Kapitel 2
"Was denkt ihr, wie es ausgeht?", wand sich mein Teampartner Jan an uns. Er war ebenfalls Sanitätshelfer. Eine Stufe zwischen Ersthelfer und Rettungssanitäter. Diese Beschreibung gibt es nur in Deutschland. Andere Länder haben diese Ausbildung nicht einmal.
"1-0 für die Eintracht", meinte ich Schulter zuckend. Mir war es eigentlich egal. Aber wenn die Eintracht gewann musste ich nicht länger bleiben, um irgendwelche Verletzungen von Schlägereien zu versorgen.
"Ich sage 2-1", sagte Simon selbstbewusst. Er war unser Ersthelfer und konnte deswegen als dritter mit auf die Position. Das er schon seinen Funklehrgang hatte, durfte er dafür funken. Vielleicht auch deswegen, weil weder Jan, noch ich wirklich Lust aufs Funken hatten.
Simon war ein riesiger Eintrachtfan und machte dieses Dienste hier wirklich nur, um die Spiele sehen zu können. Für Jan und mich waren das mehr Helferstunden, die wir sammeln konnten.
"Ich sage 1-1. Ein schönes Unentschieden", grinste Jan.
Vor jedem Spiel machten wir das. Es war keine richtige Wette, es gab keinen Wetteinsatz oder so etwas. Wir hatten einfach unseren kleinen Spaß damit.
Der Ansturm auf den Eingang zum Block ließ nach. Alle suchten sich in der Stehtribüne noch einen guten Platz und bauchten schon mal ihre Fahnen zusammen. Das Spiel würde bald losgehen.
Das Lied "Im Herzen von Europa" wurde angestimmt und die bekannte Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus. Alle Fahnen waren im Einsatz, alle standen und alle Schals wurden für die gute Sichtbarkeit über dem Kopf ausgestreckt präsentiert. Ich konnte nicht viel sehen, da die riesigen Fahnen meistens meine Sicht versperrten. Aber wenn ich etwas sah, dann schien es jedes Mal so, als hätte sich das gesamte Stadion in eine einzige schwer, weiß, rote Masse verwandelt.
Und da betrat auch schon die Mannschaft das Spielfeld. Unter Juben und Grölen begann das Spiel.
*
Mittlerweile war Halbzeit und es stand eins zu null für die Eintracht. Die Stimmung war gut, aber für uns war noch alles offen. Jeder von uns konnte noch recht behalten mit seiner Wette.
Wir wurden nach draußen in den äußeren Ring gestellt, um während der Pause den Außenbereich abzudecken. Ich hatte mir schon meine Handschuhe angezogen, denn in jeder Halbzeit würden mindestens zwei Personen auf uns zukommen. Keiner wollte während des Spieles zu uns kommen und sich ein Tor entgehen lassen, also kamen dann in der Spielunterbrechung alle zu uns und wollten ihre Kühlpacks oder "Pflaster".
Auch dieses Mal wurden wir gerufen. Es handelte sich um eine junge Frau. Sie war anscheinend im Block umgekippt und saß jetzt auf den Stufen vor dem Ring. Ihren Kopf hatte sie gegen das Geländer gelehnt, während sie versuchte sich mit ihren Armen selbst zu wärmen.
Als einzige Frau in unserer kleinen dreier Combo wurde ich vor geschickt, um mich der Frau zu reden. Die Arme zitterte am ganzen Körper, was mich als erste Handlung veranlasste, ihr meine Jacke überzuhängen.
Während ich herausfand, dass sie heute noch nichts gegessen hatte und auch nur zwei Bier getrunken hatte, funkte Simon mit unserem Abschnittsleiter und Jan miss den Blutdruck, sowie den Blutzuckerwert. Beide Werte waren, wie zu erwarten, nicht wirklich berauschend. Was uns zu der Entscheidung brachte, sie nicht zu Fuß zur 100 Meter entfernten Wache drei zu bringen, sondern mit einem RTW zur Wache eins fahren zu lassen. Die Wache drei konnte man kaum als eine richtige "Wache" bezeichnen. Eine RTW-Besatzung mit einer Liege und ein bisschen mehr Material, als wir in unserem San-Rucksack hatten. Mit mehr Material meine ich nicht mehr Auswahl und andere Sachen. Nein, einfach nur mehr von dem was wir haben. Auf unserem Rucksack sind zum Beispiel fünf Verbandspäckchen, während auf der Wache drei eine ganze Kiste mit etwas zwanzig liegt. Und das alles in einem kleinen, fensterlosen Betonraum von maximal sechs Quadratmetern zusammengepfercht. Das, als einen Raum und nicht als eine stickige Besenkammer mit guter Beleuchtung zu bezeichnen, war schon ein großes Zugeständnis. Die Wache eins dagegen hatte Ärzte und mehrere Behandlungsräume genau wie einen Wartebereich.
Wir mussten zum Glück nicht lange warten und konnten unsere Patientin mit einem vorläufigen Protokoll, sowie den ersten Werten an unsere Kollegen abgeben. Meine Jacke bekam ich wieder zurück, während die Dame im RTW aufgewärmt werden konnte.
Mittlerweile war auch ich am Frieren. Außerdem würde das Spiel bald weiter gehen. Mit den letzten drängenden Fans schoben wir uns zurück in den Block.
Aufgeregt stellte Simon sich etwas weiter nach vorne, um so viel wie nur möglich vom Spiel mitzubekommen, bevor wir wieder rausgerufen werden würden, für irgendeine verletzte Person. Ich konnte immer ganz genau sehen, wann der Ball sich gefährlich Nahe am eigenen oder dem gegnerischen Tor befand. Es waren zwei verschiedenen Körperhaltungen, die Simons Körper anspannten. Eigentlich den gesamten Block anspannten. Jedes Mal dieses entspannte zusammensacken der Masse, wenn der Ball nicht im eigenen Kasten landete.
"Was meinst du, wenn wir ihn hier alleine stehen lassen, wann würde es ihm auffallen?", fragte Jan grinsend, während er Simon zunickte, der mit dem Rücken zu uns stand.
"Wahrscheinlich erst, wenn das Spiel zu Ende ist", lachte ich. Simon bekam unsere kleine Unterhaltung überhaupt nicht mit. Ich hoffte jedes Mal wieder, dass er aber trotzdem auf den Funk hörte, wenn er sich so auf das Spiel konzentrierte.
"Sollen wir gleich noch einmal zur Wache drei laufen? Wir haben nicht mehr viele Tupfer fürs BZ-messen", fragte Jan.
"So viele Patienten sollten wir nicht mehr haben. Zur Not können wir einfach die sterilen Kompressen nehmen, die reichen auch", zuckte ich mit den Schultern. Eigentlich war ich immer dafür so viele Schritte wir nur möglich zu machen, aber ich hatte wenig Lust mir dumme Sprüche auf der Wache drei anzuhören, von Menschen die den gesamten Tag in einem warmen Raum sitzen konnten, während mir der Arsch in diesem Betongang einfror, weil es keine Sitzgelegenheiten gab, sondern man sich höchstens Mal an die Wand lehnen konnte, um die Beine zu entlasten.
Ein lauter Knall hallte durch das Stadion. Erst dachte ich, es wäre eine der Trommeln unten im Block gewesen, aber die hörten sich anders an.
Simon kam auf uns zu.
"Im gegnerischen Block wurde Pyrotechnik gezündet", erzählte er uns, was er über den Funk hörte.
Aber da erklang ein noch viel lauterer Knall. Nur wenige Augenblicke danach wurden wir alle nach hinten an die Wand geschleudert.
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