Prolog
Die Sonne knallte durch das Küchenfenster in Gordons Gesicht. Er packte das mit Schinken belegte Brötchen, dessen Krümel sich ständig in seinem Bart verfingen, zur Seite. Die Zeitung hatte er bereits griffbereit neben sich platziert, als er vom Bäcker gekommen war. Jeden Samstag tat er das, frühstückte allein, während seine Frau die Putzschicht für eine ortsansässige Firma erledigte und seine beiden Kinder noch fest schliefen. Sie müsste diesen Job nicht machen, eigentlich verdiente er genug und dennoch war es ihr wichtig, sich nicht bloß um die Kinder zu kümmern. Es hatte zu Beginn viele Diskussionen deswegen gegeben, da ihm die Rolle als Alleinverdiener generell immer gut gepasst hatte. In anderen Familien sei es doch auch so, hatte er immer wieder angeführt, aber Diana war sturköpfig geblieben. Sie wollte ein Vorbild für ihre Kinder sein und ihnen zeigen, dass es nicht normal war, nicht arbeiten zu müssen. Er hingegen hatte es sich immer zum Ziel gemacht, seiner Familie ein schönes, sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Die Anstellung als Kommissar war das, was er sich dafür insgeheim immer erträumt hatte, und als ihm das Jobangebot überreicht worden war, hatte er keinen Moment gezögert.
Noch immer störten ihn die Sonnenstrahlen, doch als er gerade zur Zeitung greifen wollte, lugte er auf sein Handgelenk. Der Stuhl kippte fast hinten über, als ruckartig nach oben schoss. Es war schon viel zu spät, denn eigentlich war geplant, dass sein Sohn Jonathan und er in einer halben Stunde bereits bei der Kartbahn sein sollten. Noch schnell nahm er einen Schluck des frisch aufgebrühten Kaffees, bevor er die Treppe hinaufrann, um seinen Sohn aufzuwecken.
„Jonathan, aufstehen, wir hätten schon längst los sein müssen", rief er durch die Tür, während er dauerhaft klopfte.
Er hämmerte weiter, immer lauter, immer härter. Jedoch betrat er nicht einfach das Zimmer. Erst am Tag zuvor hatten sie darüber gesprochen, als er ohne anzuklopfen in den Raum gestürmt war. Es war nichts Wichtiges, bloß ein kleiner Clip, den er bei YouTube gefunden hatte und ihm zeigen wollte. Dass Jonathan jedoch mit seinen dreizehn Jahren zum ersten Mal Mädchenbesuch bekommen sollte, hatte er während des langen Arbeitstages komplett verplant. Wahrscheinlich hatte er seinen ersten Kuss ruiniert, zumindest lösten sich ihre Lippen abrupt, nachdem er in den Raum gestolpert war. Gordon war genau diese Art peinlicher Vater, der alles ganz cool herunterspielen wollte. Die ganze Zeit versuchte er, den beiden zu erklären, dass er ja nichts gesehen habe - nur eines vergaß er dabei: das Zimmer zu verlassen. Nach geschlagenen fünf Minuten und dreizehn Sekunden schloss er die Tür wieder hinter sich, ernsthaft denkend, die Situation - lässig, wie er war - geklärt zu haben.
Als er gerade hinunterlaufen wollte, stoppte er noch kurz vor dem Zimmer von Emily. Auch bei ihr klopfte er, nur weniger energisch.
„Bist du schon wach?" fragte er.
„Jetzt ja, Papa. Ich wollte ausschlafen - schon vergessen?", murmelte sie aus ihrem Zimmer.
„Es ist schon halb elf, mein Schatz. Wenn du so weitermachst, verpennst Du irgendwann noch deinen Abschluss."
„Der ist in drei Jahren."
„Siehst Du, sage ich ja. Was ich dich eigentlich fragen wollte: Hast du Deinen Bruder gesehen?"
„Papa, was habe ich dir eben gesagt?"
„Dass Du gerade erst...ja, okay, habe ich vergessen. Schlaf weiter, du Morgenmuffel."
Auf halbem Weg machte er auf der Treppe wieder Kehrt und sprintete nochmals nach oben. Er klopfte abermals gegen Emilys Tür.
„Das Paket mit den ‚hippen' Hosen, die ich bestellt habe, ist angekommen. Gucken wir uns die später mal an?", fragte er.
„Ja, Papa", sagte sie entnervt, „aber kannst Du mich jetzt endlich weiterschlafen lassen?"
„Jaja, ich gehe ja schon - und danke", schmunzelte er.
Ein paar Sekunden stand er noch vor der Tür und wartete eine Antwort von Emily ab - vergebens. Entgeistert blickte er nochmal auf seine Uhr, bevor er die Treppe heruntersprintete, um Jonathan weiter zu suchen.
Diese „hippen" Jeans, wie er sie nannte, hatte er gekauft, um der „coole" Papa zu sein. Insgeheim steckte er jedoch einfach nur in einer herben Midlife-Crisis, und sah in diesen neuen Klamotten mehr als „bescheuert" aus, hatte Emily ihrer Mutter zugeflüstert, als er stolz vom Shopping mit seinem Kumpel Rob wiedergekommen war. Sie traute sich jedoch nicht, ihm das genauso zu sagen, denn sie wusste, wie wichtig ihm das alles war. Stattdessen beriet sie ihn und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die deutlich schlichteren Designs.
Hastig griff er zum Schuhanzieher, nachdem er in den Flur gerast war. Noch kurz verweilte er vorm Spiegel und zupfte sich die Haare zurecht. Währenddessen öffnete sich die Haustür; Diana kam hereingestürmt, drückte Gordon einen Kuss auf die Lippen und lief Richtung Schlüsselbord.
„Hast du meinen Schlüssel für die Firma gesehen, Schatz?", murmelte sie, während sie in den unzähligen Schlüsselbunden herumwühlte.
„Nein, du unseren Sohn?"
„Der sitzt schon im Auto und wartet auf dich."
„Warum sagt er denn nichts? Ich suche ihn schon die ganze Zeit", sagte er verwundert. „Da fällt mir ein, sieh mal im Wohnzimmer nach, dort lag vorhin irgendein Schlüssel. Wir sehen uns später, ich muss mich beeilen."
Gordon knallte vor Hektik die Tür hinter sich zu, bevor er zum Auto rannte, in dem Jonathan wirklich schon wartete. Er riss die Tür auf, schwang seinen Körper auf den Ledersitz seines alten Mustangs und wendete sich zu seinem Sohn.
„Guten Morgen, mein Junge", grinste er, „kriegt dein Papa einen Fist bump?"
Er streckte ihm seine geballte Faust entgegen, doch nichts kam.
„Na, komm schon."
„Papa, das machen wir noch nicht mal in der Schule", erwiderte Jonathan, bevor er seinem Vater zuliebe den Faustgruß vollendete.
Eine seltsame Stille hing über dem Wagen. Jonathan beobachtete die vorbeisausenden Bäume, die im sanften Wind umherwehten, während Gordon mit der linken Hand in der Abseite der Autotür nach seiner Sonnenbrille, die den ihn störenden Sonnenstrahlen Einhalt gebieten sollte, wühlte. Er versuchte dabei, weiter auf die Straße zu blicken, was ihm jedoch nur so halb gelang.
„Kann ich Dich mal was fragen?", sagte Jonathan zurückhaltend in die Stille hinein.
„Was ist denn los?"
„Wie weiß man, ob man mit einem Mädchen zusammen ist?"
Verwundert blickte Gordon seinen Sohn an und schmunzelte leicht. Es berührte ihn, dass Jonathan das ausgerechnet ihn fragte, denn er hatte sich immer diese Art von Gespräch mit seinem Sohn gewünscht. Sein Vater und er hatten nämlich bis zu diesem Tag kein gutes Verhältnis zueinander und egal, wie sehr Gordon sich auch bemühte, es änderte sich nichts. Er sprach ungern darüber, aber es belastete ihn sehr, dass sie es nie geschafft haben, eine gute Bindung aufzubauen. Emily und Jonathan hatten ihren Großvater erst zweimal gesehen und hätte man sie danach gefragt, dann hätten sie wohl noch nicht mal seinen Namen im Kopf gehabt.
„Frag sie doch einfach mal. Es sah aber gestern schon sehr danach aus", zwinkerte er ihm zu und wuschelte ihm durchs Haar. Dass er am Vortag minutenlang versucht hatte, ihnen weiszumachen, er habe nichts gesehen, vergaß er dabei. „Wie heißt die Kleine überhaupt?"
„Sophie", grinste er.
Man sah das Strahlen in seinen Augen, wenn er ihren Namen aussprach. Sein Sohn reifte langsam zu einem Mann heran, das wurde Gordon in diesem Moment bewusst. Die Zeit war so schnell vergangen, es fühlte sich so an, als hätten sie noch gestern im Sandkasten gespielt.
Gerade blickte er noch in die verliebten Augen seines Sohnes, als er im Augenwinkel einen Van im Rückspiegel heranrasen sah. Es ging alles viel zu schnell, sein Kopf prallte auf den Lenker und der Gurt schnitt sich in seinen Brustkorb, als der Mustang gegen den Baumstamm krachte. Er hatte Jonathans Kopf noch herunterdrücken können, doch auch er wurde von den umherfliegenden Glassplittern getroffen. Seine Ohren vernahmen noch die Salven, die auf sein Auto abgefeuert wurden; eine der Kugeln drang in seinen linken Oberschenkel, eine weitere traf seinen Arm. Er griff die Hand seines Sohnes, hielt sie ganz fest. Doch es kam kein Druck zurück, ganz ruhig lag sie in seiner und so sehr er seinen Jungen auchschüttelte, Luft in seine Lunge presste - Jonathans Augen sollten sich nie mehr öffnen.
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