Schweigend trat Clopin an das Fenster, ohne zu wissen, dass Phoebus in dessen Nähe Ausschau nah ihm hielt.
„Wartet", rief Frollo im letzten Moment, nachdem er sich seine Robe übergezogen hatte. „Ich würde gern noch eine Kleinigkeit mit Euch speisen." Dabei kratzte er sich verlegen am Hinterkopf. „Ihr müsst wissen, dass der Bäcker heute einen vortrefflichen Kuchen gebacken hat. Gewiss zu viel für eine einzelne Person."
Ein Angebot, das Clopin nicht ausschlagen konnte, zumal er sonst nie in den Genuss von süßen Leckereien kam.
„In dem Fall möchte ich Euch nach Herzenslust unterstützen", erwiderte der Gaukler erfreut. „Den letzten Kuchen muss ich vor rund zwanzig Jahren verspeist haben", fügte er klagend hinzu.
„Dann lasst uns rasch in das Nebenzimmer gehen", schlug Frollo mit einer entsprechenden Handbewegung vor.
Aufgeregt trat Clopin in das besagte Zimmer, wo der Kuchen mitsamt zwei Tellern auf einem Holztisch stand. Offenbar hatte der Richter auf die Zusage des Narren spekuliert. Der süßliche Duft, der Clopin jetzt in die Nase stieg, erweckte plötzlich ein seltsames Gefühl. Schwer schluckend blickte er auf das vermeintlich harmlose Gebäck. Frollo indes bemerkte das Zögern seines Nebenmannes.
„Stimmt etwas nicht?", versuchte er nun in Erfahrung zu bringen.
Die Stimme des Richters befreite Clopin aus seiner Starre.
„N-Nein ..., alles gut", versicherte der Zigeunerkönig mit brüchiger Stimme. „Ich war bloß kurz in Gedanken."
Angesichts der Reaktion nur schwer zu glauben. Skeptisch beäugte Frollo den wesensveränderten Mann. Woher rührte der plötzliche Sinneswandel? Eine berechtigte Frage, die Frollos Aufmerksamkeit auf den Kuchen lenkte. Fürchtete der Zigeuner, dass dieser vergiftet sein könnte? Das verrücken des Stuhls riss ihn aus seinen Gedanken. Mittlerweile war es Clopin gelungen sich hinzusetzen und einen Teil des Kuchens auf seinen Teller zu laden. Trotz bestehender Bedenken tat der Richter es ihm gleich.
Clopin wusste selbst nicht genau, was in ihn gefahren war. Es schien fast so, als hätte ihn eine uralte Erinnerung eingeholt, die nun unbarmherzig auf ihn einzuschlagen drohte. Mit zittrigen Fingern führte er den Kuchen an seinen Mund. Dabei spürte er den Blick des Richters auf sich ruhen. Zögernd ließ Clopin das Gebäck auf seiner Zunge zergehen, wobei dessen Geschmack die verdrängte Erinnerung nun vollständig zum Leben erweckte.
Frollo sah, wie das angebissene Stück zu Boden fiel. Mit einem Mal war der Narr völlig erstarrt. Kurz darauf ertönte ein herzzerreißendes Schluchzen, dicht gefolgt von etlichen Tränen, die in die Maske des Zigeuners sickerten. Der Richter verstand die Welt nicht mehr. Der Anblick des erschütterten Mannes lähmte seinen Verstand. Noch nie zuvor war ihm ein solch leidender Ausdruck untergekommen. Verschwunden war die fröhliche Art des Puppenspielers. An seiner Statt herrschte jetzt eine unglaubliche Trauer.
Kopfschüttelnd sprang Clopin von seinem Stuhl, welcher mit einem Scheppern zu Boden krachte. Bevor er dem Richter entwischen konnte, schnappte dieser nach Clopins Arm, um ihn instinktiv in eine Umarmung zu ziehen. Frollo spürte, wie sich der schlanke und zitternde Körper an seinen eigenen schmiegte. Die Wärme schien den Zigeuner ein wenig zu beruhigen.
„Es tut mir leid", hörte er Clopin sagen, bevor ein unerwarteter Kuss zwischen ihnen entstand.
Die Verwirrung war bei Frollo jetzt größer, denn je. Er konnte sich keinen Reim auf die Situation bilden. Weder auf den Gefühlsausbruch des Zigeuners, noch auf dessen verzweifelten Kuss. Trotz allem erwiderte Frollo den Kuss auf zärtliche Weise, um das Gemüt von Clopin zu besänftigen. Nebenher rätselte er über die Ursache, die für diesen Umstand verantwortlich war. Zu was ein Kuchen alles imstande sein konnte ...
Die letzten Tränen, die Clopin in seinem Leben vergossen hatte, lagen zwanzig Jahre zurück. Damals waren sie in Folge eines zerrissenen Herzens entstanden. Nun war es die Erinnerung an einen ganz bestimmten Moment, die seine Seele in Aufruhr versetzte. Durch den Geschmack des Kuchens war sie so intensiv zurückgekehrt, dass Clopin glaubte, sie erst kürzlich durchlebt zu haben. Der Kuss mit Frollo sorgte für eine erzwungene Ablenkung, die den Zigeuner langsam in die Realität zurückkehren ließ. Mit jeder weiteren Minute beruhigte sich sein Geist, bis er zur gewohnten Besinnung fand.
„Ihr habt Recht", sagte Clopin. „Der Geschmack ist überwältigend. Seht nur, was der Kuchen bei mir angerichtet hat." Lachend ließ er die Glöckchen an seinem Kostüm erklingen. „Doch ich denke, dass ich jetzt gehen sollte. Gerne schaue ich morgen noch einmal vorbei."
Die Worte klangen dumpf, fast schon ein wenig hohl. Man brauchte kein Genie zu sein, um die Falschheit darin zu erkennen. Krampfhaft versuchte Clopin die unangenehme Situation zu überspielen. Ihm zuliebe lenkte Frollo ausnahmsweise ein. Er wollte das verängstigte Wesen nicht in die Ecke drängen, so zumindest war sein derzeitiger Eindruck, während er den Zigeuner eindringlich betrachtete.
„Morgen also", entgegnete Frollo ruhig. „Das soll mir gewiss recht sein. Ich werde Euch erwarten."
„Habt Dank Monsieur", erwiderte Clopin, der nun ehrlich erleichtert wirkte. „Wohlan denn."
Mit diesen Worten verschwand der Gaukler aus dem Fenster, über das er zu Beginn hineingekommen war. Lange stand Frollo ungerührt auf einer Stelle. Immer wieder hatte er die Bilder vor Augen, in denen der Zigeuner so bitterlich am Weinen war. Damit hatte Frollo eine Seite an Clopin entdeckt, die noch keinem anderen je offenbart worden war. Insgeheim faszinierte sie den Richter.
„So facettenreich", flüsterte er, wobei er sich an die Lippen fasste.
Noch immer glaubte er den Mund des Narren auf seinem eigenen zu spüren. Stetig wuchs das Interesse für Clopin. Kein anderer sollte diese unglaubliche Vielfalt für sich beanspruchen dürfen. Dabei dachte der Richter unmittelbar an Hauptmann Phoebus, der sich seit Tagen nicht mehr bei der Stadtwache gemeldet hatte. Irgendwie war ihm der arrogante Schönling ein Dorn im Auge. Frollo schien bereits zu ahnen, dass es dieser auf Clopin abgesehen haben könnte. Somit überlegte er fieberhaft, wie er den Mann ausfindig machen könnte. Auf jeden Fall musste der Richter handeln.
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