Hinter den Kulissen
Auch gegen Abend war die verschwundene Wache nicht wieder zurückgekehrt, weshalb das ungute Gefühl des Hauptmannes stetig zunahm. Sorgsam hatte er sich in der Gegend umgesehen und einige der Bewohner befragt, doch nirgends bekam Phoebus eine hilfreiche Information. Etwas verloren harrte er letztlich vor den Toren des Friedhofes. Ob der Vermisste hier entlanggelaufen war? Einen Gedanken, den der Hauptmann schnell wieder verwarf. Was hätte den Verschwundenen zu solch einer Tat bewegen sollen? Andernfalls sollte Phoebus jede erdenkliche Möglichkeit in Erwägung ziehen. Der geringste Hinweis war besser als nichts. Sollte er hier nicht fündig werden, würde er die Suche für heute beenden.
~~
Der Scherz, den sich Clopin auf dem Dach des Gerichtsgebäudes erlaubt hatte, sorgte noch immer für Heiterkeit. Gut gelaunt begab er sich gegen Abend zu dem Versteck, als er plötzlich eine ungewollte Entdeckung machte. Mit Argwohn beobachtete er einen Soldaten dabei, wie dieser über den Friedhof ging. Der Rüstung nach zu urteilen, musste es sich um den Gardehauptmann handeln. Kein anderer würde einen derartigen Fummel freiwillig tragen. Hässlich, sperrig und unbequem noch dazu. Allem Anschein nach suchte der Hauptmann nach der verschollenen Stadtwache, weshalb sich Clopin jetzt vorsichtig an ihn heranpirschte. Nachdem er Phoebus – der wie ein unbeholfenes Tier durch die Gegend trampelte – endlich erreicht hatte, nutzte Clopin den Knauf seines Dolches, um sein Opfer mit einem gezielten Schlag bewusstlos zu machen. Wie ein nasser Sack fiel Phoebus kurz darauf in den Dreck, sodass Clopin mit großen Augen auf ihn herabstarrte.
„Für Euch kolossales Geschöpf werde ich gewiss etwas Hilfe benötigen. Seid demnach so freundlich und rührt Euch nicht vom Fleck, ja?" Grinsend rieb Clopin seine Hände. „Auf Euch wartet nämlich ein hübscher Galgen."
~~
Als Frollo am späten Abend in sein Gemach zurückkehrte, fühlte er sich leicht benommen. Er bekam die Bilder des Zigeuners nicht mehr aus seinem Kopf. Hartnäckig folgten ihm diese bis an sein Bett. Da blieb die Frage nicht fern, womit er das verdient hatte. Strafte Gott ihn dafür, weil er der Dame am heutigen Tage kein Gehör geschenkt hatte? Weil er ihr schnippisch zu einer Scheidung geraten hatte? Was der Grund dafür auch sein mochte, half nicht darüber hinweg, dass Frollo diesen Mann noch einmal sehen wollte. Die langen Beine, die sich geschmeidig und federleicht fortbewegt hatten ..., das breite Grinsen, das von einem Bart, einer Maske und schwarzem Haar umrandet gewesen war, sowie die Stimme, die so viel Varianz in sich trug, das Frollo gern mehr davon gehört hätte. Er beschloss sich am nächsten Tag an die Soldaten zu wenden, damit diese nach dem Zigeuner Ausschau halten konnten. Früher oder später musste er ihn in die Finger kriegen.
~~
Seufzend erwachte Phoebus aus seinem traumlosen Schlaf. Es dauerte eine Weile, bis er sich der Fesseln an seinen Händen bewusst wurde. Überdies plagten den Hauptmann schlimme Kopfschmerzen.
„Seht an!", jauchzte Clopin. „Die Prinzessin ist aus ihrem Schlummer erwacht." Mit verschränkten Armen stellte er sich vor den Gefangenen. „Wir wollten Euch gerade zum Galgen geleiten."
Bei Erwähnung des Galgens wurde Phoebus so einiges klar. „Ist dies das Schicksal, das einem Soldaten kürzlich widerfahren ist?"
„Nanu? Blond und doch so schlau?", spottete Clopin. „Wie viel Zeit habt Ihr gebraucht, um Eins und Eins zusammenzuzählen, hm?"
„Gewiss nicht so lang wie Ihr", erwiderte Phoebus daraufhin.
„Du meine Güte." Lachend fasste sich Clopin mit beiden Händen an den Bauch. „Man sagte mir nicht, dass der Hauptmann der Stadtwache von solch witziger Natur sei. Welche Eigenschaften verbergt Ihr sonst noch in Eurer prunkvollen Rüstung?"
„Lasst mich kurz darüber sinnieren", sagte Phoebus. „Charme und Mitgefühl vielleicht? Etwas, an dem es Euch zu mangeln scheint."
„Wartet ..." Mit gespieltem Entsetzen sah Clopin ihn jetzt an. „Ihr haltet mich nicht für charmant? Dabei zähle ich zu den charmantesten Männern in ganz Paris."
Das nötigte Selbstvertrauen hatte dieser Zigeuner, so viel stand fest. Des Gesprächs überdrüssig, ließ sich Phoebus jetzt schweigend zum Galgen führen. Für einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken um Gnade zu flehen, doch er wusste, dass dies nur wenig Sinn machen würde. Wenn er schon sein Leben geben musste, dann wollte er dies zumindest mit ein klein wenig Würde tun.
„Ich hätte mehr Gold spendieren sollen", brach Phoebus das Schweigen, als ihm der Strick um den Hals gelegt wurde.
Clopin reagierte mit einem Stirnrunzeln darauf. „Meine Taschen sind nach wie vor leer."
„Das bezog sich auch eher auf die Frau, die im Beisein ihrer Ziege getanzt hatte. Esmeralda soweit ich weiß."
„Woher ...?", begann Clopin, der jetzt ernsthaft zu grübeln begann. „Netter Versuch, Hauptmann. Ihren Namen zu kennen bedeutet rein gar nichts. Ihr könnt ihn weiß Gott wo aufgeschnappt haben."
„Weshalb ich die unzureichende Menge an Münzen erwähnte", erklärte Phoebus. „In dem Fall hätte sich meine Güte sicher bei euch allen rumgesprochen."
„Tja, hat sie aber nicht", erwiderte Clopin, den die Geschichte völlig unberührt ließ. „Solche Bekundungen, wie die Eure, sind mir schon zu Hauf untergekommen. Sobald der Gefangene den Strick an seinem Hals spürt, entdeckt er mit einem Mal völlig neue Seiten an sich."
Dagegen konnte Phoebus nicht argumentieren. Für Clopin war er bloß ein weiterer Eindringling, der gehängt werden musste, um keine Geheimnisse nach Außen zu tragen. Das Einzige, was hier hinausgetragen wurde, waren die Leichen ...
„Hört, hört!", rief Clopin an die Menge gerichtet. „Heute Abend steht jemand ganz Besonderes hier oben." Aufgeregt tänzelte er umher. „Der Gardehauptmann höchstpersönlich! Möchte einer von euch Partei für ihn ergreifen?", fragte Clopin, wie er dies bei dem Soldaten zuvor bereits getan hatte.
Erneut schien sich keiner der Anwesenden darum zu scheren, weshalb Clopin mit einem Grinsen auf den Hebel zusteuerte. Gierig griffen die behandschuhten Hände danach, als plötzlich der Ruf von Esmeralda ertönte.
„Aufhören!", schrie sie. „Dieser Mann dort hat sich heute für mich eingesetzt und in Gegenwart der eigenen Männer Partei für mich ergriffen."
Erstaunt darüber sah Clopin zu dem Gefangenen. Um ein Haar hätte er diesen gehängt.
„Wieso habt Ihr mir dies gegenüber nicht erwähnt?", wollte der Zigeunerkönig jetzt wissen.
„Weil Ihr mir das ohnehin nicht geglaubt hättet", entgegnete Phoebus erschöpft und überglücklich zugleich.
Ohne das Einschreiten von Esmeralda wäre er jetzt tot, weshalb er ihr ein aufrichtiges Lächeln schenkte.
„Habt Dank, Esmeralda", sagte Phoebus, nachdem der Strick von seinem Hals entfernt wurde. „Diese Schuld werde ich niemals begleichen können."
„Und doch könnt Ihr einiges tun, um Euch erkenntlich zu zeigen." In einer beiläufigen Geste strich sie ihr schwarzes Haar hinter das Ohr. „Ich werde jetzt für Euch verantwortlich sein. Seht also zu, dass ich das nicht bereuen werde", schmunzelte sie.
„Ich werde diese zweite Chance ergreifen und mich nach Tatkräften bemühen."
„Mehr verlangen wir auch gar nicht."
Somit konnte Phoebus dem Strick in letzter Sekunde entgehen. Welch Glück er hatte, Esmeralda begegnet zu sein. Er ließ sich von ihr durch den Hof der Wunder führen. Darüber hinaus erklärte sie ihm, dass Clopin der Anführer war und von allen hier stets respektiert wurde. Für Phoebus hingegen war es ein Rätsel, wie solch ein schräger Vogel als Anführer fungieren konnte ... Andererseits war es gerade die spezielle Art von Clopin, die ihn so undurchschaubar und gefährlich machte.
Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte und die Nacht angebrochen war, legte sich der Großteil der Zigeuner schlafen. Phoebus fand jedoch keine Ruhe. Zu viel war in den vergangenen Stunden vorgefallen, weshalb er seine provisorische Zeltbehausung verließ, um in Gedanken ein wenig herumzuirren.
Unwissend lief er am Zelt von Clopin vorbei, als er plötzlich ein seltsames Keuchen vernahm. Alles in Phoebus riet dazu, das Gekeuche zu ignorieren und weiterzugehen, doch die Neugierde wog letztlich schwerer, weshalb der Hauptmann einen Blick durch den Schlitz ins Innere riskierte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top