierten ihn, was ihn eigentlich nicht weiter störte. Aber sie war anders. Sein Blick hing noch immer auf ihrem hübschen Gesicht. Sie hatte jede Menge Sommersprossen um die Nase und ihr Haar war von einem schönen, hellen braun. Ihre Augen waren leuchtend blau, was ungewöhnlich für Niedere Menschen war. Alle, denen er bisher begegnet war, hatten blasse, wässrige Augen.
Das Mädchen erwiderte seinen Blick und er wusste, dass sie ihn nicht nur als den Gorilla-Jungen sah, der weniger wert war als Menschen. Bevor er es verhindern konnte, streckte er die Hand nach ihrer aus und drückte sie sanft.
„Oh", stieß sie aus, erwiderte dann aber den Händedruck.
„Ich bin Laskina", sagte sie und nickte ihm zu.
„Generis, lass sie los. Geh dich austoben, sie hat noch viel zu arbeiten", zerstörte Ethonis den Moment und sofort ließ Laskina seine Hand los.
„Entschuldigung, ich mache mich sofort wieder an die Arbeit", sagte sie und wuselte davon. Ethonis sah ihr nach, wie sie im Gewächshaus verschwand und das Unkraut zwischen den Blumen jätete. Anschließend wanderte sein Blick wieder zu ihm. Generis hielt ihm stand und erwiderte ihn fest, doch dann schüttelte Ethonis langsam den Kopf.
„Du weißt, dass du nicht mit den Gärtnerinnen sprechen sollst", sagte er, als wäre es wirklich etwas Schlimmes, sich mit ihnen zu unterhalten.
„Entschuldigung, ich dachte nur, weil sie bei dir stand...", stammelte Generis, doch Ethonis gab nur einen genervten Seufzer von sich.
„Sie hat dir dein Essen gebracht, das ist alles", sagte er schulterzuckend, doch irgendetwas in seiner Stimme ließ ihn aufhorchen. Vielleicht war ihm auch Laskinas ungewöhnliche Schönheit aufgefallen. Generis nickte, sah dann zu dem Korb, den er noch immer in seiner Hand hielt und sog den verlockenden Duft der Früchte ein. Er nahm sich etwas daraus und gierig fing er an zu essen.
Eine Weile ließ Ethonis ihm essen, doch dann machte er durch ein Räuspern auf sich aufmerksam.
„Generis, wir müssen uns unterhalten", sagte er ernst, machte eine Kopfbewegung, dass er ihm folgen sollte und setzte sich in Bewegung. Generis folgte ihm durch den Garten, bis sie an einem etwas abseits gelegenen Baum stehen blieben.
„Emevra hat mir berichtet, dass du heute äußerst unausgeglichen warst", sagte er, was ihn ungläubig den Kopf schütteln ließ. Ihm war klar, dass Ethonis dem Wort seiner Frau mehr glauben würde als dem seinen.
„Sie hat mir das Essen verweigert, das hat mich frustriert", erklärte er, doch Ethonis schüttelte langsam den Kopf.
„Du musst deine animalischen Instinkte unterdrücken. Ich weiß, es ist schwer, aber sonst kannst du nicht mehr nach draußen", fuhr Ethonis fort und auch wenn seine Worte eine unbändige Wut in ihm auslösten, nickte Generis. Inzwischen wusste er, dass Ethonis ihn mehrere Tage einsperren würde, wenn Emevra es verlangte, also bemühte er sich, Ethonis Spielregeln einzuhalten.
„Entschuldigung", sagte er noch einmal, dann nickte Ethonis und entfernte sich von ihm.
„Du kannst dich auf dem Feld satt essen", rief Ethonis, dann verschwand er wieder in Richtung der Felder, auf dem sicherlich noch einige Gärtnerinnen arbeiteten. Generis sah ihm nach, bis er ihn nicht mehr sah, dann lief er los. Er wirbelte herum, sprang und rollte sich auf dem Boden. Es machte ihm Spaß und konnte sie seine angestaute Energie rauslassen.
Eine ganze Weile tollte er herum, bis er von einem schüchternen Lachen zurück in die Realität geholt wurde. Erst als er aufsah bemerkte er, dass er wieder am Blumengarten angelangt war, wo Laskina arbeitete. Sie lächelte ihn an, kleine Grübchen in den Wangen. Verlegen senkte Generis den Blick und wandte sich ab.
„Entschuldige, wenn ich dich in Schwierigkeiten gebracht habe", sagte Laskina, was Generis den Kopf herumreißen ließ.
„Nein, hast du nicht. Ich...", setzte er an, sah sich dann aber suchend um. Er wollte nicht dabei erwischt werden, wie er verbotenerweise doch mit Laskina sprach.
„Ich darf eigentlich nicht mit den Gärtnerinnen sprechen", erklärte er, woraufhin Laskina verwirrt die Augenbrauen zusammenzog.
„Warum nicht?", fragte sie, doch Generis hatte darauf keine Antwort.
„Ethonis will es so", antwortete er nur, was Laskina leise seufzen ließ. Plötzlich ertönte eine leise, aber doch eindringliche Melodie, die das Ende des Arbeitstages verkündete. Laskina sah sich suchend um und genau in diesem Moment erblickte er Ethonis, der auf sie zukam. Eilig wandte er sich von Laskina ab und rannte wieder durch den Garten. Er wollte ihr keinen Ärger machen, denn er wusste, dass sie sicherlich diese Arbeit brauchte, um sich etwas zu essen kaufen zu können. Dennoch spürte er Ethonis eindringlichen Blick auf sich, so als ahnte er, dass er noch einmal mit Laskina gesprochen hatte.
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