Kapitel 7



Er war spät dran, als sein Wagen auf den Parkplatz der Wache bog. Dass er zu spät kam, war eher eine Seltenheit, denn so viele zeitliche Verfehlungen er sich auch erlaubte, waren diese immer privat und nicht geschäftlich. Natürlich konnte man ansonsten seine Methoden manchmal in Frage stellen, aber das änderte nichts daran, dass er jeden Morgen einer der Ersten war, der kam, und abends gleichzeitig zu den Letzten gehörte, die gingen. Die Frage nach dem „Warum?" durfte man ihm nicht stellen, zumal man eh nie eine Antwort bekam. Die Meisten kannten ihn schon seit Jahren, hatten seine Veränderung komplett miterlebt und so vermied es jeder, mit ihm über Privates zu sprechen.

Schnellen Ganges schritt er auf die Eingangstür zu, die Sonnenstrahlen spiegelten sich im Glas der gerade am Vortag geputzten Scheiben. Auf dem Weg in sein Büro traf er bloß zwei Praktikanten, die noch immer mit dem Berg an Akten zu kämpfen hatten, die er ihnen zwei Tage zuvor auf den Schreibtisch geknallt hatte.

Man hatte ihnen davon abgeraten, ihn zu fragen, ob er seinen freien Tag genossen habe, und so zögerten sie kurz, als Gordon den Raum betrat. Er kannte ihre Namen nicht, sodass er sie immer „Blondschopf" und „Schwarzkopf" nannte, wenn er eines der seltenen Gespräche mit seinen Kollegen führte. Dass selbst er diese Spitznamen für dämlich hielt, musste er sich jedes Mal aufs Neue eingestehen, wenn er einen der beiden sah. Sie würden ja aber eh bald weg sein, dachte er sich, warum also nach den Namen fragen? Dabei waren Tommy und Leon - ihre eigentlichen Namen - durchaus beliebt und hatten ohne Murren den Aktenstapel entgegengenommen.

„Guten Morgen, Herr Bellami", flüsterte Leon fast.

„Morgen", murmelte Gordon in seinen Bart hinein.

„Wir sollten bis heute Abend fertig sein mit den Akten", sagte Tommy zögerlich.

„14 Uhr, die Mordfälle lösen sich nicht selbst."

Er schloss die Tür seines Büros hinter sich, setzte sich an den Schreibtisch und startete den PC. Sein Vorgesetzter Christopher Martens hatte ihn damit beauftragt, alte, ungeklärte Mordfälle neu aufzurollen; Gordon hatte kurz über die größtenteils ungeordneten Unterlagen gesehen und sofort zugestimmt. In diesem Moment fand selbst er es gut, Praktikanten da zu haben, denn sonst hätte er selbst sich die Mühe machen müssen, die Akten zu sortieren. Was an diesem Durcheinander seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, war nicht bloß die Tatsache, dass viele der Mordfälle in die Drogenszene führten. Es war viel eher ein winziges Detail, über das er sich jedoch vor Martens ausschwieg.

Dass dieser gerade mit finsterster Mine ins Büro stampfte, blieb von Gordon nicht ungesehen. Er lehnte sich nach hinten, denn er wusste, Martens würde gleich die Tür aufreißen. Die Sekunden herunterzählend, blickte er auf die digitale Uhr, die neben der bloßen Uhrzeit auch noch das Datum, den Tag, die Außentemperatur und das Wetter anzeigte. An diesem Mittwoch, dem 18. Juli, waren es bereits neunzehn Grad bei leichter Bewölkung und viel Sonne. Das hatte er sich längst eingeprägt, als Martens in sein Büro stürmte.

„Bellami, in mein Büro - jetzt!" fauchte er.

Ohne ein Wort zu sagen, stand Gordon auf und folgte ihm ins Büro nebenan. Immer wenn das passierte, fragte er sich, warum man es nicht auch einfach in seinem Büro klären könne. Und jedes Mal kam er nach ein paar Sekunden auf die immer selbe Antwort: Martens schien das Melodramatische zu lieben.

„Schließ die Tür und die Rollos", murmelte er seine Wut unterdrückend.

„Schieß los, ich habe nicht ewig Zeit."

„Wenn ich Dir jetzt erzählen würde, dass ein paar unserer Jungs heute Morgen in ein kleines Drecksloch von Wohnung gerufen wurden, einen Mann mit mehreren Schädelfrakturen und eine zerbrochene Fensterscheibe aufgefunden haben - was hättest Du dazu zu sagen?"

„Dass er vielleicht aufhören sollte, Fensterscheiben eine Kopfnuss zu geben?" grinste er fragend.

„Und was würdest Du sagen, wenn ich eine Zeugin habe, die ausgesagt hat, vor dem Haus einen verkackten Kleinwagen gesehen zu haben, aus dem ein ca. 1,90m großer Kerl ausgestiegen ist? Er soll einen Vollbart gehabt haben und dazu auch noch eine ziemlich hübsche Begleitung, die so ausgesehen habe, als arbeite sie in einem ganz bestimmten Milieu."

„Dass es viele Menschen gibt, auf die dieses Profil passt? Allein in dieser Stadt gibt es hunderte Nutten und wahrscheinlich fünfmal so viele Typen mit Vollbart."

„Und was ist, wenn ich das hier habe?" schrie er los und knallte Bildabzüge auf den Schreibtisch.

Gordon trat ein paar Schritte näher heran und ahnte schon, was auf diesen Bildern zu sehen sein wird. Die Zeugin hatte gerade in dem Moment ein Bild von Leila und ihm gemacht, als sie ihn vorm Auto zur Rede gestellt hatte. Man konnte ihn eindeutig erkennen, von Leila hingegen sah man bloß die Rückenansicht. Seine von Blut verklebte Hand ließ sich ebenso wenig verbergen wie die Gelassenheit in seinem Gesicht. Es wirkte fast so, als tue er so etwas tagtäglich.

„Verschlägt es Dir jetzt die Sprache, Gordon?"

„Wir beide wissen, dass er so etwas verdient hat."

„Ich weiß nur, dass ich dieses Beweisstück eigentlich dem Staatsanwalt geben müsste."

„Tu, was Du tun musst."

„Falk ist ein Krimineller, der in der Tat eine Abreibung verdient hat. Ich kann das aber nicht ohne Konsequenzen auf sich beruhen lassen. Du bist mir also was schuldig."

„Gut, da wir das geklärt hätten, werde ich meine Zeit jetzt mit sinnvolleren Sachen totschlagen", sagte er und ging zur Tür.

„Jetzt, wo Du in meiner Schuld stehst, kann ich es Dir ja sagen. Du kriegst einen Partner. Er kommt am Montag."

„Wir hatten darüber gesprochen. Ich hatte nie einen Partner und werde auch nie einen haben."

„Ab Montag schon."

Gordon ging wieder zu Martens' Schreibtisch und stemmte beide Arme auf das glatte Holz.

„Gib Rico den Neuen, er wollte schon länger einen Partner haben!"

„Rico braucht aber niemanden, der mir darüber Bericht erstatten kann, was er tut und wie er sich verhält", murmelte er, während er in dem Haufen an Zetteln vor ihm herumwühlte.

„Ich bekomme einen beschissenen Aufpasser? Hast Du sie noch alle?"

„Du bekommst einen angehenden Kommissar, den Du ausbilden wirst, und nebenbei werde ich seine Berichtshefte etwas genauer beäugen - mehr nicht."

Gordon schlug mit seinen Fäusten auf den Schreibtisch, bevor er sich umdrehte und ging.

„Mach bitte die Tür zu, wenn Du rausgehst." 

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