Der diebische Hauptmann
Verschwunden war die prunkvolle Rüstung, die Phoebus einst mit Stolz am Leibe getragen hatte. Ersetzt wurde diese durch einfache Kleidung, sodass man den Hauptmann für einen gewöhnlichen Bauern hielt. Am frühen Morgen verließ er den Hof der Wunder, um sich gemeinsam mit Clopin zum Marktplatz zu begeben. Dort herrschte zu dieser Zeit ein reger Betrieb. Optimale Bedingungen für einen Dieb, der sich bereichern wollte.
„Der sonnige Tag erhellt unsere Gemüter, nicht wahr?", trällerte Clopin, der seine Hand auf die Schulter eines Adeligen gelegt hatte. „Den jungen Frauen ringsherum scheint dies ebenfalls nicht entgangen zu sein. Seht nur, welch betörenden Blicke sie Euch zuwerfen, Monsieur."
Von den Worten des Narren abgelenkt, präsentierte sich der Adelige von seiner charmantesten Seite. Unauffällig glitten Clopins Finger in die Tasche des Ahnungslosen, um ein paar Goldmünzen zu stibitzen.
„Erobert nicht zu viele Herzen", scherzte Clopin, bevor er sich geschickt vom Acker machte.
Gelassen kehrte er zu Phoebus zurück.
„Das war ... wirklich beeindruckend", gestand der ehemalige Soldat.
Die Geschicke des Zigeuners ließen sich nicht verleugnen. Ob als Dieb, als Puppenspieler oder gar als gnadenloser Henker ... Jeder dieser Rollen wurde Clopin mehr als gerecht. Das erstaunliche daran war die Leichtigkeit, mit der sie der Mann auszuüben schien. Selbst wenn dem nicht so sein sollte, ließ sich Clopin nach außen hin nichts anmerken. Da war es nicht allzu verwunderlich, dass der Zigeunerkönig von seinen Feinden stets unterschätzt wurde.
„Wie Ihr an diese Sache herangeht, ist mir egal", hörte Phoebus den Zigeuner sagen. „Nur seht zu, dass Ihr in Kürze etwas erbeutet. Andernfalls droht Euch heute Abend der Strick."
Ihn fortlaufend damit zu konfrontieren war nicht gerade hilfreich. Missmutig machte sich Phoebus auf den Weg. Obwohl der Hauptmann gewiss kein Heiliger war, hatte er noch nie zuvor etwas gestohlen. Wie sollte er das nur bewerkstelligen, ohne dabei erwischt zu werden? Vielleicht mit Ablenkung, so wie Clopin das getan hatte? Mutig griff Phoebus nach der Schulter eines Adeligen, womit er es dem Narren gleichtun wollte.
„Welch sonniger Morgen", begann Phoebus, als der Mann seine Nase rümpfte.
„Finger weg!", schimpfte dieser empört. „Für einen dreckigen Bauern verschwende ich nicht meine Zeit!"
Statt von sich abzulenken, zog Phoebus die ungewollte Aufmerksamkeit der Umgebung auf sich. Argwöhnisch betrachteten die Menschen den vermeintlichen Bauern, der es gewagt hatte, sich unerlaubt an die Fersen eines Adeligen zu heften.
„V-Verzeiht ..." Räuspernd stolperte Phoebus ein paar Schritte zurück.
Kurz blickte er zu Clopin, der sich vor Freude an den Bauch gefasst hatte. Lachend schüttelte der Zigeuner seinen Kopf. Im Geiste erblickte Phoebus bereits den Galgen, an dem er heute Abend hängen würde, aber noch gab der ehemalige Soldat nicht auf.
Mit neu gewonnener Energie lief Phoebus einer adeligen Frau hinterher. Ihr Kleid war so pompös, dass einige der Marktbesucher zur Seite springen mussten, um nicht mit ihr zu kollidieren. Mit einer anderen Strategie im Kopf nahm Phoebus seine eigene Münze, um diese in der Nähe der Frau auf den Boden zu werfen.
„Verzeiht, junges Fräulein", rief Phoebus anschließend, sodass die Dame tatsächlich zum Stehen kam. Verwundert drehte sie sich herum. „Mir scheint, als wäre Ihnen etwas abhandengekommen." Dabei deutete er auf die Münze am Boden.
„Worauf warten Sie dann noch?!", schnauzte die Frau. „Heben Sie die Münze für mich auf und zwar sofort!"
Weitere Passanten schenkten Phoebus jetzt ihre Aufmerksamkeit. Allmählich ging unter ihnen das Getuschel los, sodass der Hauptmann vor Scham errötete. Hektisch ergriff er die Münze, um sie der Frau zu übergeben. Hochnäsig stöckelte diese ohne einen Dank davon. Nun war Phoebus noch ärmer, als zu Beginn ... Somit rückte der Galgen in immer greifbarere Nähe.
„Hauptmann?", ertönte plötzlich eine tiefe Stimme. „Seid Ihr das?"
Verwirrt fuhr Phoebus herum. Der Schreck, der anschließend folgte, war so enorm, dass der Soldat blindlinks in die nächstbeste Richtung flüchtete. Dummerweise stand ihm dabei ein kleiner Stand im Wege, weshalb Phoebus die gesamte Montur mit sich riss. Prompt wurde das friedliche Treiben von einem lautstarken Gepolter durchzogen. Der arme Hauptmann hatte sich derweil in einem großen Laken verfangen und war zugleich den wüsten Beschimpfungen des Ladenbesitzers ausgesetzt.
„Solch ein Aufruhr am frühen Morgen", rief Clopin im Hintergrund. „Für diese Missetat sollte man den Tölpel erhängen!"
Diese Stimme, dachte Frollo, dessen unerwartetes Erscheinen für Phoebus' Unfall verantwortlich gewesen war. Unter tausend anderen würde er sie wiedererkennen. Ohne zu zögern, drehte sich der Richter in besagte Richtung, um das Antlitz des Narren zu bestaunen. Wahrhaftig stand dort der Zigeuner, der ihn am Tage zuvor an der Nase herumgeführt hatte. Beim Anblick des Mannes verspürte Frollo ein Kribbeln im Bauch. Nicht noch einmal würde er seine Chance verstreichen lassen.
„Ihr dort!", rief Frollo. „Für Euer ungebührliches Verhalten am gestrigen Tage erwartet Euch noch eine gerechte Strafe!"
Binnen Sekunden wurde Clopin von Männern der Stadtwache umzingelt.
„Wer ich?" Ungläubig deutete der Narr auf sich selbst. „Der Mann unter dem Laken ist es, den Ihr bestrafen solltet. Keinen einfachen Puppenspieler, wie ich es bin."
„Festnehmen, Männer!", schrie Frollo, ohne erneut auf die Spielchen des Gauklers einzugehen.
Selbst Clopin war in diesem Moment machtlos, weshalb er sich wohl oder übel festnehmen lassen musste. In der Zwischenzeit war es Phoebus gelungen sich unbemerkt aus dem Staub zu machen. Zu fasziniert war die Menge vom Anblick des kunterbunten Zigeuners, der jetzt mit Fesseln an den Händen abgeführt wurde.
„Was sollen wir mit dem Mann jetzt anstellen?", fragte die Wache an Frollo gerichtet.
„Führt ihn in den öffentlichen Raum des Justizpalastest und kettet ihn dort an das Halseisen. Für die nächsten Stunden wird er an den Pranger gestellt, um für seine Taten zu büßen und den mahnenden Blicken der Bevölkerung ausgesetzt zu sein."
„Jawohl Herr. Sofort."
Nebenbei stellte sich Frollo die Frage, weshalb sich sein Hauptmann in einfachen Lumpen auf dem Marktplatz herumgetrieben hatte. Ob er dem nachgehen sollte? Angesichts seines neuen Gefangenen entschied sich Frollo dagegen. Jetzt wollte der Richter erstmal seine Genugtuung auskosten.
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