Kapitel 23 - Rilsa

Rilsa spürte, wie die körperliche Anstrengung ihr eine angenehme Befriedigung verschaffte. Schon seit einigen Stunden grub sie an der Seite von Tessina und Kosiris, die sich hin und wieder leise miteinander unterhielten. Auch wenn Rilsa neugierig war, hörte sie nicht hin. Sie wollte die eindeutig bestehende Anziehungskraft zwischen den beiden nicht zerstören. Dennoch warf sie ab und zu Blicke zu den beiden Schlangen, die sich jedes Mal verliebt ansahen. Rilsa lächelte, rammte aber gleichzeitig ihre Schaufel fest in die harte Erde. Sie freute sich für die beiden, aber auch sie sehnte sich nach Zweisamkeit. 

Tessina und die Mädchen waren eine angenehme Gesellschaft, aber dennoch verlangte es sie nach einem Partner. Jemandem, der sie in den Arm nahm, ihr durch Haar strich und sie berührte. Unwillkürlich entfuhr ihr ein Seufzen. 

„Rilsa?", fragte Tessina verwirrt und riss sie so aus ihren Gedanken. Eilig sah Rilsa sich um und als sie bemerkte, dass die beiden Schlangen sie fragend ansahen, senkte sie verlegen den Blick. 

„Es ist nichts", sagte sie und machte sich wieder an die Arbeit, doch Kosiris warf mit einem lauten Scheppern seine Schaufel auf den Boden. 

„Ich finde, wir haben uns eine Pause verdient. Ich besorge etwas zu essen", sagte er entschieden und ohne länger darüber nachzudenken nickte Rilsa. 

„Ich begleite dich", rief Tessina aus, legte ihre Schaufel neben seine und grinste über das ganze Gesicht. 

„Gut, seid vorsichtig. Ich grabe noch etwas weiter", erwiderte Rilsa, woraufhin sich Kosiris und Tessina in Richtung das Haupttunnels bewegten. Sie glitten beinahe lautlos und Tessina konnte sich mit ihren braunen Farben unheimlich gut tarnen. Einen Moment lang sah sie ihren Gefährten nach, dann hob sie erneut die Schaufel und hob weiter den Tunnel aus.

Dieser hier sollte direkt zum Regierungsgebäude führen, auch wenn sie dafür noch so einige Kilometer weit graben mussten. Aber auch kleine Schritte zum Erfolg waren genau das: Schritte zum Erfolg. Den sie hoffentlich haben würden, wenn es Tessina und Kosiris gelang, noch mehr Leute für ihre Sache zu gewinnen. 

Rilsa schippte weiter Erde in den Karren, in dem sie die Erde abtransportierten und ziemlich schnell füllte er sich. 

„Rilsa!", riss sie auf einmal eine schrille, panische Stimme aus ihrer routinierten Arbeit und sofort hielt sie inne. Es war eindeutig Tessina gewesen, die ihren Namen gerufen hatte. Eilig schmiss sie die Schaufel weg und rannte in die Richtung, aus der ihre Stimme gekommen war. 

„Tessina, was ist geschehen?", rief sie ihr entgegen, denn in der Dunkelheit des Tunnels konnte sie sie nicht erkennen. Auf einmal stieß sie mit etwas zusammen und keine Sekunde später schlängelte Tessina sich über ihr Bein und ihren Rumpf bis hoch zu ihren Schultern, sodass ihr Kopf ganz nah an ihrem Ohr lag. 

„Die Mädchen, sie sind... krank", sagte Tessina voller Angst und Rilsa rannte so schnell sie konnte in Richtung des Lagers. Ihre Gedanken rasten ebenso wie ihr Herz. 

In wenigen Sekunden erreichte sie das Lager und entdeckte Kosiris, der sanft mit der Schwanzspitze abwechselnd über die Köpfe der Mädchen strich. Sie lagen auf dem Boden, bleich und schweißüberströmt. 

„Was ist mit ihnen?", fragte sie und stürzte auf die Knie. Ihre Hand für über die blassen Wangen, die alle eiskalt waren, aber zu ihrer Erleichterung hörte sie die rasselnden Atemzüge der Mädchen. 

„Sie scheinen vergiftet worden zu sein", bestätigte Kosiris ihre Befürchtung. 

„Vergiftet? Wie konnte das passieren? Wir haben alle das gleiche gegessen und uns geht es gut", stieß sie aus und überlegte panisch, was sie tun sollte. Sie hatten keinerlei Medizin und sie hatten auch keine Möglichkeit, sich welche zu beschaffen. Rilsa bemerkte, wie Tessina aufgeregt um die Mädchen schlängelte, bis sie auf einmal innehielt. 

„Die Erdbeeren. Sie haben die Erdbeeren gegessen", sagte sie schockiert und erst da wurde Rilsa bewusst, dass sie die verlockend aussehenden Früchte zwar zur Seite getan, aber nicht entsorgt hatte. 

„Oh nein", flüsterte sie beugte sich über Dufina, die genau in diesem Moment hustete und eine schwarze Flüssigkeit hervorwürgte. 

„Rilsa, du musst nach draußen und Medizin besorgen. Du bist am ähnlichsten zu den Niederen Menschen, vielleicht geben dir die Elstern etwas", schrie Tessina sie an und sofort war Rilsa auf den Beinen. Ihr war klar, dass sie irgendetwas tun musste und das war ihre einzige Chance. 

Sie nickte und sprintete los, ohne wirklich einen Plan zu haben. Sie wusste, dass ganz in der Nähe ein Menschenslum war. Getrieben von Angst um diese kleinen, unschuldigen Wesen lief sie bis zum Ausgang, der in den hohlen Baum führte. Ihre Hände zitterten heftig, als sie sich an dem Seil nach oben zog und schließlich in dem hohlen Baumstamm stand. 

Auch wenn sie am liebsten nach draußen gestürmt wäre, zwang sie sich einen Moment lang zur Ruhe. Sorgfältig spähte sie nach draußen durch das Astloch und horchte, ob sie irgendwelche Geräusche hörte. Doch es war alles still und sie erkannte die aufgehende Sonne. Es musste Morgen sein, sodass noch viele Niedere Menschen zu Hause waren. Die Luft war rein, also quetschte sie sich durch den winzigen Spalt hinaus ins Freie. 

Sofort umfing sie der eisige Wind und sie schlang die Arme um sich. Mühsam setzte sie sich in Bewegung und steuerte auf den Zaun zu, der zum Slum führte. Sie musste sich hineinschleichen, denn wenn sie von draußen hineinwollte, würden die Elstern wissen, dass sie nicht von hier war. 

Durch das hohe, eiskalte Gras lief sie bis zum Zaun und suchte fieberhaft nach einem kleinen Loch, durch das sie hineinschlüpfen konnte. Tatsächlich fand sie es relativ schnell und stieg hindurch. Als sie sich aufrichtete, fand sie sich hinter einem der Wohnhütten wieder und sie beschloss, noch ein wenig an der Innenseite des Zauns entlang zu gehen, damit sie mitten im Slum auftauchte. Bemüht bewegte sie sich so flüssig es ging und sie blinzelte hin und wieder, damit sie es gleich nicht vergaß. Ihr Herz raste und sie fing an zu zittern, bis sie an eine Stelle gelangte, von der aus sie ohne Gefahr auf den Weg stolpern konnte. Sie tat es und fuchtelte wild mit den Armen. 

„Hilfe!", schrie sie aus voller Kehle und sofort entdeckte sie zwei Elstern, die sich aus den Schatten lösten. 

„Ich brauche Hilfe! Meine Kinder, sie sind vergiftet worden!", schrie sie und eilte auf die Elstern zu. Diese kamen auf zu ihr, die Gesichter unter den Tüchern verborgen, sodass sie keinerlei Gefühlsregung erkennen konnte. 

„Bitte", flehte sie und hetzte die letzten Schritte auf die Elstern zu. 

„Vergiftet?", fragte einer der beiden und sah sie eindringlich an. Rilsa blinzelte. 

„Aber ja! Sind liegen reglos auf dem Boden und würgen schwarze Flüssigkeit heraus. Bitte helft mir", flehte sie, fiel vor ihnen auf die Knie und sah sie so flehend an, dass selbst die schwarzen Herzen der Elstern weich werden mussten. Zumindest hatte sie das gedacht, denn mehrere Sekunden vergingen, ohne dass sie irgendwie auf sie reagierte. 

„Bitte, ich brauche Medizin. Sie sterben", sagte sie und hörte, wie ihre Stimme beim letzten Wort brach. Denn das würden die Mädchen ohne Medizin zweifelsfrei. Wenn die Hohen Menschen Lebensmittel vergifteten, dann nicht, damit man Bauchschmerzen bekam, sondern sie wollten einen umbringen. Noch einen Moment lang starrten die Elstern sie an, nur um sich ohne ein weiteres Wort abzuwenden.

 „Nein, bitte geht nicht weg. Ich flehe euch an, gebt mir Medizin! Ich tue alles", bettelte sie weiter, woraufhin eine der Elstern sie noch einmal über die Schulter hinweg ansah. 

„Verschwinde. Es gibt keine Medizin", sagte die Elster eiskalt, dann zogen sie sich wieder auf ihre Wachposten am Rande des Weges zurück. Rilsa blieb einen Moment lang regungslos stehen, dann eilte sie ihnen nach. Sie hatte keine andere Möglichkeit. 

„Ich flehe euch an, bitte gebt mir Medizin", schrie sie verzweifelt, doch die Elstern ignorierten sie vollkommen. Auf einmal sah sie im Augenwinkel eine Bewegung und riss unwillkürlich den Kopf herum. Sie sah einen jungen Mann, eindeutig ein Niederer Mensch. Er trat aus seiner Hütte, durchquerte den kleinen Garten und winkte ihr. 

„He du", rief er und es war klar, dass er sie meinte. Rilsa warf noch einen Blick zu den Elstern, die jedoch in den Schatten verschwunden waren. Zögerlich ging sie auf den Mann zu, der hinter dem hüfthohen, geschlossenen Gartentürchen stand. 

„Ich habe Medizin für Vergiftungen", sagte er und erst da bemerkte sie, dass er ein kleines Fläschchen mit einer durchsichtigen Flüssigkeit darin in den Händen hielt. 

„Wir brauchen es nicht mehr. Bitte nimm es für deine Kinder", sagte er und hielt ihr auffordernd das Fläschchen hin. Rilsa griff danach, wobei ihre Finger die seinen berührten. Einen Moment lang sah sie ihm tief in die Augen, um eine mögliche List zu erkennen. Allerdings wirkten seine blassen, blau-grauen Augen vollkommen aufrichtig. 

„Diese Medizin hat auch mich geheilt", fuhr er fort, zog anschließend seine Hand zurück und nickte ihr zu. 

„Danke", hauchte sie und spürte, wie sich ihre Finger fest um die rettende Medizin klammerten. 

„Na los, geh schon", forderte der Mann und scheuchte sie mit einer Handbewegung davon. Rilsa zögerte keine Sekunde mehr, sondern rannte davon. Sie hetzte den Weg entlang, bis sie wieder zwischen den Hütten verschwand und durch das Loch in dem Zaun schlüpfte. Sie rannte so schnell sie konnte zu dem hohlen Baum, stolperte mehr durch die Öffnung hinunter in die Tunnel und rannte zum Lager. 

„Ich habe Medizin", schrie sie beinahe und stürzte zu den Mädchen. Allerdings bemerkte sie, dass niemand etwas sagte. Ihr Blick fiel zu den Mädchen, die nebeneinander auf dem Boden lagen, die Köpfe auf Kosiris starkem Körper gebettet. Er strich jedem Kind mit der Schwanzspitze über das Gesicht und erst da begriff sie, dass er ihre Augen schloss. Rilsa öffnete das Fläschchen und zog etwas der Flüssigkeit darin in die Pipette, die am Deckel befestigt war. 

„Es ist zu spät. Sie sind tot", sagte Kosiris leise und brummend und doch schienen sich seine Worte in ihr Hirn zu bohren. 

„Nein, das darf nicht passiert sein. Ich habe doch die Medizin", sagte sie panisch, öffnete Dufinas Mund und träufelte etwas von der Flüssigkeit hinein. Es passierte nichts. Das Kind reagierte nicht darauf. Mit heftig zitternden Fingern probierte sie es auch bei den anderen beiden, aber keines der Mädchen zeigte irgendeine Reaktion. Das durfte nicht passiert sein. Sie durften nicht tot sein. Ihr ganzes Leben lag doch noch vor ihnen. 

„Nein, nein, nein", murmelte Rilsa, träufelte noch einige Tropfen in die reglosen Münder in der Hoffnung, dass sie sich wieder rührten. 

„Rilsa", sagte Kosiris mahnend und wickelte seine Schwanzspitze um ihr Handgelenk. 

„Es ist zu spät. Sie sind fort und kommen nicht zurück", sagte er eindringlich, ließ sie wieder los und glitt von den Mädchen weg, sodass ihre Köpfe sanft auf den Boden fielen. Keines regte sich. 

Rilsa fing heftig an zu beben und bevor sie wusste, was passierte, brach sich ein Schrei aus ihrer Kehle. Sie beugte sich über die Mädchen und tastete nach ihrem Herzschlag, doch da war nichts. Sie spürte, Kosiris und ach Tessina sich um sich schlangen, um ihr Halt zu geben, doch sie nahm es nur am Rande wahr. Sie war erfüllt von Trauer um diese kleinen, unschuldigen Wesen. 

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