Kapitel 13 - Atimis

Atimis hatte Laskina heute Morgen nur widerwillig gehen lassen, aber sie hatte unbedingt arbeiten gehen wollen. Er hatte sie bis zum Arbeiterinnenstrich vor den Toren des Slums begleitet und allein bei der Erinnerung an die Einschlaglöcher und die noch blutgetränkte Straße schüttelte es ihn. 

Doch gerade als sie angekommen waren, hatte eine Kutsche vor ihnen gehalten und Laskina war ohne zu zögern eingestiegen. Ein wenig besorgt hatte er ihr nachgesehen, bevor er sich selbst auf den Weg zu Feridis gemacht hatte, um für ihn zu arbeiten. 

Noch immer war es kalt draußen, aber im Laufe des Vormittags war die Sonne durchgebrochen und er hatte sie sich angenehm auf den Rücken scheinen lassen, während er die Feldfrüchte erntete und auf einen Karren hievte, den er dann zu Markt gezogen hatte. 

Inzwischen war es Abend und er ging zurück nach Hause. Die zwei Goldmünzen, die Feridis ihm gegeben hatte, verwahrte er sicher in seinem Beutel an seinem Gürtel. Noch immer schien die Sonne und ihre angenehme Wärme tat gut auf der Haut. 

Er hoffte, dass Laskina auch die Sonnenstrahlen genießen könnte, denn schnell hatte er gelernt, dass er sich an den kleinen Dingen im Leben erfreuen musste. 

Viel zu schnell erreichte er das nördliche Eingangstor zum Slum und bemerkte schon von Weitem, dass sich eine Menschenmenge davor angesammelt zu haben schien. Verwirrt und skeptisch zugleich beschleunigte er die Schritte und trat an den Rand der Menschenmenge. Sein Blick wanderte nach links, denn nur knapp dreihundert Meter entfernt lag ein Slum der menschenähnlichen Tiere. 

Er legte die Hand über die Augen, um die Sonne abzuschirmen, doch er erkannte, dass sich auch dort vor dem Eingangstor eine Menge gebildet hatte. 

„Was geht hier vor?", fragte er einen Mann, der neben ihm stand. Er kannte ihn flüchtig, konnte sich aber nicht an seinen Namen erinnern. 

„Ich weiß es nicht, ich bin auch erst vor wenigen Minuten gekommen. Scheint, als wäre der Eingang blockiert", antwortete er und unwillkürlich sprang Atimis in die Luft, um über die Köpfe der anderen hinwegsehen zu können. Allerdings erkannte er nicht wirklich etwas. 

Seine Hand wanderte an seinen Armring und er versuchte so, Laskina zu erreichen. Ich komme nicht rein, hier blockiert irgendetwas das Tor, dachte er und hoffte, dass sie es verstehen konnte. Er spürte, wie sich der Armring aufheizte und wieder abkühlte. Es dauerte einige Sekunden, bis er spürte, dass sie reagierte. Sein Ring fing an zu vibrieren und als würde er von ihr träumen, hörte er Laskinas Stimme. 

„Ich komme", sagte sie ihm durch den Ring, doch sofort wurde er panisch. Sie sollte besser zu Hause bleiben, wenn sie schon dort war. 

„Bleib zu Hause", flüsterte er leise, die Hand um seinen Ring gelegt, der wieder heiß wurde und vibrierte. Er spürte, dass sie unterwegs war, doch dann brach der Kontakt ab. Missmutig hielt er seinen Ring noch eine Weile fest, doch der Kontakt war weg. Er seufzte, denn auch wenn er und Laskina eine ungewöhnlich intensive Kommunikation über ihre Armringe führen konnten, kam es durchaus vor, dass es nicht funktionierte. Manchmal glaube er, dass es von Gefühlen kontrolliert wurde, denn immer wenn einer von ihnen Angst oder Panik hatte, funktionierte es am besten. Er schloss daraus, dass es ihr im Moment so weit gut ging und er spähte noch einmal nach vorn. 

Tatsächlich kam ein wenig Bewegung in die Menge, doch es ging nur ein paar Schritte vorwärts. Allmählich trafen neue Leute ein, die sich hinter ihm anstellten und genau so verwirrt wie er selbst aussahen. 

Auf einmal ertönte ein ohrenbetäubender Gong, der ihm jedes Mal durch Mark und Bein ging. Ein Rapport? Um diese Uhrzeit? Panisch sah er sich um, denn das bedeutete doch, dass irgendetwas passiert sein musste. 

„Lebewesen! Soeben wurde der Regierung bekannt, dass sich die Organisation „Der Untergrund" zu den Anschlägen am östlichen Menschenslum bekannt hat. Die Suche nach den Verantwortlichen läuft auf Hochtouren und jeder Hinweis wird mit einhundert Goldmünzen belohnt. Ende des Rapports", ertönte die allzu vertraute und allzu verhasste Stimme des Regierungssprechers. Atimis schnaubte, denn auch wenn die Regierung ihnen weismachen wollte, dass diese Organisation dahintersteckte, glaubte er es nicht wirklich. Er konnte sich nicht erklären, was die Regierung für ein Ziel verfolgte, die Lebewesen gegen diese Organisation aufzustacheln, denn schon seit Jahren waren sie zerschmettert und nicht wieder in Erscheinung getreten. Außerdem passte es nicht zum Untergrund, wehrlose Arbeiterinnen anzugreifen, für dessen Rechte sie sich eben einsetzten. 

Kopfschüttelnd drängte er sich im Fluss der Masse weiter in Richtung Tor. Noch einmal sprang er in die Luft und erkannte das Blitzen eines schwarzen, metallenen Speeres, der vorne in die Luft ragte. Standen etwa Elstern vor dem Tor und kontrollierten die Leute, die hineinwollten? Das war lächerlich, denn die meisten Menschen hier besaßen kaum etwas, das sie ihnen abknöpfen konnten. 

„Atimis", hörte er auf einmal eine vertraute Stimme und panisch wandte er sich um. Es war Laskina, doch er sah sie im ersten Moment nicht. Eilig drängte er sich aus der Menge, auch wenn er dann wieder länger anstehen musste. 

„Atimis, hier bin ich", rief sie erneut und da erblickte er sie. Keine zehn Meter von ihm entfernt winkte sie ihm zu, während sie weiter auf ihn zu lief. Sie strahlte, das war das erste, was ihm auffiel, dann bemerkte er etwas Buntes um ihren Kopf. 

Erst als sie bei ihm ankam, erkannte er, dass es eine Blumenkrone war. Sofort lächelte er, denn auch wenn es nur eine Kleinigkeit war, erfreuten ihn die bunten, angenehm duftenden Blumen. 

„Meine Schöne", murmelte er, nahm sie fest in die Arme und küsste sie. Sie war außer Atem, als wäre sie gerannt. 

„Schau, meine Krone. Ich habe eine für mich und eine für Generis gemacht", sagte sie und präsentierte ihm den Schmuck. 

„Sie sieht schön aus", erwiderte er und strich ihr sanft über die Wange. Sofort griff sie nach seiner Hand und schmiegte ihre Wange daran. Doch schon nach wenigen Momenten ließ sie ihn los und wandte den Blick nach vorn in Richtung der Menschenmenge. 

„Was ist hier los?", fragte sie und sah sich suchend um, als würde sie in der Menge die Antwort finden. 

„Ich weiß es nicht genau, aber ich vermute, sie kontrollieren die Leute, die rein wollen", antwortete er, was sie erschrocken keuchen ließ. 

„Aber das haben sie doch noch nie gemacht", sagte sie, doch Atimis zuckte nur die Schultern. 

„Sie denken sich doch ständig irgendetwas Neues aus", sagte er leise und gedämpft. Laskina trat näher an ihn heran und umklammerte seinen Arm, während sie sich wieder in die Menge einreihten. 

„Atimis, hast du irgendetwas an dir, dass sie nicht finden sollen?", raunte sie ihm zu und eilig schüttelte er den Kopf. Glücklicherweise hatte er heute keine zusätzliche Goldmünze oder heimlich ergatterte Karotten dabei. 

Laskina klammerte sich fester an seinen Arm, während sie langsam immer näher ans Tor gelangten. Es herrschte Stimmengewirr und allmählich drehte sich ihm der Kopf von den ganzen Leuten, die quatschten und sich um ihn herumdrängten. Laskina schien seine Nervosität zu spüren, denn sofort umfasste sie seine Hand. 

„Weißt du, Generis ist wirklich toll. Er ist so freundlich und gutmütig, wie ich selten ein Wesen gesehen habe", fing sie an zu erzählen und auch wenn er sie zu Hause nach ihrem Tag gefragt hätte, wusste er, dass sie ihn so ablenken wollte. Er beschloss, sich darauf einzulassen und lauschte ihren Worten. 

„Ich habe ihm unsere Verbindung durch die Armringe gezeigt, was ihn ganz fasziniert hat. Er hat geglaubt, dass ich deine Gedanken lesen kann und du meine", kicherte sie. 

„Und er mag Blumen", fügte sie noch hinzu und Atimis spürte, dass sie wirklich einen angenehmen Tag gehabt hatte. Dennoch war er skeptisch. 

„Und du warst den ganzen Tag mit ihm allein und hast dich mit ihm unterhalten? Das war deine Aufgabe?", fragte er, was sie die Schultern zucken ließ. 

„Ja, ich soll ihn beschäftigen, damit ihm nicht langweilig wird, wenn er den ganzen Tag allein ist", erklärte sie nüchtern. Es war eine untypische Arbeit, aber wenn sie dafür gut bezahlt wurde, musste es wohl in Ordnung sein. Noch nie hatte er davon gehört, dass Hohe Menschen Kindermädchen einstellten, denn das war sie offensichtlich. 

„Wie viele Goldmünzen hast du bekommen?", fragte er und Laskina lächelte. 

„Bloß eine, aber dafür durfte ich dort etwas essen. Oder besser gesagt: Generis hat sein Essen mit mir geteilt", berichtete sie leise, damit nur er es hörte. Es war zwar nicht verboten, wenn die Hohen Menschen während der Arbeitszeit etwas zu Essen anboten, doch es war unüblich. 

Auf einmal bemerkte Atimis, dass sie bereits ziemlich weit nach vorn in der Menge gelangt waren und tatsächlich kontrollierten zwei Elstern die Eintretenden. Sie wurden abgetastet und mussten all ihre Taschen und Beutel leeren. 

Er schluckte schwer, denn so würde er sicherlich kein zusätzliches Essen mehr hineinschmuggeln können. Der Mann vor ihnen wurde unsanft durch das Tor hindurch geschubst, als seine Leibesvisitation beendet war. 

„Du!", rief eine der Elstern und machte eine abwertende Kopfbewegung zu Laskina, die zögerlich näher trat. Sofort packte die Elster sie am Arm und zog sie von ihm weg. Atimis wollte ihr folgen, doch sofort richtete sich der Speer der anderen Elstern auf ihn. 

„Du bist noch nicht dran", sagte er und widerwillig trat er zurück. Laskina warf hilfesuchend einen Blick zu ihm über die Schulter, bevor die Elster, die sie am Arm gepackt hatte, hämisch anfing zu grinsen. 

„Name und Verbundgemeinschaft?", fragte er mit unnötig lauter Stimme. 

„Laskina A1379", antwortete sie und merkwürdigerweise spürte Atimis seinen Ring vibrieren. Die Elster trat vor sie und begutachtete sie wie ein Stück Fleisch, das er verspeisen wollte. 

„Was ist das da auf deinem Kopf?", fragte er und sofort griff Laskina an ihre Blumenkrone.

„Das ist eine Blumenkrone. Ich habe sie auf der Arbeit gefertigt und durfte sie mitnehmen", erklärte sie mit zittriger Stimme. Atimis erkannte die Angst darin. 

Dann geschah ziemlich viel in kurzer Zeit. Die Elster riss ihr die Blumenkrone vom Kopf, schmiss sie auf den Boden und zertrampelte sie. Laskina stieß einen erstickten Laut aus und wollte sich nach den Blumen bücken, doch dann stieß die Elster sie mit voller Wucht auf den Boden, sodass sie fiel. 

„He, lass sie in Ruhe", rief Atimis und machte drohend einen Schritt auf die Elster zu, die hämisch lachte. 

„A1379, nehme ich an", sagte er und packte ihn unerwartet fest an den Schultern. Er schubste ihn zu der anderen Elster, die ihn in einem festen Klammergriff hielt, aus dem er sich nicht befreien konnte. Die andere Elster trat auf Laskina zu, die verzweifelt die zertretenen Blumen aufsammelte. Als sie sie bemerkte, hielt sie inne und hob den Blick. 

„Was versteckst du sonst noch? Los, Mantel ausziehen", befahl die Elster, packte sie am Arm und riss sie wieder auf deine Beine. Laskina wimmerte, senkte beschämt den Blick und zog ihren Mantel aus. Atimis sah, wie sie sofort anfing zu zittern. Dann fing die Elster an, mit den Händen über ihren Körper zu tasten, angefangen an den Schultern, über die Arme. Er bückte sich, klopfte ihre Stiefel und ihre Beine ab, bis er auf einmal innehielt. 

„Leer deine Taschen", befahl er und wieder gehorchte sie. Sie öffnete ihren Beutel mit ihrer Goldmünze darin, stülpte die Taschen ihrer Hose nach außen und hielt dem Regierungsmitarbeiter die leeren Hände hin. 

„Ich habe nichts an mir", sagte sie, hob den Blick und sah der Elster direkt in die Augen. Atimis spürte, wie er ein klein wenig stolz auf sie war, doch dieses Gefühl verschwand sofort, als er den geifernden Blick der Elster sah. 

„Ich glaube dir nicht. Wer schon Blumen schmuggelt, der schmuggelt auch noch anderes. Los, zieh dich aus", forderte er und sofort wanderte Laskinas Blick zu Atimis. 

„Nein! Lasst sie in Ruhe", schrie er und versuchte vergeblich, sich aus dem Griff der Elster zu befreien. Doch er war einfach zu stark. 

„Das war keine Bitte. Du ziehst dich jetzt aus. Es warten noch eine ganze Menge andere Leute darauf endlich nach Hause zu kommen und du hältst sie alle auf", sagte er bedrohlich und auch wenn Atimis ihm am liebsten eine Knüppel übergezogen hätte, wurde ihm bewusst, dass er nichts tun konnte, ohne Laskina zu gefährden. 

Sie drehte sich um, damit weder die wartenden Menschen noch die Elstern sie ansehen konnten, doch sofort wurde sie von ihr wieder herumgerissen. 

„Du benimmst dich verdächtig. Los, beeil dich", fuhr er sie an, was Laskina ein unterdrücktes Schluchzen entlockte. Dennoch fing sie an, mit zitternden Fingern ihr Hemd aufzuknöpfen. Der Elster schien es sichtlich Spaß zu machen, sie zu quälen und als Laskina ihr Hemd fallen ließ und die Arme um sich legte, um sich zu bedecken, stieß er ihr mit dem ausgestreckten Finger direkt auf ihre Verletzung an der Schulter. Sie keuchte und stolperte einen Schritt rückwärts, doch die Elster folgte ihr. 

„Deine Hose", sagte sie in einem spöttischen Ton, woraufhin Laskina noch mehr anfing zu zittern. Ihr Blick war abgewandt und auch Atimis fiel es schwer, zuzusehen. Sie zog ihre Stiefel und anschließend ihre Hose aus, sodass sie nur noch in Unterwäsche dastand, zitternd vor Kälte und Scham. Die Elster umkreiste sie, als wäre sie seine Beute, die sie erlegen wollte. Er trampelte mit ihren schmutzigen Schuhen auf ihren Kleidern herum, bis er schließlich vor ihr stehen blieb und grob ihre Arme wegriss, sodass sie entblößt vor ihm stand. Laskina weinte stumm, den Blick auf den Boden gerichtet. Die Elster streckte die Hand aus und begrapschte sie an Stellen, an denen niemand sie berühren durfte. 

„Stopp, hör sofort auf damit!", schrie Atimis, trat der Elster, die ihn festhielt mit voller Kraft vor Schienbein und riss sich los. Er strauchelte, doch er machte einen Satz auf Laskina zu, um ihr zu helfen. 

Doch bevor er sie erreichen konnte, spürte er einen stechenden Schmerz in seinem Rücken. Er schrie auf und landete hart auf dem Boden. Nur langsam wurde ihm bewusst, dass ein Speer ihn verletzt hatte. Die Elster trat über ihn, den Speer drohend auf seinen Rücken gerichtet. 

„Sieh zu und lerne, dass es unklug ist, dich uns zu widersetzen", raunte die Elster ihm zu und als wäre das das Stichwort, stieß die andere Elster Laskina zu Boden. Sie fing an zu schluchzen, krabbelte zurück und klaubte ihre Kleider auf. Atimis wollte sich aufrappeln, um ihr zu helfen, doch kaum dass er sich ein paar Zentimeter erhob, bohrte sich schmerzhaft die Speerspitze in seine Rücken. 

„Helft ihr doch, bitte", schrie er in die Menge die wie betäubt zu sein schien. 

„He, deine Goldmünze", rief die Elster Laskina zu und warf sie vor ihr auf den Boden. Laskina griff danach und zog sich heftig zitternd und ein wenig unbeholfen wieder an.

„Laskina!", rief Atimis, doch sie sah nicht zurück, sondern humpelte gebeugt und beschämt ein Stück den Weg entlang.

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