Vom Winde verweht

Frollo war sichtlich bemüht, aufrecht in seinem Stuhl zu verharren. Schuld daran war eine Dame, die sich seit geschlagenen zwanzig Minuten über ihren Ehemann echauffierte. Dabei ruderte sie wie wild mit den Armen, als wolle sie ihren Worten mehr Nachdruck verleihen. Frollos starrer Blick bohrte sich durch sie hindurch. Hin und wieder ließ er jedoch ein Räuspern erklingen, damit ihn keiner der Anwesenden vorzeitig für tot erklärte.

„Seid doch so gut, gnädige Frau", sagte Frollo, als die Dame nach Luft schnappen musste. „In Bälde auf den Punkt zu kommen."

Völlig entrüstet sah sie den Richter jetzt an. „Mit Verlaub!", krächzte sie. „Doch wie soll die Schuld meines Mannes bewiesen werden, wenn Ihr die Hintergründe nicht kennt?"

„Wessen Tat beschuldigt Ihr ihn denn?", wollte Frollo als nächstes in Erfahrung bringen, da dies noch nicht zu ihm durchgerungen war.

„Na die der Untreue!", spie die Frau mit geröteten Wangen. „Schenkt man meinen Worten denn gar kein Gehör? Am Besten fange ich nochmal von vorne an."

Nachdem Frollo die bedrohliche Ankündigung vernommen hatte, sehnte er sich einen Strick herbei. Für einen kurzen Augenblick beneidete er die Verbrecher, die draußen am Galgen hingen. Sie durften in Frieden ruhen, ohne dem Geschwätz dieser weibischen Bestie ausgesetzt sein zu müssen. Da Frollo dem Wahnsinn jedoch nicht entkommen konnte, warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster. Dabei erblickte er eine Kutsche, was an sich nicht ungewöhnlich war, wäre da nicht dieser Mann, der auf dem Dach derselbigen lag und sich scheinbar unbemerkt von ihr durch die Gegend fahren ließ.

Die Dreistigkeit, die der maskierte Narr dabei an den Tag legte, war nicht in Worte zu fassen. Er lag auf dem Rücken, hatte die Hände hinter den Kopf zusammengeschlagen und die schlanken langen Beine übereinandergelegt. Durch die Erschütterungen der Kutsche wippte sein Fuß ein wenig umher. Mit dem Schuh, an dessen Spitze sich ein Glöckchen befand, schien er den Richter obendrein verspotten zu wollen.

Vergessen war die Dame, die sich ein zweites Mal über das Missverhalten Ihres Mannes ärgerte. Wichtiger war jetzt der Narr, der plötzlich aus seinem Schlummer erwachte, um von der Kutsche auf die Straße zu springen.

„Dann lasst Euch doch scheiden", knurrte Frollo, bevor er die entsetzte Frau im Anhörungssaal zurückließ.

Auf dem Weg nach draußen wurde Frollo von seinem wild pochenden Herzen begleitet. Überrascht fasste er sich an die Brust. Mit einem Mal fühlte er sich so lebendig und federleicht, wie schon seit geraumen Zeiten nicht mehr. Zügig lief er die steinernen Treppen des Gerichtsgebäudes hinab, um anschließend nach dem Narren zu suchen. Erstaunlicherweise war dieser nirgends zu sehen. Hektisch fuhr Frollo herum. War das denn möglich? Wie konnte jemand in einem derart auffälligen Kostüm einfach so von der Bildfläche verschwinden? War der Narr womöglich ein Trugbild? Ein Produkt blühender Fantasie? Ein Akt der Verzweiflung eines dahinraffenden Verstandes?

Die Enttäuschung über das verschwundene Mysterium wog schwer. Seufzend ließ Frollo die Schultern sinken, als ihm plötzlich ein Stück Stoff entgegenflog. Er griff danach, um es genauer unter die Lupe zu nehmen.

„A-Aber das ist doch ...", wisperte Frollo sich selbst zu. „Die Flagge des Gerichtsgebäudes."

Sofort blickte Frollo zum Dach, auf dem der Fahnenmast stand. Statt der Flagge trug dieser nun eine lange Unterhose. Sanft ließ sich diese dank des Windes durch die Lüfte tragen. Die Kinnlade des Richters klappte nach unten. Neben der Stange verweilte der Narr, der nun fröhlich und lautstark durch die Gegend brüllte.

„Seht her, Mesdames et Messieurs! Dies wird fortan das Symbol der Gerechtigkeit sein!", jauchzte Clopin, wobei er sich das Lachen nicht verkneifen konnte.

Ein junges adeliges Mädchen, das neben Frollo zum Stehen kam, erblickte die weiße Unterhose, weshalb sie im gleichen Atemzug der Ohnmacht erlag. Im letzten Moment gelang es Frollo sie aufzufangen, ehe ihr zarter Kopf am Stein aufschlagen konnte. Damit hatte der Narr jegliche Grenzen maßlos überschritten.

„Ihr da!", brüllte Frollo außer sich vor Wut. „Kommt sofort da runter!"

„Oh! Welch freudige Überraschung. Der Richter höchstpersönlich", trällerte Clopin, bevor er sich auf geschickte Weise nach unten begab.

Ohne zu zögern stolzierte er auf den Richter zu. Dabei bemerkte Clopin die bewusstlose Frau.

„Grundgütiger! Eurer Dame geht es hoffentlich gut."

„Sie ist nicht meine Dame", knirschte Frollo, als ihm der Ohrring ins Auge fiel. „Ein Zigeuner ..., hätte ich es mir doch denken können. Wer sonst käme auf so eine schandhafte Idee?"

„Aber Monsieur", entgegnete Clopin beflügelt. „Gerade Euch sollte diese Fahne besonders gut gefallen."

„Was?! Ihr maßt Euch an, solche Behauptungen aufzustellen? Was veranlasst Euch zu diesem Irrglauben? Sprecht rasch, Zigeuner!"

Immer mehr Menschen hatten sich in der Zwischenzeit versammelt, um das närrische Werk von Clopin mit großen Augen zu bestaunen. Der Teil, der sich bereits sattgesehen hatte, wandte sich an die zwei lautstarken Streithähne, um kein pikantes Detail ihres Geplänkels zu verpassen.

„Was mich dazu veranlasst, wollt Ihr wissen? Ganz einfach", sagte Clopin. „Schließlich ist das Eure Unterhose, die dort oben im Winde weht. Erkennt Ihr Sie denn gar nicht wieder?"

Schwer schluckend starrte Frollo nach oben und tatsächlich ... Bei genauerem Hinsehen erkannte er die Unterwäsche, die ihm vor einiger Zeit unter seltsamen Umständen abhandengekommen war. Der Leichenblässe folgte ein sattes Rot, das sich nun wie ein Lauffeuer über das Gesicht des Richters ausbreitete.

„Das reicht jetzt!", schrie Frollo außer sich. „Dafür lasse ich Euch an den Pranger stellen!"

Mit gespieltem Entsetzen fasste sich Clopin an die Brust. „Tut das nicht", schluchzte er. „Habt Gnade mit einem armen Zigeuner wie mir ..."

Er fasste sich in die Innentasche, holte eine kleine Rauchbombe hervor und warf diese vor Frollo auf den Boden, sodass die Umgebung von einer rosa Rauchwolke verschlungen wurde.

Hustend wedelte Frodo mit der flachen Hand herum, doch als sich der Rauch endlich verzogen hatte, fehlte von dem Zigeuner jede Spur.

„Na warte ..." Wütend ballte Frollo die Hände zusammen. „Das letzte Wort ist hier noch nicht gesprochen."

Obwohl sich Frollo nach außen hin ärgerte, war er tief in seinem Inneren über alle Maße erfreut und erregt. Dieser Zigeuner ... Noch nie zuvor war Frollo einem Mann begegnet, der ihm so offenherzig die Stirn geboten hatte. War seine Suche nach dieser einen Person damit vielleicht beendet?

Fest stand bloß, dass Frollo diesen Narren unbedingt wiedersehen musste. Um jeden erdenklichen Preis.  

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