Kapitel 11
Seit dem Anschlag war eine Woche vergangen und heute fand die Beerdigung von Simon statt. Nicht nur Jan und ich waren hier, sondern auch unsere gesamte OV des Roten Kreuzes. Jan schob mich in meinem Rollstuhl über den unwegsamen Kieselpfad zur Trauerkapelle.
Simon war ein so lebensfroher Mensch gewesen, aber auch sehr sensibel. Er hatte mit dem gesehenen und erlebten nicht mehr leben können. Eine der fürchterlichsten Dinge, die hätte passieren können. Er war nicht durch die Bombe, durch Folgeschäden oder etwa die Attentäter umgekommen, sondern durch seine eigene Hand. Es war seine Entscheidung gewesen.
Ich war schon den Tränen nah, als ich nur den Sarg sah, der vorne in der Trauerhalle aufgestellt war. Ein wunderschöner heller Sarg umringt von Blumen und Kerzen, die alle so fröhlich aussahen, das man fast vergessen könnte, weswegen sie dort aufgestellt waren.
Ganz vorne in der ersten Reihe saßen Simons Eltern und seine kleine Schwester. Sie hielten sich gegenseitig umschlossen und versuchten sich Halt zu geben. Seine kleine Schwester war am Weinen. Seine Eltern versuchten dagegen stark zu wirken, aber sie schafften es nicht, ihre wirklichen Gefühle zu vertuschen. Diese Trauer konnte niemand nachempfinden. Wir waren zwar seine Freunde und seine Kollegen gewesen, aber sein eigenes Kind beerdigen zu müssen, noch bevor es wirklich gelebt hatte, das würde ich niemals jemandem wünschen.
"Sie haben gefragt, ob wir etwas sagen wollen. Wir hatten den letzten Dienst mit ihm", murmelte Jan mir zu, dabei nickte er unserer Bereitschaftsleitung zu. Obwohl er flüsterte, erschien mir seine Stimme viel zu dröhnend und zu laut für diesen Raum hier.
"Ich kann das nicht", schüttelte ich den Kopf. Tränen drohten meinem Augenwinkel zu entweichen.
"Wir gehen gemeinsam vor. Du musst nichts sagen, aber alleine schaffe ich das nicht", gab Jan zurück. Auch er versuchte stark zu bleiben.
Alle suchten sich einen Platz in der kleinen Kapelle. Gemeinsam beteten wir und hörten uns an, wie seine Eltern mit zittriger Stimme über Simon und seine Kindheit erzählten. Ich konnte es noch immer nicht fassen. Es fühlte sich nicht richtig an, dass ein so junger Mann da vorne in dieser Kiste lag.
"Jetzt würden gerne Jan und Emilia etwas zu Simon erzählen. Die beiden waren an diesem fürchterlichen Tag mit Simon im Stadion", richtete der Pfarrer das Wort an uns. Ich wollte schon den Kopf schütteln, aber ich konnte Jan da vorne neben Simon nicht alleine lassen. Zitternd holte ich Luft und ließ mich wortlos von Jan immer näher an den Sarg heran schieben.
Auch Jan kämpfte mit sich. Ich konnte sehen, wie seine Augen anfingen zu glitzern und die erste Träne über seine Wange lief. Mit einer harschen Bewegung wischte er sie weg. Ein kurzer Blick nach oben, um sich wieder zu beherrschen und dann nahm er das Mikrofon vom Pfarrer entgegen.
Links von mir war der Sarg und rechts Jan. Seine zitternde Hand legte sich auf meine Schulter, als würde er nach Halt suchen. Sofort legte ich meine rechte Hand auf die seine. Jans Hand war eiskalt.
"Simon war wie ein kleiner Bruder für mich. Wir haben so einige Dienste zusammen gemacht. Er war immer so fröhlich und lebenslustig. Er hat jede Minute, die wir mit ihm verbringen durften so wundervoll gemacht. Gott- ", Kopf schüttelnd sah Jan nach oben. Ein zittriges Lächeln auf den Lippen, "- wie oft hat er mich in den Wahnsinn getrieben, mit seiner aufgedrehten Art. Wir wollten ihn immer ruhiger bekommen. Damit er die Patienten nicht fast umrennt mit seinem Übermut. Jetzt werde ich das vermissen. Er hat mir mal erzählt, dass er irgendwann in den Katastrophenschutz vom Roten Kreuz gehen möchte, damit er überall auf der Welt helfen kann. Simon wollte immer nur das beste für alle Menschen um ihn herum. Hatte immer ein offenes Ohr für alle. Und jetzt? Wir wären doch auch für ihn da gewesen. Wir hätten auch für ihn ein offenes Ohr gehabt. Ich hätte ein offenes Ohr für ihn gehabt. Warum hat er nicht mit uns geredet?"
Ein herzergreifendes Schluchzen entwich Jan. Kopf schüttend versuchte er seine zitternden Lippen aufeinander zu pressen, so dass bloß nicht noch so ein Laut durch die Kapelle hallen konnte.
Die Tränen strömten unterdessen unaufhaltsam über meine Wangen, trotzdessen griff ich nach dem Mikrofon.
"Egal was nach unserem Dienst passiert ist", sprach ich leise. "Er war ein Held. Simon hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, um uns mit Material zu versorgen. Hat danach geholfen, wo er nur konnte. Er hat sich gegen die Anweisungen der Polizei gestellt und ist zu uns zurückgekommen. Er hätte das nicht machen müssen. Er hätte uns alleine im Block lassen können. Aber das wäre ihm niemals in den Sinn gekommen. Ihr Sohn war etwas ganz besonderes", ich sprach direkt in die Richtung von Simons Eltern, "Ich werde nie vergessen was er für uns, was er für mich getan hat."
Egal wie sehr ich persönlich mich gegen das Wort Held weigerte, auf Simon traf es zu. Seine Eltern mussten wissen, dass er keine schwache Persönlichkeit hatte, nur weil er dieses Ende für sich gewählt hatte. Seine Eltern hatten ihn schon leblos im Badezimmer finden müssen.
Sie hatten einen wundervollen jungen Mann herangezogen. Er war liebevoll, fröhlich, lustig, loyal, intelligent, gutmütig und noch viel wichtiger hilfsbereit. Das hatte er nicht nur damit bewiesen, dass er jahrelang ehrenamtlich aktiv war, sondern auch damit, dass durch ihn mehr Menschen überleben konnten, als es jemals möglich gewesen wäre, wenn er nicht zurückgekommen wäre.
"Danke euch beiden", sagte der Pfarrer ruhig. Jan schob mich wieder zurück, aber ich blieb mit meinem Blick am Sarg hängen.
"Es tut mir leid, dass ich nicht für dich da war, als du mich gebraucht hast", flüsterte ich ihm zu.
*
Alle waren schon gegangen. Sogar Simons Eltern, aber Jan und ich standen noch immer hier. Vor uns das frische Grab, dass gerade zugeschüttet worden war. Traurig sahen wir auf das, was von Simon für uns noch übrig geblieben war.
"Das hätten wir sein können. Wir hätten neben ihm liegen können", sprach Jan aus, was wir beide dachten.
"Ich weiß", gab ich zurück. Langsam wand ich meinen Blick Jan zu. Dieser sah schon zu mir herunter.
"Versprich mir, dass du mich nicht alleine lässt. Versprich mir, dass du deine Therapie und die Reha durchziehst", forderte er mich mit zitternder Stimme auf, "Ich schaffe das nicht ohne dich. Ich bin nicht stark genug für noch eine Beerdigung. Also versprich es mir!"
"Ich verspreche es." Hart musste ich den Klos in meinem Hals herunterschlucken. Jan hatte recht. Wir waren nicht für Simon da gewesen. Dann mussten wir wenigstens für den jeweils anderen da sein. Wir mussten das gemeinsam durchstehen.
Gemeinsam überleben.
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