Unsterbliche Liebe

Die zwanzig Jahre waren nicht spurlos an ihnen vorbeigegangen, weder seelisch, noch körperlich. Trotz allem wusste Baron Jerome Dampierre genau, wen er da gerade vor sich hatte. Mit langsamen Schritten trat dieser auf Clopin zu, um ihm die Maske abzunehmen.

„Ihr seid es wirklich ...", stammelte Jerome mit zittriger Stimme. „Nach all den Jahren, in denen ich Euch für tot gehalten habe ..."

„Es tut mir so leid", wisperte Clopin, bevor sich die Hände des Barons um seinen Hals legten.

„Es tut dir leid?" Langsam drückte Jerome jetzt zu. „Ist dir bewusst, was du mir angetan hast?"

„Die Kinder", schluchzte Clopin, dem vereinzelte Tränen über die Wangen liefen. „Es hat so wehgetan ..."

„Und du hast mir wehgetan ..., ich wollte dich nicht verlieren." Schnell ließ Jerome wieder los. „Und doch bist du an diesem Tag von mir gegangen."

Verwirrt sah der Berater die Szene mit an. Ohne etwas zu sagen, entfernte er sich, um die beiden allein zu lassen.

„An diesem Tag ist ein Teil von mir gestorben", gestand Clopin. „Doch dir zu Ehren bin ich ein Narr geworden." Kurz holte er seine Puppe hervor. „Jedes Kinderlachen widme ich dir ganz allein", sprach er mit verstellter Stimme, bevor er sie zurück in seine Innentasche steckte. „Das Kostüm hat mir dabei geholfen es zu überstehen ..."

Mit einem Kopfschütteln fasste sich Jerome an den Kopf. „Und ich?", sagte er. „Weißt du wie viele Menschen ich gefoltert habe, damit sie meinen seelischen Schmerz am eigenen Leib erfahren konnten?"

Wieder flossen Tränen über Clopins Gesicht. „Ich wollte so oft nach dir sehen, doch ich fürchtete mich zu sehr vor dem, was passieren könnte ..."

„Komm", sagte Jerome. „Lass uns auf den Balkon gehen. Ich brauche ein bisschen frische Luft."

Gemeinsam traten sie nach draußen, wo der Wind ihre Haare umspielte. Das Leben hatte sie gezeichnet, doch ihre Gefühle zueinander waren über die Jahre hinweg nicht weniger geworden. Einen Moment lang sahen sie sich schweigend in die Augen.

„Der damalige Richter", sprach Clopin, womit er das Schweigen brach. „Er wurde vergiftet. Dein Werk, nehme ich an?"

„Es war das Mindeste, das ich tun konnte, nachdem ich dich verloren hatte", offenbarte Jerome. „Nur gab es leider nichts, was über den Verlust hinweghelfen konnte. Ich habe mich immer weiter zurückgezogen und nur noch von den gemeinsamen Erinnerungen gelebt."

Nach Luft schnappend vergoss Clopin ein paar weitere Tränen. „Ich habe es verdrängt ... Nie wieder sollte mich eine Emotion derartig beherrschen." Mit einem Schluchzen wischte er sich übers Gesicht. „Doch der Kuchen ... Dein Liebesgeständnis ... Ich ...", japste er. „Ich ..."

„Komm her", seufzte Jerome, als er den zierlichen Mann in seine Arme schloss. „Oh Gott ... Es tut so gut dich zu berühren. Wie sehr mir deine Wärme gefehlt hat."

Eng umschlungen verharrten sie auf dem Balkon. Es war, als hätte sie die Vergangenheit eingeholt und zurück in ihr damaliges Leben gedrängt. Minutenlang verharrten sie in dieser Position, ohne ein Wort zu sagen. Sie genossen bloß ihre gegenseitige Nähe und füllten allmählich das Loch, welches das damalige Ereignis in ihren Herzen hinterlassen hatte.

„Darf ich Euch ein Geheimnis anvertrauen?", sprach Jerome, womit er exakt dieseleben Worte, wie Jahre zuvor auf der Weide gewählt hatte.

Sofort verspürte Clopin die Schmetterlinge, die nun wild durch seinen Bauch flatterten.

„Verzeiht ...", schluchzte der Zigeuner. „W-Was wolltet Ihr sagen?"

„Ich liebe Euch."

Weinend löste sich Clopin aus der Umarmung, um den Kuss seines Partners zu erwidern. Er war der schlimmste und zugleich schönste Moment seines Lebens. All die Last fiel mit einem Schlag von seinen Schultern. Nach zwanzig Jahren war das Tragen der Bürde endlich vorbei.

~~

Mit Pferden erreichten Phoebus und Frollo das Anwesen von Dampierre, auf dessen Balkon sich die zwei Männer gerade innig küssten.

„D-Das ist doch ...", stammelte Frollo, der seinen Augen nicht zu trauen vermochte.

Phoebus hingegen wusste sehr wohl was das zu bedeuten hatte. Sein Herz schmerzte angesichts der Szene, doch er spürte, dass Clopins Liebe vergeben war. Eine Erkenntnis, mit der Phoebus einige Zeit zu kämpfen haben würde. Trotz allem wollte er dem Glück der beiden nicht im Wege stehen. Aus diesem Grund kehrte er mit seinem Pferd um. Für ihn war die Sache endgültig vorbei. Mit Tränen in den Augen ließ er es auf sich beruhen.

Frollo aber erzürnte hinsichtlich der alten Liebschaft. Clopin gehörte ihm ganz allein. Sollte sich dieser tatsächlich für jemand anderen entschieden haben, gab es nur noch eine Möglichkeit ...

~~

„Bitte", keuchte Jerome. „Noch einmal ertrage ich das alles nicht. Ich will dich kein weiteres Mal verlieren."

„Das will ich ebenso wenig", klagte Clopin. „Meine Leute. Sie brauchen ein neues Versteck. Lass uns gemeinsam mit ihnen von hier verschwinden, um irgendwo ein neues Leben zu beginnen."

Jeromes Miene erhellte sich, als er die Worte vernahm. „Wirklich? Ist das dein Ernst?"

Nickend umfasste Clopin die Hände des Mannes. „Gemeinsam werden wir das schaffen und dieses Mal stellt sich uns niemand in den Weg."

„Oh Gott ... wie sehr ich dich noch immer liebe."

Es folgte ein weiterer Kuss, der ihre damaligen Gefühle neu entfachte und sie jetzt stärker machte, als je zuvor.

„Dann werde ich kurz zurückkehren, um den Hof der Wunder über die Pläne zu informieren. Sie werden Zeit brauchen, um alles zusammenzupacken", erklärte Clopin.

„In Ordnung. Ich werde dich begleiten", sagte Jerome. „Ich gebe nur schnell Bescheid, damit die Pferde für uns vorbereitet werden können."

„Mach das. Ich werde am Tor auf dich warten."

Nach einem weiteren Kuss gingen sie getrennte Wege. Nichts ahnend lief Clopin zu dem Tor, als ihm auf einmal der Richter entgegenkam. Mit eiligen Schritten trat dieser auf ihn zu.

„Frollo? Was macht Ihr denn hier?", fragte der Zigeuner verwirrt, als er plötzlich einen stechenden Schmerz verspürte.

Ungläubig sah Clopin an sich herunter. Das Blut sickerte rasch durch den Stoff seines Narrenkostüms.

„Dafür, dass Ihr Euch gegen mich entschieden habt, Heuchler", zischte Frollo, als er die Klinge mit einem Ruck zurückschnellen ließ. „Im Übrigen war die Geschichte über Phoebus' angeblichen Verrat erstunken und erlogen."

Ohne den Narren eines weiteren Blickes zu würdigen, entfernte sich Frollo vom Anwesen, während Clopin auf die Knie sackte und schließlich zu Boden fiel.

~~

Alte Erinnerungen flammten auf, als Jerome den blutenden Mann am Boden liegen sah. Was ging hier bloß vor sich? War das ein wiederkehrender Alptraum, aus dem es kein Entrinnen mehr gab?

„Oh Nein", schluchzte Jerome, als er neben Clopin auf die Knie gefallen war. „Wenn du stirbst, sterbe ich auch." Unter Panik zerriss er das Oberteil des Verwundeten und erschrak.

~~

Clopin war tot.

Das zumindest glaubte der Zigeuner, bevor er die Augen öffnete. Müde bewegte er seinen Kopf. Er brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass er im Bett seines Freundes lag. Wie damals, nachdem dieser ihn gerettet hatte. Und wieder war es Jerome, der voller Sorge an seiner Seite saß.

„Oh mein Gott ... Jagt mir nie wieder solch einen Schrecken ein", stammelte der Adelige, als er Clopin auf stürmische Weise küsste. „Es war wie ein Alptraum."

„Richter Frollo", begann Clopin. Dumpf kehrten die Erinnerungen zurück. „Er hat mich niedergestochen."

„Und du wärst auch mit Sicherheit tot, wenn er nicht gewesen wäre." Dabei holte Jerome die beschädigte Puppe hervor. „Der kleine Holzkopf hat dich vor einer tieferen Wunde bewahrt."

Staunend betrachtete Clopin das süße Püppchen, das er nach seinem Ebenbild gebastelt hatte. „Nicht zu fassen", flüsterte er. „Dabei habe ich diesen Weg nur deinetwegen eingeschlagen."

„Etwas, worüber ich sehr froh bin", gestand Jerome. „Ich wusste immer, dass dir das Puppentheater liegen würde." Erleichtert schenkte er seinem Partner ein warmherziges Lächeln. „Komm her, mein süßer Narr."

Sie gönnten sich einen langen und intensiven Kuss.

~~

Nachdem die Wunde halbwegs verheilt war, gingen Clopin und Jerome zum Hof der Wunder, wo sie den Leuten ihre Pläne mitteilten. Ohne zu zögern fingen diese an zu packen. Sie würden Paris verlassen, um irgendwo ein neues Leben zu beginnen.

„Clopin?", fragte Esmeralda, die gemeinsam mit ihrer Ziege an ihn herangetreten war. „Kommst du kurz? Es gibt da jemanden, der dich verabschieden möchte."

Im ersten Moment wollte Jerome folgen, doch Clopin winkte ab. „Warte kurz", bat er, bevor er mit Esmeralda verschwand.

Kurz darauf ging sie ebenfalls, sodass Phoebus und Clopin alleine waren.

„Wie ich hörte, werdet Ihr Paris verlassen", sagte Phoebus etwas bedrückt. „Ich wollte Euch nur mitteilen, dass ich Euch nie verraten habe. Frollo hat ..."

„Ich weiß", erwiderte Clopin. „Und es tut mir leid, dass ich Euch angegriffen habe."

„Nur ein Kratzer", schmunzelte Phoebus, den der Anblick des Zigeuners schmerzte. „Ich weiß, dass dieser Wunsch unverschämt und egoistisch ist, aber dürfte ich Euch um einen allerletzten Kuss bitten? Ich würde Euch gern mit einer schönen Erinnerung im Kopf verabschieden."

„Ich werde Euch vermissen", gestand Clopin. „Danke für alles."

Mit diesen Worten schenkte er dem Hauptmann einen allerletzten Kuss. Dabei fühlte er die Tränen, die Phoebus derweil über das Gesicht liefen.

„Ich habe Euch zu danken", stammelte Phoebus, bevor er für immer aus Clopins Leben verschwand. „Lebt wohl."

~~

In Paris machte sich eine bedrückende Stille breit. Verschwunden waren die Zigeuner, die einst für so viel Aufsehen gesorgt hatten. Als Wandervolk reisten sie zu dem nächsten Ort, um dort einen geeigneten Unterschlupf zu finden. Einen Unterschlupf, in dem jetzt zwei Könige regierten.

Clopin Trouillefou und Jerome Dampierre.

Nach so vielen Jahren hatte ihre unsterbliche Liebe doch noch gesiegt. 

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