Kapitel 15 - Rilsa

Schweißgebadet und mit rasendem Herzschlag schreckte Rilsa hoch. Sie keuchte, wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn und sah sich in dem dunklen, stickigen Raum um. Es war vollkommen ruhig, nur das Geräusch gleichmäßiger Atemzüge und Tessinas vertrautes, leises Zischeln war zu hören, das sie immer machte, wenn sie schlief. 

Allmählich beruhigte sich Rilsas Atem wieder und sie legte sich zurück in ihr Bett. Sie wusste gar nicht so recht, was sie aufgeweckt hatte, doch eines wusste sie ganz sicher: Einschlafen konnte sie nun nicht mehr. Sie drehte sich noch einmal auf die Seite, aber sie war viel zu aufgewühlt. 

Unweigerlich wanderten ihre Gedanken an den vergangenen Tag und sie spürte, wie sie erzitterte. Loris und Bregis waren tot, nur weil sie sie angestachelt hatte, den Angriff der Regierung auf unschuldige Menschen verhindern zu wollen. Es war von Vornherein ein Himmelfahrtskommando gewesen, aber nun war es zu spät. Die beiden waren tot und würden nicht wieder zurückkehren. Sie waren fort, unwiderruflich und endgültig. 

Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken und wie automatisiert setzte sie sich wieder auf. Sie musste weg hier, raus aus der erstickenden Dunkelheit. Mit einem Ächzen stand sie auf und tastete sich langsam in die Richtung, in die sie den Ausgang vermutete. Ihre Hände wanderten über die Erde und schließlich fand sie den kleinen, kaum merklichen Schlitz, aus dem sie hinaus in die Tunnel gelangte. Gerade als sie sich hindurchschob, ließ sie ein Zischen innehalten. 

Ihr Kopf schnellte herum und sie vermutete Tessina, die ihr Verschwinden bemerkt hatte. Nicht zum ersten Mal verfluchte sie die erstickende Schwärze in den Tunneln. 

Sie glitt zurück in das Lager und tastete nach der erloschenen Öllampe, die sie schließlich neben ihrem Feldbett fand. Mit geübten Fingern zündete sie den Docht an und starrte einen Moment lang in die gleißend helle Flamme. 

Wieder ertönte das Zischen und sie stolperte zu Tessinas Erdhöhle. 

„Tessina", flüsterte sie, um die Mädchen nicht aufzuwecken und hielt die Lampe näher an die Schlange heran. Es dauerte einen Moment lang, bis Rilsa die braune Schlange in der ebenso braunen Erde ausmachen konnte, aber als sie sah, dass ihr Kopf ruhig auf ihrem eingewickelten Körper lag und sie sich nicht rührte, erschauerte sie. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf und panisch sah sie zum Ausgang. Wieder ertönte das Zischen, das sich auf einmal viel näher anhörte. Panisch sah sie zu Tessina, die noch immer schlief. Von ihr war dieses Geräusch eindeutig nicht gekommen. 

„Tessina", sagte sie, Angst in ihrer Stimme. Endlich wachte sie auf und schüttelte verwirrt den Kopf. 

„Was ist...", setzte Tessina an, doch sie wurde von dem immer lauter werdenden Zischen unterbrochen. Sofort richtete Tessina sich auf und sah sie eindringlich an. 

„Bleib hier bei den Mädchen", flüsterte sie, dann schlängelte sie sich in Richtung des Spalts. Kaum merklich kroch sie hindurch und eilig folgte Rilsa ihr soweit, dass sie einen Blick durch den Spalt hinaus in den Gang werfen konnte. 

Tessina zischte und glitt zielstrebig in die Richtung, aus der das andere Zischen kam. Rilsas Herzschlag beschleunigte sich und für einen Moment glaubte sie, von dem Rauschen ihres Blutes ohnmächtig zu werden, bis sie auf einmal Tessinas Stimme hörte. Sie rief ihren Namen und panisch versuchte Rilsa, irgendeine Emotion in ihrer Stimme ausmachen zu können. Hatte sie Angst? 

Rilsa zwängte sich hinaus in den Gang und rannte Tessina nach. Der Lichtkegel der Öllampe flackerte unruhig hin und her, bis sie auf einmal Tessina entdeckte. Sie hatte sich aufgerichtet und sah ihr entgegen. Rilsa kniff die Augen zusammen, um ihren Gesichtsausdruck zu erkennen, bis sie auf einmal innehielt. 

Tessina grinste. Zwar sah es teuflisch und verschlagen aus, aber sie grinste. 

„Tessina, was...", setzte Rilsa an, doch bevor sie es aussprach, erkannte sie, was Tessina entdeckt hatte. 

Aus den Schatten löste sich eine riesige Schlange. Rilsa konnte nur gerade so einen Schrei unterdrücken, denn wenn sie richtig schätzte, musste diese Schlange knapp sieben Meter lang sein. Ihre schwarze Zunge schoss aus dem Maul hervor, als sie sich trotz ihrer Größe unerwartet elegant näher auf sie zu bewegte. 

„Das ist Kosiris, eine Anakonda", stellte Tessina den Neuankömmling vor und irgendwie klang sie stolz oder... anhimmelnd? Rilsa senkte den Kopf als Geste des Respekts, welche die Anakonda erwiderte. 

„Du bist Rilsa", stellte Kosiris fest, woraufhin Rilsa nickte. 

„Wie hast du uns gefunden?", fragte sie, woraufhin Kosiris noch näher auf sie zu kam. Offensichtlich war er friedlich, denn er hätte sie sicherlich innerhalb weniger Sekunden zerquetschen können. 

„Es war ein Zufall", sagte er mit seiner tiefen, durchdringenden Stimme, doch Rilsa blieb skeptisch. Soweit sie wusste, lebten Anakondas im Wasser, wovon in dieser Gegend weit und breit keines war. 

„Du musst von weit her kommen", bemerkte sie und sofort nickte er. 

„Gewiss, aber was ist schon weit, wenn man auf der Flucht ist?", fragte er abgeklärt. Rilsa spürte, dass er weise und gerissen war, genau wie Tessina. 

„Du bist auf der Flucht?", fragte Tessina, was Kosiris mit einem Nicken beantwortete. 

„Schon seit einiger Zeit. Einst lebte ich in einem Tümpel, weit südlich, doch vermag ich nicht zu sagen, wie lange ich schon von zu Hause fort bin. Wir, meine Familie und ich wurden überfallen von einer Gruppe Hoher Menschen, die uns töten wollten", berichtete er und Rilsa spürte, dass seine Stimme sie vollkommen einnahm. Sicherlich konnte er gut Geschichten erzählen, aber sie glaubte ihm. Genau wie er waren sie alle Ausgestoßene, was für einen Grund sollte er haben, sie anzulügen. 

„Warum wollten sie euch töten?", fragte Rilsa, was Kosiris langsam den Kopf schüttelte. 

„Einer Androidin wie dir vermag es nicht vorstellbar zu sein, aber Hohe Menschen gieren nach Dingen, die ihnen nicht zuteil sein sollten", sagte er kryptisch, was Rilsa verwundert die Stirn runzeln ließ. Sie wusste nicht, was er meinte und fragend wanderte ihr Blick zu Tessina. Als sie ihren Blick sah, zuckte sie zusammen, denn Tessinas Augen schienen in der Dunkelheit zu glühen. 

„Fleisch. Sie wollen sein Fleisch und seine Haut", sagte sie tonlos und sofort lief es Rilsa eiskalt den Rücken hinunter. 

„Sie... sie wollten euch...", stammelte sie, doch sie konnte es nicht aussprechen. Sie wusste, dass es Legenden gab, dass Hohe Menschen Fleisch von anderen Lebewesen aßen, aber niemals hätte sie geglaubt, dass das nicht nur eine Legende war. Ihre Kehle wurde eng und sie musste würgen. 

„Das ist widerwärtig", kommentierte Tessina und spuckte aus. 

„Aus meiner Familie ist niemand mehr übrig, nur ich konnte fliehen. Seitdem versuche ich stets, mich von Hohen Menschen fernzuhalten, aber es wird immer schwerer. Sie scheinen sich wie Unkraut auszubreiten", sagte er, vollkommen emotionslos. Rilsa spürte jedoch, dass das nur eine Fassade war. In ihm brodelte es, genau wie in ihr und Tessina und genau wie es auch in Loris und Bregis gebrodelt hatte. 

„Nun, um mein Erscheinen zu erklären: Ich fand einen Spalt in einem Baum, der mir als ein willkommener Rastplatz erschien und ehe ich wusste, wie mir geschah, landete ich hier unten in euren Tunneln", beendete er seine Geschichte und senkte beinahe wehmütig den Kopf. 

„Verzeiht mein plötzliches Auftauchen, aber schon sehr lange habe ich keine anderen meiner Art mehr gesehen", sagte er und für eine Sekunde huschte sein Blick zu Tessina, die beinahe verlegen den Blick senkte. 

Rilsas Gedanken fingen an, wild durcheinander zu wirbeln. Kosiris schien genau wie sie einen Gram gegen die Hohen Menschen und somit vermutlich auch gegen die Regierung zu hegen, was sie ohne Zweifel zu Verbündeten machte. Rilsa suchte Tessinas Blick und als sie ihn fand, nickte ihre Freundin. 

„Wenn du möchtest, kannst du dich uns anschließen. Wir nennen uns Der Untergrund", setzte Rilsa an, doch auf einmal lachte Kosiris. 

„Ich dachte schon, du fragst nie", sagte er unerwartet locker, schlängelte um ihre Beine und schließlich hinauf auf ihre Schulter. Rilsa stockte unter seinem schieren Gewicht der Atem, doch dann legte sie eine Hand auf seinen glatten Körper. 

„Ich habe ihm bereits alles erzählt", sagte Tessina in einem Ton, der Rilsa ein Lachen entlockte. 

„Gut gemacht Tessina, dass du endlich mal wieder jemanden rekrutieren konntest", sagte Tessina, dann lachte sie. 

„Aus wie vielen Mitgliedern besteht eure Organisation?", fragte Kosiris, schlängelte sich wieder Rilsas Beine entlang nach unten auf den Boden und sah abwechselnd sie und Tessina an. 

„Nun, wir sind zu zweit. Uns begleiten drei Kinder, die als nicht adoptierte Waisen aus dem Labor zu uns kamen", sagte sie und auch wenn Kosiris nickte, sah sie seinen Mut sinken. 

„Erst gestern haben wir zwei unserer Verbündeten verloren", sagte Rilsa leise und schluckte die aufkeimende Trauer hinunter. 

„Die Explosionen am östlichen Menschenslum?", fragte Kosiris und sie nickte. 

„Das tut mir aufrichtig leid", sagte er, senkte den Kopf und schwieg für einen Moment. 

„Wir wissen, dass es irgendwo da draußen noch mehr von uns gibt. Wir sind zerstreut, aber wir kämpfen für die gleiche Sache. Wir müssen die anderen nur finden", sagte Rilsa und spürte, wie sie sich verzweifelt an diesen Keim der Hoffnung klammerte. 

„Ich bin noch keinem wie euch begegnet", sagte Kosiris, doch bevor Rilsa etwas sagen konnte, schlängelte Tessina sich zwischen sie. 

„Natürlich nicht, wir operieren im Geheimen. Was es nicht gerade leichter macht, Verbündete zu finden", sagte sie und irgendwie wurde Rilsa das Gefühl nicht los, dass Tessina Kosiris schöne Augen machte. 

„In der Tat, das erschwert unsere Suche", sagte er und lächelte. Rilsa spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, denn so wie es schien, hatten sie zumindest einen neuen Verbündeten gefunden. 

„Damit sollten wir uns morgen weiter beschäftigen. Es war ein anstrengender Tag und wir sollten uns alle noch etwas ausruhen", sagte sie und setzte sich in Bewegung. Die Öllampe hielt sie vor sich und auch wenn die Tunnel inzwischen vertraut waren, glaubte sie, ohne Licht vollkommen aufgeschmissen zu sein. 

Sie spürte, wie die beiden Schlangen ihr wortlos zurück bis zum Lager folgten. Rilsa zwängte sich durch den Spalt und warf schnell einen Blick zu den Mädchen, die von dem Ganzen nichts mitbekommen zu haben schienen. Kosiris folgte Tessina bis zu ihrer Erdhöhle, in die sie sich hineinlegte und den Kopf so auf ihrem Körper ablegte, dass sie ihn ansehen konnte. Kosiris legte sich nur wenige Zentimeter von ihr entfernt hin und erwiderte ihren Blick. 

Rilsa grinste in sich hinein, denn offensichtlich waren sie beiden schon sehr lange einsam gewesen und unendlich froh, einen ihrer Artgenossen gefunden zu haben. Rilsa legte sich auf ihr Feldbett und blies die Lampe aus. Wie immer legte sich die schwere, dunkle Schwärze auf sie und umhüllte sie. Es war so dunkel, dass es keinen Unterschied machte, ob sie die Augen offen oder geschlossen hatte, was sie noch immer gruselig fand. Panisch kniff sie sie zusammen und versuchte, noch einmal einzuschlafen.

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