Kapitel 1: Trübes Wiedersehen
„Tiny, sieh mal dort." Mortimer sprach den Kosenamen so zärtlich und liebevoll aus, dass Clementine ihm kaum böse sein konnte, obwohl sich ein solches Benehmen in der Öffentlichkeit ganz und gar nicht schickte.
„Ist das nicht Mr..." Mortimer hielt inne und versuchte, sich an den Namen zu erinnern, doch er wollte ihm nicht einfallen. „Du weisst schon. Miss Eleanores Witwer."
„Mr. Young", half Clementine ihm auf die Sprünge und besah sich den Herrn auf der anderen Strassenseite, auf den Mortimer unauffällig gedeutet hatte. „Ich glaube, das ist er wirklich."
Seit der Beerdigung Eleanorens vor beinahe einem Jahr hatte Mr. Young sich fast gänzlich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.
Clementine erinnerte sich noch gut an sein geistesabwesendes Murmeln, als sie und Mortimer ihm ihr tiefstes Beileid ausgedrückt hatten: „Ich kann nicht glauben, dass sie fort ist... einfach so..."
Er hatte sie nicht einmal angesehen, sondern nur versunken in undurchdringlichem Gedankengewirr auf den Grabstein gestarrt, bis ihm schliesslich das Herz so schwer geworden war, dass er weinte wie ein verlorener kleiner Junge und keine wohlmeinenden Worte oder Gesten vermochten, ihn in seinem Kummer zu trösten.
„Du meine Güte, er sieht ja fürchterlich aus", stellte Clementine fest.
Frederik Young war nie ein besonders schöner Mann gewesen, doch die Zeit und sein Dasein als Witwer hatten es wahrlich nicht gut mit ihm gemeint. Er war ein Schatten seiner Selbst geworden: Dürr und von kränklicher Blässe. Seine klaren, blauen Augen, die einst von einem Mann mit wachem Geist gekündet hatten, blickten nun träg' und trübe aus tiefen, dunklen Höhlen in die Welt und sein vormals bereits farbloses Haar schien noch eine Spur fahler geworden zu sein und war wohl seit langem nicht mehr geschnitten worden.
„Er hat Miss Eleanores Tod wohl noch immer nicht überwunden", vermutete Mortimer mitleidig. „Sieh doch, er trägt noch immer ein Trauerband an seinem Hut. Er muss sie wirklich sehr geliebt haben."
Clementine konnte nicht umhin, eine gewisse Bewunderung für Mr. Youngs hingebungsvolle Trauer in Mortimers Worten heraus zu hören, obwohl es für einen Gentleman eigentlich unangebracht war, so lange zu trauern. Das ausgiebige Beweinen der Verstorbenen war die Domäne der Damen, denen ein derart schwaches Verhalten zugestanden wurde und auch diese durften sich keinesfalls so sehr gehen lassen, wie Mr. Young es zu tun schien.
„Komm", sagte Mortimer und schickte sich an, die Strasse zu überqueren. „Wir wollen Mr. Young auf einen Tee einladen. Er sieht aus, als könnte er einen vertragen und es wird ihm sicherlich gut tun, etwas unter Leute zu kommen.
Frederik runzelte einen Moment lang die Stirn, während er versuchte, den Gentleman, der ihn gerade aus heiterem Himmel zu einem Tee eingeladen hatte, zuzuordnen. Er war sich sicher, dass er ihn schon einmal gesehen zu haben, es wollte ihm jedoch partout nicht einfallen, wo.
Die kleine, etwas hagere Dame, welche den Gentleman begleitete, erkannte er allerdings rasch: „Ach, sie sind doch Eleanores Freundin. Clementine, nicht wahr?"
Clementine nickte und hakte sich bei ihrer Begleitung unter. „Sie müssen meinen Mortimer entschuldigen", sagte sie, da sie Frederiks Verwirrung über die plötzliche Einladung bemerkt hatte. „Er wollte Ihnen nur etwas Gutes tun und hat gar nicht daran gedacht, wie sehr er Sie damit überrumpelt." Ihre Worte waren voller gutmütigem Tadel, als spräche sie nicht von ihrem Ehemann, sondern von einem Kind, das sich ungezogen verhalten hatte. Mortimer störte sich nicht im Mindesten daran.
„Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber...", bemühte sich Frederik zu sagen. „Ich habe leider gar keine Zeit. Ich... muss dringend nach Hause... Das Hausmädchen... Sie verstehen?!"
Natürlich war allen Beteiligten klar, dass es sich hierbei um eine bemerkenswert faule Ausrede handelte.
Einerseits tat ein ordentliches Hausmädchen ihre Arbeit selbstverständlich auch in Abwesenheit des Hausherren, andererseits hatte Mr. Young bisher nicht den Eindruck eines Mannes, der in grosser Eile war, gemacht. Mortimer schien er vielmehr ziellos umher zu streifen, wie er selbst es zuweilen in Vollmondnächten zu tun pflegte, wenn er keinen Schlaf finden konnte.
„Mein lieber Mr. Young", versuchte er es noch einmal. „Ich weiss, Sie haben noch immer grossen Kummer wegen der armen Miss Eleanore und ich bin bei Leibe kein Arzt, aber ich glaube nicht, dass es gesund ist, wenn Sie die ganze Welt einfach aussperren. Ihr Leben muss weiter gehen, auch wenn das Ihrer lieben Frau ein solch frühes Ende fand."
Frederik blickte zu Boden, als wäre ihm bisher gar nicht bewusst gewesen, wie durchschaubar die ganze Situation tatsächlich war.
„Sie verstehen nicht", murmelte er und machte dabei ein Gesicht, als bräche ihm gerade erneut das Herz.
Mortimer nickte und zog Clementine unbewusst etwas näher an sich. Natürlich konnte er nicht verstehen, was Eleanores Verlust in Mr. Youngs Herzen und seiner Seele angerichtet hatte und er war noch nie glücklicher darüber, unwissend zu sein. Er reichte Mr. Young seine Visitenkarte.
„Sollten Sie irgendwann doch beschliessen, dass es wieder Zeit ist, um unter Menschen zu kommen, oder Sie jemanden brauchen, dem sie ihr Herz bei einer Tasse Tee ausschütten und mit dem Sie Ihr Leid teilen können, lassen Sie es mich bitte wissen."
„Natürlich."
Befriedigt sah Mortimer zu, wie seine Visitenkarte in der Innentasche von Mr. Youngs Rock verschwand.
„Wenn Sie mich dann entschuldigen wollen."
Mortimer trat zur Seite und reichte Frederik die Hand. „Alles Gute, Mr. Young. Und auf ein baldiges Wiedersehen."
„Ihnen auch alles Gute", bemühte Frederik sich zu sagen. Vor Clementine zog er knapp, aber höflich den Hut. „Ma'am."
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