Kapitel 3

Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne, die die sonst dichte Wolkendecke durchbrachen, schimmerten auf dem feuchten Asphalt des Parkplatzes, als er zu seinem Auto ging. Fest eingewickelt in seine Regenjacke trotzte er dem ihm entgegenpeitschenden Wind. Dass er ein paar Tage zuvor mit Rob abgesprochen hatte, sich mit ihm am Abend in einer Bar in der Nähe zu treffen, hatte er schon längst vergessen. Stattdessen hingen Robs Worte noch immer in seinem Gedächtnis fest und so sehr er auch seine Gedanken ermahnte, dieses spinnenwebenartige Gebilde herauszureißen, sollten sie nicht verschwinden. Es war, als ob jeder Versuch, es zu vergessen, endete wie eine Fliege, die unbedacht der Spinne zum Opfer fiel.

Kaum in seinem Auto sitzend, griff er nach dem Handy in seiner rechten Hosentasche. Er entsperrte es und scrollte die Kontakte durch, bis er ruckartig stoppte.

Diana Bellami.

Sein Daumen schwebte über ihrem Namen, mehrere Sekunden zögerte er und fragte sich, ob das wirklich eine gute Idee war. Er wusste zwar, dass Rob Recht hatte, aber irgendwas hinderte ihn daran, seinem Rat zu folgen. Sein Mut lag irgendwo auf der ganzen Welt verteilt, als sei er vom Wind davongetrieben worden. Statt seinen Daumen diesen letzten Millimeter nach unten zu bewegen, schmiss er schließlich sein Handy auf den Beifahrersitz und startete den Motor.

Den ganzen Rückweg über schielte er auf das spiegelnde Display, das noch immer in Griffreichweite lag. Seine Finger tippten jedoch unentwegt auf der Mittelkonsole umher, während er sich selbst jeden Blick zum Beifahrersitz leugnete. Was niemand außer ihm wusste, war, dass er das in letzter Zeit immer häufiger getan hatte. Er griff dann hektisch zu seinem Handy und starrte auf die Kontakteinträge von Diana und Emily. Doch nie hatte er sich getraut, auch nur einen der beiden anzurufen.

Rechts von der Straße konnte man „Ronny's Diner" in der Ferne erkennen. Fast täglich kam er hier her, um eine Portion Rührei mit einem Weizenbrötchen zu essen. Er trank dazu immer noch einen schwarzen Kaffee und gab jedes Mal ein kleines Trinkgeld; er wollte damit nicht besonders spendabel sein, viel eher blickte er zu gerne in das lächelnde Gesicht der jungen Kellnerin. Es war nicht ihre durchaus vorhandene Attraktivität - sie war viel zu jung für ihn, hätte gar seine Tochter sein können. Und das war wohl auch der Grund, warum er sie so gerne lächeln sah.

Für gewöhnlich bog er an der Kreuzung hinter dem Diner links in die Plattenbausiedlung hinein, die er seit ein paar Jahren sein Zuhause nannte. Doch an diesem Abend drückte er seinen rechten Fuß fester als sonst auf das Pedal und raste über die gerade auf Rot gesprungene Ampel.

Schon lange war er diesen Weg nicht mehr gefahren, es musste Jahre her sein und dennoch war er ihm wohlbekannt. Er steuerte direkt auf eine der Vorstadtsiedlungen zu, während sein Herz am liebsten aus seiner Brust gesprungen wäre. Diese kleine Straße, in die er hineinbog, war er einst täglich gefahren, und plötzlich stand er dort, wo er die ganzen letzten Jahre sich nicht mehr hingewagt hatte. Jedes Mal, wenn er im Bett gelegen hatte, darüber nachdachte, es noch einmal sehen zu wollen, hatte er die Idee verworfen. Nun stand er jedoch hier, vor seinem alten Haus, das ihm so viel bedeutet hatte. Ihre Nachfolger hatten sich offensichtlich gut darum gekümmert. Die Hecke zeigte kein noch so winziges Ästchen, das aus der Reihe tanzte, und noch nicht mal eine kleine Ansammlung von Moos war zwischen den Pflastersteinen, die zur Haustür führten, zu sehen.

Auch wenn es Jahre zurücklag, fühlte es sich komisch für ihn an, nicht durch die Pforte zu gehen, sondern davor stehen zu bleiben. Jeder einzelne Kratzer im Lack hatte eine Geschichte. Er fuhr mit seinem Zeigefinger über die tiefste Kerbe des kleinen Tores und konnte nicht anders, als zu schmunzeln. Es war der alte Schreibtisch aus massivem Eichenholz gewesen, mit dem Rob und er ins Straucheln gekommen waren. Sie schlugen mit diesem „verdammten Drecksteil", wie er in diesem Moment geschrien hatte, gegen die Pforte, verloren den Griff und ließen es fallen. Es war dabei unversehrt geblieben, doch dem lauten Aufschrei Gordons zufolge, traf das nicht wirklich auf ihn zu. Um genauer zu sein: Der Schreibtisch fiel genau auf seinen großen Zeh, der danach an alles erinnerte, nur nicht an die eigentliche Gliedmaße, die er darstellen sollte. So sehr Diana es sich auch versucht hatte zu verkneifen, konnte sie einfach nicht aufhören zu lachen. Ein paar Minuten zuvor hatte sie ihn nämlich darum gebeten, Sicherheitsschuhe anzuziehen, was er jedoch witzelnd abgelehnt hatte. Er sei ja ein wahrer Mann und als eben dieser verspüre er keinen Schmerz, hatte er ihr zwinkernd erwidert. Sein großer Zeh jedoch schien da anderer Meinung gewesen zu sein.

In dieser kleinen Siedlung hatte sich seitdem nicht viel verändert. Ein paar wenige neue Autos standen auf den Grundstücken und im Wendekreis, wo auch er seinen Wagen abgestellt hatte. Als er jedoch an den anderen Häusern vorbeiging, sah er nur ihm bekannte Namen, die teils schnörkelig auf die Klingelschilder geschrieben worden waren.

Plötzlich sprang einer der Bewegungsmelder an und ein Hund spurtete ihm entgegen. Gordon machte einen Satz nach hinten, obwohl es offensichtlich war, dass Rocco ihm nichts tun konnte. Er war alt geworden, hatte jedoch nichts vom schon damals angsteinflößendem Zähnefletschen verlernt. Langsam näherte Gordon sich wieder dem Zaun und sah dem Hund in die leicht verblichenen Augen. Rocco beruhigte sich, er schien ihn immer noch zu kennen. Es hatte nur etwas gedauert, bis er ihn richtig sehen konnte, dachte Gordon sich, und streichelte ihn über den Kopf, der im schwachen Licht, das an der Hauswand hing, die ersten grauen Härchen erkennen ließ. Eigentlich riechen Hunde ja ohnehin besser, als sie sehen, aber da Gordon den lieblichen Geruch von Pflegecreme und den herben Duft von Männerparfum gegen Bourbonfahne und Schweiß eingetauscht hatte, konnte man der alten Nase keinen Vorwurf machen.

Vorsichtige Rufe hallten durch die Dunkelheit.

„Rocco, komm her!" rief die männliche Stimme, die immer näher kam. „Was machen sie dort an meinem Zaun?" schrie er auf einmal los, als er Gordons Silhouette erblickte.

Hektisch ließ er vom Hund ab und sprintete zum Auto. Er wollte nicht von Timothy gesehen werden, denn so müsste er sich nur den Fragen stellen, die er sich selbst nicht beantworten konnte. Mit einem Ruck drehte er den Schlüssel im Zündschloss und raste davon. Im Rückspiegel sah er Timothy dabei zu, wie er drohend mit den Armen umherfuchtelte. Wahrscheinlich schrie er ihm irgendwas davon hinterher, dass er doch beim nächsten Mal seinen Rocco auf ihn hetzen würde - das hatte er schon immer getan. Dumm nur, dass sein Hund damals selbst vor Kellerasseln stets das Weite gesucht hatte und nie auch nur irgendjemandem etwas tun würde. Außer dem Zähnefletschen, das hatte er drauf.



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