Clopin Trouillefou

Clopin Trouillefou war ein Mann, vor dem man sich in Acht nehmen sollte. Nicht, weil der Zigeuner gefährlich oder gar bedrohlich wirkte, sondern deshalb, weil seine gesamte Erscheinung nicht auf die Person schließen ließ, die er in Wirklichkeit war. Mit seinem narrenhaften Auftreten vermochte er Kinder zum Lachen zu bringen, doch wer es wagte, uneingeladen in den Unterschlupf – dem so genannten Hof der Wunder – vorzudringen, wurde persönlich von ihm an den Galgen gehängt. Somit trug Clopin auch sinnbildlich eine Maske, hinter die sich nur schwer blicken ließ.

Es herrschten angenehme Temperaturen, als Clopin am frühen Morgen auf dem Marktplatz erschien. Sorgfältig blickte er sich dort um, wobei dem Zigeuner eine bestimmte Szenerie ins Auge fiel. Es geschah vor dem Laden des Bäckers, bei dem sich ein kleiner Junge unerlaubt an dem Brot zu schaffen gemacht hatte. Die magere Gestalt des Kindes ließ darauf schließen, dass der Hunger im Vordergrund seiner Taten stand. Nicht allzu verwunderlich, wenn man den köstlichen Geruch von frisch gebackenem Brot in der Nase hatte. Bedauerlicherweise war der Junge nicht gerade geschickt vorgegangen, weshalb ihn der Bäcker auf frischer Tat ertappte.

Wutentbrannt packte dieser den kleinen Dieb am Oberarm. „Du wagst es, mich bestehlen zu wollen?! Na warte, Bürschchen, dafür wirst du auf schmerzhafte Weise büßen!"

Unbemerkt war Clopin an den tobenden Bäcker herangetreten, um jetzt mit all seiner Kraft auf dessen Fuß zu treten. Was folgte war ein ohrenbetäubendes Gebrüll.

„Oh! Verzeiht mir, Monsieur", entschuldigte sich der Zigeuner, wobei er rasch ein Laib Brot entwendete. „Das war wirklich sehr ungeschickt von mir!"

Jaulend sprang der korpulente Mann auf einem Fuß herum, während der Junge erschrocken danebenstand. Clopin dagegen nutzte den Moment, um den Bäcker mit weiteren Entschuldigungen zu besänftigen.

„Beim nächsten Mal passe ich besser auf, das schwöre ich", sagte er, bevor er sich an den Jungen wandte. „Und was dich betrifft, du kleiner Dieb ...", mahnte Clopin, als er das hagere Kerlchen am Handgelenk packte. „Werde ich dir jetzt eine Lektion erteilen."

Eifrig zog Clopin den sichtlich verwirrten Jungen hinter sich her, bis sie in einer der zahlreichen Gassen verschwanden. Dort angekommen ging der Zigeuner vor dem hungrigen Dieb auf die Knie.

„Habt keine Angst", sagte er schnell und holte zugleich das gestohlene Brot hervor. „Das hier ist für dich."

Nach kurzem zögern nahm der Junge das Brot entgegen. „H-Habt Dank, Herr ...", murmelte er, bevor er sich einen herzhaften Bissen genehmigte.

Genüsslich schmatzte das Kind vor sich hin, sodass sich das Herz des Zigeuners erwärmte. Momente wie diese waren es, die das Leben lebenswert machten. Selbst wenn Clopin eines Tages aufgrund seiner Taten am Galgen hängen würde, so bereute er keine seiner bisherigen Entscheidungen. Geduldig setzte sich der Gaukler auf den Boden, bis sich das – in Lumpen gehüllte – Kind satt gegessen hatte.

„Was ist mit deinen Eltern?", fragte er anschließend, woraufhin der Junge traurig zu Boden blickte.

„Mein Papa wurde in diesem Winter gehängt", murmelte das magere Geschöpf. „Mama wollte etwas zu Essen für mich besorgen und ist nicht mehr zurückgekehrt ..."

„Das ist wahrlich eine Tragödie", äußerte Clopin, bevor er dem Jungen über die Schulter strich. „Wenn du magst, kann ich dich zu meinem Unterschlupf geleiten. Dort wirst du lernen wie einer von uns zu werden", erklärte er. „Wenn du deine Sache gut machst, erhältst du im Gegenzug etwas zu essen, sowie einen Platz zum Schlafen. Was meinst du?"

Misstrauisch neigte der Junge den Kopf. Man konnte regelrecht hören, wie es hinter dem Schädel zu rattern begann. Für einen Moment schien das Kind seine Optionen abzuwägen, bis es letztlich eine Entscheidung fällte. Mit einem zaghaften Nicken teilte er Clopin sein Einverständnis mit.

„Dann lasst uns nicht länger verweilen", sprach der Narr, bevor er das Kind in seine Arme nahm. „Merke dir gut, wohin wir jetzt gehen und erzähle niemandem davon, verstanden?" Es folgte ein weiteres Nicken, woraufhin Clopin dem Jungen auf spielerische Weise in die Wange kniff.

Gemeinsam bahnten sie sich den Weg durch den Irrgarten der Pariser Gassen. Nach all den Jahren kannte sie Clopin wie seine Westentasche. Pfeifend entschied sich der Gaukler für den einfachsten Weg, um den Verstand des Kindes nicht zu überanstrengen. Zugleich wusste Clopin aber auch, dass dies nicht immer die sicherste Route war. Eine Tatsache, die durch das Auftauchen einer Stadtwache prompt untermauert wurde.

„Ihr da, Zigeuner!", schimpfte der Mann. „Woher habt Ihr dieses Kind?!"

„Was? Aber wieso?", fragte Clopin scheinheilig. „Das ist mein Sohn", setzte er fort, wobei er das Kind fester an sich drückte.

Die helle Haut, sowie das blonde Haar sprachen nicht unbedingt dafür, dass das Kind von Clopin stammte.

„Euer widerwärtiges Volk kann nur Missgestalten zur Welt bringen", blaffte die Stadtwache erbost. „Gebt zu, dieses Kind gestohlen zu haben und lasst es herunter! Ich werde euch festnehmen und an den Pranger stellen lassen."

„Haltet ein, Monsieur", rief Clopin. „Urteilt nicht vorschnell. Erlaubt mir Euch zunächst mein Kunststück vorzuführen, ehe Ihr Eure Entscheidung trefft."

„Was?!"

„Bitte, es geht auch ganz schnell", versicherte Clopin, der dem Soldaten jetzt direkt gegenüberstand. „Gleich, Monsieur, werdet Ihr eine Vielzahl von bunten Sternen erblicken!" Mit diesen Worten trat Clopin dem Mann direkt zwischen die Beine.

Dem schmerzdurchzogenen Gesichtsausdruck folgte ein erstickter Schrei. Japsend fiel das Opfer auf die Knie, wobei es sich wimmernd an die Männlichkeit griff.

„Ein Trick, der bei Männern immer funktioniert", sagte Clopin an den Jungen gewandt, als er gemeinsam mit ihm vom Tatort flüchtete.

Für das Kind war dieser Morgen so aufregend, wie auch ereignisreich. Ehrfürchtig betrachtete er Clopin, der seinen Arm fest um den Rücken des Jungen geschlungen hatte. Welche Geheimnisse verbargen sich hinter dieser Maske und woher nahm dieser Mann all sein Geschick? Obwohl er die Antwort darauf noch nicht kannte, beschloss der Junge alles daranzusetzen, um eines Tages genauso wie dieser Narr zu werden.

Als sie den Friedhof außerhalb der Stadt erreichten, setzte Clopin den Jungen wieder ab. Danach entfernte er den Deckel von einem der Grabsteine, unter dem sich eine Treppe befand. Lächelnd nahm er den Jungen zur Hand, um diesen in das Versteck zu führen. Sofort eilten zwei Frauen heran, um das magere Geschöpf in ihre Obhut zu nehmen, doch bevor der Junge in sein neues zu Hause gebracht wurde, drehte er sich noch einmal um.

„Darf ich Euch noch nach Eurem Namen fragen?"

„Aber gewiss doch!" Grinsend streckte der Mann die Arme auseinander. „Man nennt mich Clopin Trouillefou." 

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