46| der Gesalbte

Der Tag war entspannt verlaufen und wir hatten genug Zeit gehabt um die Dinge, die wir am Vortag nicht geschafft hatten, nachzuholen. Nichtsdestotrotz beunruhigte mich die Umgebung weiterhin genauso so sehr wie sie mich faszinierte. Ich hatte mein Leben lang von diesem Fest geträumt und jetzt wo ich hier war, wusste ich nicht wohin mit meinen Gefühlen.

Es war mittlerweile kurz vor einundzwanzig Uhr und ich wusste das die Stürmer bald zur Eröffnungszeremonie wollten. Die Sonne würde in einer halben Stunde untergehen und die Festlichkeiten würden damit offiziell beginnen. Mir war bei dem Gedanken so vielen Werwölfen potenziell ausgesetzt zu sein nicht wohl, aber ich erinnerte mich immer wieder an die Begegnung mit Sara zurück. Sie hatte mich gesehen, doch nicht erkannt. Das sollte mir eigentlich genug Gewissheit geben. Oder war ich einfach nur paranoid?

Ich saß vor unseren Zweimannzelt und beobachtete wie Almonda aus ihrem Lager trat. Mel war kurz in den Wohnwagen, während ihre Eltern mit mir gemütlich vor dem kleinen Feuer saßen und auf ihre Tochter warteten. Sie unterhielten sich angeregt und ich hörte nur passiv zu. Wahrscheinlich würde die Amalon Familie ein Teil der Zeremonie leiten. Dementsprechend war die Wahrscheinlichkeit gar nicht so gering das ich einen von ihnen begegnen würde. Doch Mathilda hatte mir nahe gelegt sie zu begleiten. Die Eröffnung wäre etwas besonderes und wenn ich schon hier war, dann sollte ich ihrer Meinung nach den Anfang auch nicht verpassen.

Ich strich mir gähnend über meine Oberarme. Es war zwar erstaunlich warm, aber wenn die Sonne nicht mehr da war, wurde es schnell frisch. Zum Glück hatte ich nicht nur Sommer Klamotten mitgenommen, obwohl man Anfang Juni schon von warmen Temperaturen ausgehen durfte. Ich schloss meine Sweatshirt Jacke und drehte mich um, als ich hörte wie Mel aus dem Wohnwagen stieg.

„Können wir?", fragte Herold und Mel nickte.

„Willst du uns begleiten?", wandte sich Mel an mich und ich seufzte. Ich wusste es immer noch nicht so recht. Und ich hatte auch keine Zeit mehr groß darüber nachzudenken.

„Gib dir ein Ruck und denk nicht so viel nach. Mein Talisman ist ausgezeichnet.", fügte Almonda genervt von der Seite hinzu. Innerlich verdrehte ich bei ihren ruppigen Worten die Augen.

„Ich komm mit.", entschied ich spontan. Mel grinste und Mathilda schlug erfreut die Hände zusammen.

„Perfekt, dann können wir ja direkt los!"

Ich nickte bestätigend und erhob mich aus dem Campingstuhl. Die Stürmers hatten zum Glück einen Schutzzauber angebracht, weshalb wir uns nicht wegen den Wertsachen Sorgen zu machen brauchten. Dennoch blieb ein unwohles Gefühl in meiner Magengegend, als ich auf unseren Platz zurückschaute. Hoffentlich würde ich die Entscheidung nicht bereuen.

Mel nahm meine rechte Hand und zog mich mit sich in den Trubel der Stadt. Viele hatten ihre Stände bereits aufgebaut und liefen genau wie wir in die Mitte der Stadt. Dort war eine große Bühne aufgebaut worden, die einen guten Blick auf die gesamte Stadt bot und auf der die heutige Zeremonie abgehalten wurde.

Je näher wir der Mitte kamen, desto voller wurde es. Oftmals musste ich Hörnern, Schuppen, Schwänze oder Flügeln ausweichen um niemanden anzurempeln. Es war eng und ging nur langsam voran. Die meisten sahen glücklich und voller Erwartungen aus. Ich sah sogar nur wenige Werwölfe in ihrer wölfischen Form. Vielmehr war ich von all den Gerüchen und den Lärm viel zu sehr eingenommen.

Nachdem wir den Rand des Platzes erreicht hatten, gingen wir an der Seite entlang weiter nach vorne Richtung Tribüne. Die Stürmers wollten nicht in der großen Menge sein, die sich von der Tribüne zu den Seitenstraßen und dem Platz erstreckte. Jetzt schon war es zum Bersten voll und wir hatten eigentlich noch einige Minuten, bevor die Sonne am tiefsten stand.

Wir hielten ungefähr hundert Meter vor der Tribüne an und hatten zum Glück einen angenehmen Platz am Rand gefunden. Wir alle hatten noch ein wenig Platz und standen nicht Körper an Körper gedrängt, wie in der Menge.

„Was passiert eigentlich alles in der Eröffnungszeremonie?", fragte ich interessiert in Richtung Herold. Ich war zwar bei den Werwölfen aufgewachsen, aber ich hatte nicht viel über die Traditionen unserer Gemeinschaft in Erinnerung behalten. Vieles was ich damals erfahren hatte, war über zehn Jahre her und da ich mich hauptsächlich unter Menschen bewegte, konnte man schnell etwas vergessen.

„Die großen Vertreter der Gemeinschaft beginnen die Zeremonie mit den traditionellen Gelübden und halten die Rede über das Gleichgewicht der Magie, welches sie jedes Fest vortragen. Danach kommt wahrscheinlich der hohe Rat der Wölfe die dieses Fest für sich beansprucht haben und ehren diejenigen, die viel für das Fest geleistet haben. Und am Ende erfolgt die Salbung an denjenigen, den die Wölfe als den Hauptverantwortlichen für das Fest ernannt haben."

Irgendwo tief in meinen Erinnerungen hatte ich schon mal von dem Gesalbten gehört und das die Salbung Teil des Festes war. Aber ich wusste weder was diese Salbung genau war, noch was sie bewirkte.

„Und was passiert bei der Salbung? Ich kann mich echt nicht mehr daran erinnern was mir damals darüber erzählt wurde.", sagte ich und Herold lächelte bloß.

„Naja, eigentlich wird der Gesalbte von einem Magiebegabten gesalbt und für heiliggesprochen. Der Gesalbte soll angeblich von den Göttern begleitet und behütet werden, da dieser für den Erhalt der Magie sorgt. Inwiefern das stimmt kann ich dir nicht sagen. Aber es gibt ein großes Interesse an der Salbung. Es soll den Körper und Geist stärken und Magiebegabte noch mächtiger machen. Die Salbe die in einer Zeremonie vorher zubereitet wurde, trägt einen Teil aller Magiequellen in sich und sorgt dafür das der Träger die wiedergewonnene Magie speichern kann. Wahrscheinlich wird es aber einem Werwolf nicht viel bringen. Magie anzuwenden gehört nicht gerade zu deren Stärke."

Ich nickte bestätigend und sah wieder zur Tribüne.

„Meiner Meinung nach ist die Salbung wie immer zu hoch bewertet. In den letzten Jahren habe ich nicht einen ehrenwerten Gesalbten gesehen. Würden die Götter wirklich einen Blick auf diese Personen werfen, würden sie sich schämen!", warf Almonda ein und Mel sah verwirrt zu ihrer Oma.

„Wieso das denn?"

„Ach das fragst du noch? Jedes Jahr ist es dieselbe Leier! Die Gesalbten feiern als wären sie pubertierende Teenager. Sie tun so als ob sie sich alles leisten könnten und vögeln durch die halbe Weltgeschichte. Hätten sie auch nur einen Funken Anstand, würden sie die ganzen Angebote der armen Seelen abschlagen und ihre Hormone beisammen lassen."

Ich blinzelte verwirrt und selbst Mel öffnete überrascht, bei den Worten ihrer Oma, den Mund.

„Mama! Das kannst du doch nicht sagen!", sagte Mathilda schockiert und Almonda zuckte mit den Schultern.

„Was? Es stimmt doch! Wenn du wüsstest wie viele Kinder die Gesalbten schon in die Welt gesetzt haben, nur weil sie ihren Trieben nicht widerstehen konnten, würdest du nicht so schockiert gucken."

Ich war etwas überrascht, aber es wunderte mich nicht all zu sehr. Es war bekannt das auf dem Fest viele Orgien stattfanden und es gab extra Freudenhäuser in denen sich die freizügigeren Wesen unserer Gemeinschaft zurückzogen. Es wäre da wahrscheinlich wirklich keine große Überraschung, wenn der Gesalbte als Heiliger gefeiert und begehrt wurde. Nichtsdestotrotz wurden meine Wangen heiß, als ich daran dachte was viele hier trieben. Ich war Jungfrau und hatte erst vor kurzem meinen ersten Kuss an Nico verloren. Ich hatte nicht vor auch noch hier meine Unschuld zu verlieren, wie viele andere vor mir.

„Hast du denn eine Idee wen die Wölfe zum Gesalbten ernennen könnten?", fragte mich Mel, während sie ihre Mutter und Großmutter ignorierte die weiterhin miteinander diskutierten.

„Keine Ahnung. Ich weiß das die Oberhäupter viel gemacht haben, aber ich wüsste ehrlich gesagt nicht wem die Salbung etwas bringen sollte. Wenn nur magiebegabte Wesen davon profitieren, dann wird es wahrscheinlich nur so eine Sache der Ehre sein. Vielleicht hat der hohe Rat das für sich beansprucht oder einer der Oberhäupter wird gesalbt."

„Hat nicht die Amalon Familie viel fürs Fest gemacht? Diejenigen die dich auch eingeladen haben."

„Ich denke schon. Immerhin haben sie ihr Land zur Verfügung gestellt, aber wer da am meisten geleistet hat, weiß ich nicht."

„Wenn es nach mir ginge, hätte es keiner dieser Idioten verdient. Wer jemand aus den eigenen Reihen so sehr quält, hat nicht das Recht als heiliggesprochen zu werden."

Ich erwiderte nichts auf ihre Bemerkung, aber ich konnte es verstehen. Mel wusste was die Blackwoods und Amalons mir angetan hatten. Und damit hatten sie nicht erst letztes Wochenende angefangen. Das mir meine Schwester verschwiegen wurde und mir jemand vorgaugelte ich wäre seine Gefährtin, war nur der letzte Tropfen der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Und ich würde den Teufel tun, um mich dieser Schmach erneut auszusetzen. Es war gut das ich nächste Woche eine freie Person, ohne Verpflichtungen sein würde.

Es ging ein merkliches Raunen durch die Menge als die ersten Personen die Tribüne betraten. Die Tribüne war nach Süden gerichtet, genau dahin wo die Sonne den Horizont traf, sodass die letzten Sonnenstrahlen die oben stehenden Personen streifte. Ich musste meine Augen zusammenkneifen um alle zu erkennen. Zehn Gestalten in dunklen Roben standen in der Mitte der Tribüne. Das waren die Vertreter der Rassen und der Magiequellen.

Es gab viele unterschiedliche Religionen innerhalb der Gemeinschaft und ich wurde in den Glauben an Luna, die Göttin des Mondes, erzogen. Für viele andere gab es jedoch neun weitere Götter denen sie huldigten. Und all diese Götter waren mit den Himmelskörpern unseres Sonnensystems verbunden. Sie gaben uns Zugriff auf ihre Kraft, welche wir im Alltag als Magie bezeichneten. Deswegen gab es auch zehn Magiequellen und zehn Vertreter. Jeder von ihnen konnte auf eine andere Quelle zugreifen. Manche von uns besaßen bloß nur noch eine Affinität zu einer Magiequellen, aber keinen Zugriff auf diese. Wie die Werwölfe. Wir fühlten uns dem Mond und Luna verbunden. Unser erster Vorfahre war der Gefährte unserer Göttin, weshalb sie immer noch den Wölfen das Geschenk der Gefährtenschaft überreichte und über uns wacht.

Die Vertreter hatten sich Kapuzen übergeschlagen, aber man konnte anhand der Gestalt gut erkennen, welcher Rasse sie angehörten. Eine Nymphe mit Sumpfgrüner feuchten Haut trug keine Schuhe, weshalb man die Schwimmhäute zwischen den Zehen erkannte. Ein anderer war gerade mal einen halben Meter hoch und war wahrscheinlich ein Anhänger des kleinen Volkes. Während ein anderer Ziegenbeine hatte und sehr groß war. Ich wusste nicht wohin mit meinen Augen und sog alle Eindrücke auf.

An der Seite der Tribüne stiegen weitere Personen hoch. Mel verzog angestrengt das Gesicht, als eine brünette Frau mit strahlend grünen Augen die Tribüne betrat.

„Kennst du sie?", fragte ich neugierig nach. Sie war eine sehr schöne Frau und wahrscheinlich war sie bei ihrer sehr menschlichen Erscheinung eine Hexe.

„Was hast du gefragt?", fragte Mel etwas verwirrt.

„Kennst du die Frau da oben? Die mit den grünen Augen."

„Warum sollte ich?", sagte sie prompt und ich zog eine Augenbraue hoch.

„Keine Ahnung. Du hast eben nur so komisch geguckt als sie die Bühne betrat."

Mel winkte ab.

„Mich hat bloß die Sonne geblendet."

„Na dann."

Ich wandte mich wieder der Bühne zu. Auf der anderen Seite fingen die Werwölfe an Stellung zu beziehen. Als erstes sah ich einige mir unbekannte Wölfe. Sie waren alle recht alt und groß gebaut. Sie trugen helle weich fließende Stoffe und ich wusste instinktiv das es Mitglieder des hohen Rates sein mussten. Erst nach ihnen erschienen die Personen die ich erwartet hatte. Die Oberhäupter traten nacheinander auf die Bühne und gesellten sich neben die Mitglieder des hohen Rates.

Mein Vater trug einen schwarzen Anzug und Silvana ein enganliegendes Kleid in der gleichen Farbe. Die Tarantinos und die Aamonts schienen dagegen sommerlicher und nicht all zu formell. Das Paar welches direkt neben den Ratsmitgliedern stand, war das Amalon Paar. Anna hatte ein Lächeln auf dem Gesicht und sprach Nelson etwas ins Ohr. Bei ihrem Anblick zog sich mein Herz zusammen. Die beiden waren so freundlich und nett zu mir gewesen, das ich mich fragen musste, ob auch dieses Verhalten nur vorgespielt war. Sie hatten mich als Gast willkommen geheißen und mir ein Quartier über das Fest angeboten. Waren sie genauso hinterhältig wie ihre Söhne?

Zum Glück sah ich niemanden von den beiden. Selbst mein Bruder war nicht auf der Tribüne und würde sich wahrscheinlich irgendwo mit Mia und Luna das Ganze anschauen. Etwas traurig und eifersüchtig wurde ich schon bei dem Gedanken, das mein eigener Bruder wahrscheinlich wenig Interesse daran zeigte Zeit mit mir  zu verbringen, aber kein Problem damit hatte seiner zweiten Schwester viel Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken. Auch wenn es unsinnig war auf ein Kind eifersüchtig zu sein.

Die letzten Personen die auf die Bühne traten, waren zwei junge Hexen die sich neben die grünäugige Frau positionierten. Trommeln wurden in der Nähe geschlagen und ich sah aus den Augenwinkeln, wie die ersten Fackeln entzündet wurden. Die Sonne war nur noch schemenhaft am Firmament zu erkennen. Mel umfasste meine Hand, als die erste Person der zehn Vertreter nach vorne trat.

„Wir begrüßen jeden der am heutigen Tag hier erschienen ist und danken den Göttern für ein weiteres Jahr voller Frieden und Wohlstand. Es ist uns eine Ehre auch dieses Fest eröffnen zu dürfen. Wir danken all jenen die unter dem Dienst der Götter standen und für den Erhalt der Magie gesorgt haben. Denn ohne dieses alljährliche Ritual, würde unsere Welt die wir kennen in Chaos und Dunkelheit versinken. Die Natur würde aus dem Gleichgewicht geraten und die magische Welt würde unter den Schatten der Sterblichen untergehen. Einst waren wir nahe dieser Katastrophe, aber unsere Vorfahren waren es die das Fest in der Mitte des Jahres, wenn die Magie ihren Tiefpunkt erreichte, ins Leben rufte. Sie huldigten den Göttern, bereiteten Opfergaben dar und begaben sich in die Hände der Götter. Und wir werden es ihnen nachtun. Wir werden feiern, beten, tanzen, trinken, opfern und kämpfen um unseren Göttern zu huldigen."

Applaus erklang als sich ein weiterer Vertreter zum vorderen gesellte.

„Die Götter begleiten jeden von uns auf seinem Pfad. Also liegt es auch in unserer Verantwortung, wie in all den Jahren zuvor, uns als würdig zu erweisen. Den Götter dienen zu dürfen und auf ihre Kraft Zugriff zu haben. Denn ohne die Götter wären wir nichts im Vergleich zur sterblichen Welt. Lasst uns also im letzten Moment, in dem uns Solis sein Licht schenkt und seiner Schwester Luna Platz macht, innehalten."

Die Menge wurde still und viele senkten ihre Köpfe, wie die Vertreterin von Solis, um innezuhalten. Auch ich senkte den Kopf aus Respekt, schloss aber die Augen nicht. Der Gott des Tages und der Wärme würde es mir sicherlich nicht übel nehmen.

Es verging vielleicht eine Minute des Schweigens, als der dritte Vertreter erschien. Nach und nach kamen alle zehn Vertreter nach vorne und erklärten jeweils in kurzen Sätzen, weshalb wir hier waren und wieso das Fest so wichtig war, ehe der erste Vertreter erneut die Stimme erhob.

„Nun wollen wir jedoch diejenigen ehren, die für den Erhalt und Aufbau des diesjährigen Festes verantwortlich waren. Ich bitte die Vertreter der Werwölfe nach vorne."

Es brandete erneut Applaus auf, doch vielen hielten auch die Hände unten und beäugten die Mitglieder des hohen Rates, die den Vertretern dankbar zunickten, ehe sie ihre Plätze einnahmen. Die Sonne war kaum noch zu erkennen und nur noch die Farben am Horizont erinnerten an den Sonnenuntergang.

„Es war uns ein Privileg und eine große Ehre unseren Beitrag zum Erhalt der Magie tun zu dürfen. Es ist etliche Zeit vergangen, als die Werwölfe das letzte Mal die Chance hatten den Göttern zu huldigen und wir haben dieser Aufgabe voller Ehrfurcht entgegengesehen."

Mel beugte sich zu mir herüber und sagte: "Noch dicker auftragen können die auch nicht oder?"

Meine Mundwinkel zuckten, doch nach Lachen war mir gerade nicht zumute. Sie hatte recht, aber alles hier war wahrscheinlich zu dick aufgetragen und dramatisiert. Ich hörte nicht mehr aktiv zu und sah mich eher um. Die Menge lauschte weiterhin gespannt, obwohl einige anscheinend Zweifel an den Aussagen des Wolfes hegten. Soweit ich wusste waren wir nicht die beliebteste  Rasse die es gab, aber ich hätte nicht gedacht das der Unmut so groß sei. Was wohl der hohe Rat alles getan hatte, um sich das Fest unter die Nägel zu reißen? Mein Blick wanderte wieder zur Bühne. Die Oberhäupter neigten die Köpfe, nachdem sich die Ratsmitglieder zu ihnen wandten.

Mein Vater lächelte stolz und auch Nelson und die anderen schienen voller Zufriedenheit, als sie von den Anwesenden Zuschauern Applaus erhielten. Ich ließ meine Hände unten.  Ich wusste nicht ob aus Trotz oder Unwohlsein, aber für mich fühlte es sich nicht richtig an denjenigen zu applaudieren, die mich einst schikanierten.

Als der Himmel sich allmählich immer dunkler färbte und die Fackeln die eigentliche Lichtquelle bildete, erklangen erneut die Trommeln. Die Ratsmitglieder hatten sich mittlerweile wieder nach vorne gedreht und blickten kurz in die Richtung der grünäugigen Hexe.

„Zuletzt wollen wir denjenigen danken, der besonders viel für das Fest geleistet hat. Der diesjährige Gesalbte, stammt aus der Familie die uns ihr Land und ihre Ressourcen zur Verfügung gestellt hat. Er hat als Organisator die Verantwortung und auch die Macht über das Fest, vom hohen Rat verliehen bekommen, um all dies heute hier zu ermöglichen. Wir bitten um Applaus für den diesjährigen Gesalbten. Benjamin Amalon."

Mein Herz setzte einen Schlag aus, ehe es mit vollem Gallop an Tempo aufnahm. Meine Augen weiteten sich, als ich sah wie Benjamin in weiß gekleidet die Bühne betrat. Er war barfuß und trug nur eine Leinenhose und ein offenes Hemd, welches all seine Bauchmuskeln zur Schau stellte.

Mel zischte überrascht neben mir und sah von Ben zu mir hinab. Doch ich konnte auf ihren Blick nicht reagieren. Viel zu sehr war ich davon geschockt, zu sehen was vor mir ablief. Tosender Applaus schallte in meinen Ohren, als Ben sich mit ausdruckslosem Gesicht in die Mitte der Bühne wagte. Sein Blick galt der Menge zu seinen Füßen und mir stockte der Atem. Ich hätte besser zuhören sollen. Waren es nicht Bella und Nico gewesen die mir erzählten das Benjamin viel zu tun hatte? Hatte Benjamin nicht den Ball organisiert? Wo hatte er sich die Zeit für das Fest bloß genommen? Und wie zum Teufel konnte er sich mit seinem Bruder solch bescheuerte Witze ausdenken, wenn er doch genug zu tun hatte?

Viele unterschiedliche Gefühle tobten in mir, als ich sah wie Ben sich vor all den Zuschauern hinkniete und starr nach vorne blickte. Die Mitglieder des hohen Rates machten Platz und die Hexen traten um Benjamin herum. Die grünäugige Hexe lächelte breit, nachdem sie Benjamin das offene Hemd auszog und es an eine der beiden jüngeren Hexen übergab. Die andere stand auf ihrer linken Seite und hielt eine tiefschwarze Schale in den Händen.

„Ist das der Typ von dem du erzählt hast?", fragte Mel leise und ich war dankbar das sie nicht in Gegenwart ihrer Familie die Details erwähnte. Ich nickte schluckend und blickte in die mitleidigen Augen von Mel.

„Du wusstest nicht das er dort sein würde richtig?"

Wieder ein Nicken meinerseits. Mel fluchte und schaute verachtend in Richtung Bühne.

„Wenn du willst können wir verschwinden. Ich könnte verstehen, wenn du dir die Salbung dieses Idioten nicht ansehen willst.", flüsterte sie. Mels Eltern sahen verwirrt zu uns herüber und mit einem Blick in die Menge hinter uns schüttelte ich den Kopf.

„Das lohnt sich nicht. Wir kommen nicht eher hier raus.", sagte ich genauso leise. Mel sah mich mitfühlend an und drückte meine Hand fester.

„Wie du meinst.", sagte sie nicht ganz überzeugt. Ich ging nicht weiter drauf ein und sah wieder zur Bühne. Die grünäugige Hexe hatte sich neben Ben platziert, eine Hand auf seiner Schulter. Mir wurde schlecht bei dem Anblick.

Ich wusste das ich enttäuscht und verraten wurde, aber es nochmals vor Augen geführt zu bekommen, lies mich nicht kalt. Wenn Almonda recht hatte und der Gesalbte wirklich nur zum Feiern und für Orgien da war, dann kam mir Benjamins Scherz nur umso schlimmer vor. Jemand der gesalbt werden wollte, sich hier vergnügen würde und mir vorgaugelte ich wäre seine Gefährtin, konnte es doch niemals ernst meinen. Nico hatte mich verascht und das wusste ich. Aber das ich all das viel früher hätte merken können, traf mich unvorbereitet. Was eine Ironie das Benjamin wahrscheinlich die nächsten Tage den Spaß seines Lebens haben würde, während ich mir noch Gedanken gemacht hatte, ob ich nicht zu voreilig mit ihm und seinem Bruder umgegangen war. Ich sollte aufhören mir Vorwürfe zu machen. Ich war bloß zu naiv gewesen.

Mit einer inneren Wut mit der ich nicht gerechnet hatte, blickte ich zu Ben hinauf. Die Hexe stellte sich als Oberhexe Vandola vor und erzählte was für eine weitreichende Tradition die Salbung war. Ihre Worte verschwammen und ich verstand nicht viel von dem was sie sagte. Meine Augen waren auf den leeren Blick von Ben geheftet, der seine Augen über die Menge schweifen lies. Auch wenn er gerade nicht sehr glücklich aussah, hätte ich wetten können das er im Inneren vor Schadenfreude lachte.

Als Vandola ihre Finger in die weiße Paste tauchte, riss ich den Blick von Bens Gesicht los um den Fingern Vandolas zu folgen. Sie zeichnete verschiedene Linien und Formen auf Bens Wangenknochen und Stirn, während sie in einem Singsang die magischen Worte von sich gab die die Paste hell aufleuchten lies.

Ben hatte die Augen geschlossen, da die Salbe blendete und ich verzog angeekelt das Gesicht als Vandola ihre Hände über seine Brust und weiter hinunter zu seinem Bauchnabel gleiten lies. Sie schien sich Zeit zu lassen und grinste weiterhin übers ganze Gesicht. Auch Mel musste das Gesicht verziehen und ich hörte ihre verachtenden Worte nicht. Zu sehr war ich von den lauten Trommeln, dem dazupassenden Rhythmus der klatschenden Hände und den Fingern von Vandola gefangen die auf Wanderschaft über Bens Körper glitten.

Mein Herzschlag schlug im Gleichklang der Trommeln und ich hatte das Gefühl kaum Luft zu bekommen. So viele negative Gefühle stiegen mir bei diesem Anblick hoch, doch ich konnte den Blick nicht abwenden. Die Hände der Hexen glitten über die Schultern und hinunter bis zum Steißbein. Die Fackeln ließen Bens Haut viel dunkler erscheinen als sie war, und die leuchtende Paste stellte einen abstrakten Kontrast dar. Er öffnete erst die Augen, als Vandola mit der letzten Linie fertig war und stolz ihr Werk von hinten betrachtete.

„Begrüßen wir nun den diesjährigen Gesalbten, Benjamin Amalon der sich aufopferte um für den Gehalt der Magie aufzukommen. Danken wir ihm, dass wir heute hier sein dürfen und uns die Chance geboten wird den Göttern zu huldigen. Begrüßen wir ihn in unseren Reihen. Den Heiligen Benjamin. Mögen Terra und Luna unsere Zeugen des heutigen Tages sein."

Die Menge brach in Jubel aus und die angestaute Energie löste sich aus den Kreaturen heraus die schweigend und voller Anspannung die Salbung genossen hatten. Ben erhob sich und die Vertreter der Göttinnen Terra und Luna traten aus dem Hintergrund hervor, um beide Hände von Ben zu erfassen. Sie hoben mit geballten Fäuste seine Arme. Die Menge wurde lauter und mir wurde schlechter.

„Lasset das Fest beginnen!", erklang es im Einklang der beiden Vertreterinnen. Die Trommeln wurden lauter und die Menge tobte. Ich wich zur Seite um von niemanden getroffen zu werden.

Ben stand immer noch mit ausdruckslosem Gesicht da oben, beide Arme erhoben, während sein Blick über die Menge schweifte. Kurz hatte ich Angst das er mich bemerken könnte, doch sein Blick flog über mich hinweg. Mel hielt immer noch fest meine Hand umfasst und ich musste die Augen schließen, um mich nicht zu Übergeben. Ich wusste nicht wieso ich so heftig reagierte, doch ich war heilfroh als ich sah wie die Ben und die anderen die Bühne verließen.

Die Menge teilte sich und viele verließen durch die Nebenstraßen den Platz. Mels Eltern sahen besorgt zu mir rüber.

„Lasst uns schnell verschwinden.", sagte Mel an ihre Eltern gewandt, die bestätigend nickten.

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