Der Verurteilte

Von seinem Versteck aus konnte Phoebus beobachten, wie Clopin abgeführt wurde. Somit war er den Fängen des Zigeunerkönigs vorerst entkommen. Nun stellte sich die Frage, welchen Schritt er als nächstes in Betracht ziehen sollte. Eine der möglichen Optionen war die Rückkehr zur Stadtwache. Das Wissen über den Standort der Hof der Wunder wäre gewiss bare Münze wert. Einen Gedanken, den sich der Hauptmann schnell wieder aus dem Kopf schlug. Nie im Leben würde er solch eine Tat mit seinem Gewissen vereinbaren können. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, dem Zigeuner zu helfen, doch zu welchem Preis? Da es Phoebus nicht gelungen war, etwas zu stehlen, drohte ihm nach wie vor ein Strick um den Hals. Sollte er Clopin retten, wäre sein Tod dennoch besiegelt, oder nicht?

„Welch vermaledeite Situation", brummte der Soldat, nachdem er sein Versteck verlassen hatte. Er musste etwas tun, so oder so ...

~~

Das Halseisen wog schwer und reizte die Haut des Gefangenen. Wie ein Stück Vieh wurde Clopin der schaulustigen Menge präsentiert. Sie straften ihn mit Verachtung, Abscheu und Wut. Einige der Bewohner spuckten dem Zigeuner vor die Füße. Andere wiederum schimpften über ihn und warfen ihm allerhand Flüche an den Kopf. Einige wenige betrachteten den bunten Narren mit großen Augen, als erwarteten sie von ihm eine unvorhergesehene Reaktion.

Als Frollo nach einiger Verzögerung im Justizpalast erschien, verstummten die Stimmen ringsherum. Keiner der Menschen wagte es, den Richter in Unmut zu stürzen. Immerhin wollten sie nicht wie Clopin am Halseisen enden. Mit einer gewissen Genugtuung näherte sich Frollo dem maskierten Mann, dessen Erscheinung für wildes Herzklopfen sorgte.

„Eure Maske", sprach der Richter. „Wird hier nicht länger von Nöten sein."

Bevor es Frollo jedoch gelang, die Maske des Gefangenen abzunehmen, wich ihm dieser auf geschickte Weise aus. Die Kette am Halseisen ermöglichte einen geringen Bewegungsspielraum, den Clopin durchaus zu nutzen wusste.

„Aber, aber", mahnte der Narr. „Solch ein Verhalten ziemt sich nicht. Wo habt Ihr bloß Eure Manieren gelassen, werter Herr Richter?"

Einigen der Zuschauer war es nicht gelungen ihr Lachen zurückzuhalten. In der Tat wirkte die derzeitige Szene äußerst amüsant. Erneut war es Clopin gelungen den Richter vor versammelter Menge bloßzustellen. Frollo, der hier als Leidtragender herhalten musste, errötete indes vor Zorn.

„Für diese Unverschämtheit sollte ich Euch auspeitschen lassen! Habt Ihr noch nicht genug, dreckiger Abschaum?!"

Erneut griff Frollo nach der heiß begehrten Maske, nur um sich ein weiteres Mal scheitern zu sehen. Plötzlich war Clopin derjenige, der in die Offensive ging. Er ergriff die Hände des Richters, um ihn im Zuge der Verwirrung zu sich heranzuziehen. Der Abstand zwischen ihnen verringerte sich auf ein Minimum, weshalb ein erstauntes Raunen durch die Menge ging.

„Ist es wirklich die Maske, die Ihr begehrt?", flüsterte Clopin, sodass nur Frollo die Worte vernehmen konnte. „Oder gilt Euer Interesse dem Mann, der sich dahinter verbirgt?"

Der Klang dieser Stimme war einzigartig und bot ein enormes Spektrum an unterschiedlichen Tonlagen. Der Narr musste wahrlich eine Teufelszunge besitzen, dachte Frollo, bevor er diesem geradewegs in die Augen sah. Wie ein Blitz durchzuckte Frollo das Gefühl der Machtlosigkeit. Es war zu spät. Die Schlange hatte ihr Gift freigesetzt, sodass der hilflose Richter ihrer Wirkung erlag.

„Nanu?" Erfreut blickte Clopin auf die dezente Wölbung, die unter der Robe zum Vorschein gekommen war. Ungeniert griff der Zigeuner an die sensible Stelle, um drüber zu streichen. „Verratet mir, werter Herr Richter", hauchte Clopin auf sinnliche Weise. „Ist dies das Werk Gottes? Oder ist es das Werk des Teufels? Wem der beiden schreibt Ihr diesen Umstand zu, hm?"

Ein aufgeregtes Flüstern zog durch die Menge, die wie gebannt auf die zwei Männer starrte. Immer wieder fragten sie sich, welche Worte ausgetauscht wurden und weshalb die anmutige Fassade des Richters zu bröckeln begann. Wie aus dem Nichts ertönte ein Räuspern, als Frollo mit hochroten Wangen nach hinten stolperte. Er fuhr herum und stürmte geradewegs davon, während Clopin eifrig zu winken begann.

„Adieu Monsieur. Kommt mich gern ein weiteres Mal besuchen. Ich verspreche auch nicht wegzulaufen", scherzte er, sodass die Leute herzhaft lachten.

Vergessen war die Abscheu, die Wut und die Verachtung, die sie dem Zigeuner eben noch entgegengeschleudert hatten. Die sympathische Art des Narren hatte ihr Herz erwärmt und sie zufrieden gestimmt. Mit heiteren Gemütern entfernten sie sich aus dem Justizgebäude, um jetzt über den spektakulären Abgang des Richters zu tratschen.

~~

Verwirrung zeichnete sich auf dem Gesicht von Phoebus ab, als er die glückliche Menge aus dem Gebäude treten sah. Was bewog die Menschen zu solch einer ausgelassenen Stimmung? War Clopin ihrem gesamten Hass zum Opfer gefallen, sodass nichts mehr davon übrig war? Reine Spekulationen, mit denen sich der Hauptmann derzeit nicht zu beschäftigen brauchte. Viel eher interessierte er sich für den Soldaten, der am Eingang postierte und von dem Phoebus wusste, dass er die Schlüssel für sämtliche Schlösser des Justizpalastes und deren Gerätschaften – wie beispielsweise für das Halseisen – bei sich trug. Aus diesem Grund entwickelte Phoebus eine Strategie, von der er hoffte, dass sie nach seinen Vorstellungen aufzugehen mochte.

„Ah endlich. Es tut gut Euch zu treffen", begann Phoebus, nachdem er die Stufen zum Gebäude bewältigt hatte. „Ich benötige Eure Hilfe."

„S-Seid Ihr das, Hauptmann?", stammelte die Wache, entsetzt über den Anblick ihres Vorgesetzten. „Was ist Euch bloß widerfahren?"

„Lasst es mich so ausdrücken ...", entgegnete Phoebus, der sich mit gespielter Verlegenheit am Hinterkopf kratzte. „Ich habe einen endlosen Abend in der Taverne mit viel Bier und allerlei Weibern hinter mir. Wie Ihr sehen könnt, hat mich diese Ausschweifung sogar die Rüstung gekostet."

„Das hat sie in der Tat", bestätigte der Soldat. „In diesen Lumpen seid Ihr kaum wiederzuerkennen. Wir fürchteten schon, dass ihr den Zigeunern zum Opfer gefallen seid."

„In dieser Hinsicht hatte ich wohl Glück im Unglück", log Phoebus. „Aber schaut mich nur an. In dieser Aufmachung kann ich unmöglich vor den hohen Richter Claude Frollo treten. Seid demnach so gut und reicht mir Euren Schlüssel, damit ich mir eine einfache Rüstung überziehen kann."

Dem war wohl nichts entgegenzusetzen, denn schnell kramte die Wache den Schlüssel heraus, um ihn Phoebus zu überreichen.

„Habt Dank, guter Mann. Ich werde mich beeilen."

Mit diesen Worten lief Phoebus ins Innere des Gebäudes, in dem Clopin mit einem Halseisen gefangen gehalten wurde. Beim Anblick des Zigeuners verspürte der Hauptmann ein seltsames Ziehen in der Brust. Einerseits verband er Clopin mit dem gnadenlosen Henker, doch andererseits .... Andererseits sah er in diesem den leidenschaftlichen Liebhaber, dem die Gesichtszüge während des Höhepunkts auf herrliche Weise entgleist waren.

Als Clopin den Hauptmann entdeckte, wirkte er ehrlich überrascht. „Euch hätte ich nicht hier erwartet", gestand der Narr, womit er seine Reaktion untermauerte. „Seid Ihr hier, um Euch an meinem Leid zu erfreuen?"

„Was haltet Ihr stattdessen hiervon?", schmunzelte Phoebus, nachdem er die Schlüssel gezückt hatte. „Ich bin hier, um Euch bei Eurer Flucht zu verhelfen." 

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