KAPITEL 3 | PRINZ CASSIAN

Alloy folgte Jaxon durch die Ruinen.

Der Regen trommelte auf die moosigen Steinmauern. Stellenweise war der Untergrund so feucht und glitschig, dass sie ins Rutschen geriet und sich mit den Händen an den nassen Steinen abfangen musste.

Jaxon schien diese Probleme nicht zu haben.

Kein Wunder. 

Das letzte Mal, dass Alloy etwas Anderes als ihren Gehirnmuskel trainiert hatte, war schon eine Weile her. Sie war nicht direkt unsportlich – das wäre in Anbetracht ihrer beruflichen Zielsetzung eher nachteilig gewesen – aber sie war auch alles andere als eine Sportskanone.

Keuchend versuchte sie, mit Jaxon Schritt zu halten, verlor ihn jedoch schließlich irgendwo zwischen den kaputten Säulen eines Tempelvorbaus aus den Augen.

»Jax?!«

Alloy irrte zwischen den Säulen umher. Die Kapitelle waren mit rankenartigen Ornamenten verziert, die sich auch auf den Überresten der Mauern und am Boden fortsetzten. Bis auf das Prasseln des Regens war es fast vollkommen still.

»Jax?«, rief Alloy und näherte sich einer halb zerfallenen Steinmauer, die mit einem Wandbild geschmückt war. 

Die goldene Farbe war größtenteils abgeblättert, aber hier und da konnte Alloy noch die ursprünglichen Formen und Konturen ausmachen. Sie glaubte, eine Sonnenscheibe zu erkennen. Bäume und Blumen. Kleine Tiere mit großen Ohren. Und dazwischen eine Reihe von menschenähnlichen Gestalten.

Alles wirkte grob skizziert, wie von der Hand eines Kindes – und doch besaß das Werk eine gewisse Symbolkraft. Wie das Deckenfresko in der Gebetshalle des Eddina-Tempels, das einer Tempelmalerei aus der Alten Welt nachempfunden war.

Alloy hätte sich nicht als Kunstliebhaberin eingestuft, aber sie bewunderte die Werke der Alten Welt, die sich irgendwie echter und roher anfühlte. Seit dem Großen Exodus, so schien es ihr, brachte die Kunst nur noch weichgespülte Kopien und Imitate hervor. Als wollten die Menschen unbedingt die Glorie vergangener Tage wiederauferstehen lassen. Als müssten sie sich immer wieder versichern, dass die Neue Welt mindestens so gut sei, wie die Welt, die sie zurückgelassen hatten.

Ein Schrei ließ Alloy aus ihren Gedanken schrecken.

Die Stimme gehörte ihrem Bruder.

Sie fuhr herum und bemerkte eine Bewegung, weiter hinten, wo sich die Ruinen-Mauern annäherten und einen schmalen Korridor bildeten.

»Jax?!«

Alloy rannte los. Der Regen klatschte ihr ins Gesicht, sodass sie die Augen zu Schlitzen zusammenkneifen musste.

»Jax?«

»Ich bin hier!«

»Ist alles in Ordnung?«

Alloy hastete halb blind durch den Regen, bis sie Jaxons muskulöse Gestalt verschwommen durch den Tropfenvorhang schimmern sah.

»Ja, alles prima«, erwiderte ihr Bruder. Es klang sarkastisch. »Ich wär nur beinahe da runter gefallen.« Er deutete vor sich, auf ein Loch im Boden, das einen Durchmesser von etwa vier Metern besitzen musste. Die Ränder waren ausgefranst und abgesplittert, als hätte die Überlebenskapsel beim Einschlag eine Steinplatte durchschlagen. Lange, gezackte Risse zogen sich in alle Richtungen und durchbrachen dabei die geschwungenen Linien der Ornamente.

»Ist das ...?«

»Ja.« Jaxon schien zu nicken. »Da muss dieser Bastard runtergekommen sein.«

»Wir sollten besser nicht zu nahe rangehen!«, rief Alloy. Sie musste fast schreien, um das Rauschen des Regens zu übertönen.

»Da hast du Recht«, erwiderte Jaxon. »Ich glaube, der Boden ist ganz schön insta-«

Noch während Jaxon sprach, ging eine Erschütterung durch den Untergrund. Die Erde schien zu Beben. Es krachte, knackte und splitterte. 

Dann gab urplötzlich der Boden nach und Alloy stürzte in die Tiefe. Es ging so schnell, dass sie nicht einmal die Zeit hatte, einen Laut von sich zu geben.

Sie landete auf einer schräg abfallenden Fläche, konnte den Sturz jedoch nicht abfedern und knallte hart auf den Hintern. Die Wucht des Aufpralls warf sie nach vorne. Sich mehrfach überschlagend, kugelte sie die steile Schräge hinunter. Spitze Steine und Splitter bohrten sich in ihre Haut. Immer schneller und schneller ging es abwärts, bis der Hang schließlich flacher wurde und sie mit verminderter Heftigkeit gegen einen Geröllhaufen prallte, der ihren Sturz ruckartig abbremste.

Benommen blieb Alloy liegen. Alles drehte sich um sie. Ihre Rippen schmerzten, ihr Skelett schien zu vibrieren, von den Knien bis hinauf zu den Zähnen.

»Ally!«, hörte sie Jaxon ihren Namen brüllen.

Alloy stöhnte durch halb geöffnete Lippen.

»Ally! Warte! Ich komm runter!«

»Nein«, ächzte Alloy. »Nein.« Sie schlang die Arme um den Oberkörper und wand sich vor Schmerz. »Hol ... Hol Hilfe«, presste sie heraus. »Viper ... Bishop ...«

»Alles klar!«, rief ihr Bruder von oben. »Ich hol Hilfe. Warte da. Bin gleich wieder zurück!«

Alloy wollte ihm sagen, dass sie in absehbarer Zeit nirgendwo mehr hingehen würde, aber sie hatte nicht die Kraft dazu. Wie betäubt lag sie da und starrte in die Finsternis. Der Schmerz pochte und pulsierte in ihrem Körper. Besonders ihr Gesäß und ihr Steißbein schmerzten, als wäre sie von einem Flusspferd getreten worden. Sie konnte wohl nur von Glück sagen, dass sie sich nicht auch noch den Kopf angestoßen hatte.

Während sie so dalag, schälten sich langsam die Konturen ihrer Umgebung aus der Dunkelheit. Allem Anschein nach befand sie sich in einem unterirdischen Hohlraum, der durch den Einschlag der Überlebenskapsel freigelegt worden war.

Die Kapsel selbst steckte ein paar Meter entfernt im Boden. Der vordere Teil war von Trümmern und Schutt bedeckt, doch darunter konnte Alloy deutlich erkennen, welche Schäden der Eintritt in die Atmosphäre verursacht hatte. Glühend heißes Plasma hatte die oberste Schicht der Primärpolymerhülle weggefressen und der Pilot konnte von Glück sagen, dass seine Kapsel nicht einfach verglüht oder auseinandergefallen war.

Kaum hatte Alloy das gedacht, ertönte ein leises Zischen. Eine Luke an der Oberseite klappte auf und ließ blassen Dunst entweichen. Vermutlich hatte irgendein Kühlsystem Leck geschlagen. Die Kühlflüssigkeit war ins Innere der Druckkabine gesickert und verdampft.

Jemand kletterte aus der Luke ins Freie. Zuerst sah Alloy nur einen Kopf, dann folgte der Rest des Körpers.

Es handelte sich um einen jungen Mann. Er trug eine tannengrüne Uniform der czarischen Luftabwehr und hatte die schwarzen Haare im Nacken zu einem losen Knoten gebunden. Einzelne Strähnen hatten sich aus seinem Zopf gelöst und klebten ihm feucht an Gesicht und Nacken.

Leise fluchend klappte er die Luke weiter auf, beugte sich vornüber, sodass sein Kopf im Dunst verschwand, und hievte nacheinander eine Umhängetasche und einen Vogelkäfig aus der Überlebenskapsel. Letzteres gehörte ganz sicher nicht zur Standardausrüstung eines Raumjägers.

Mit einer gewissen Faszination sah Alloy zu, wie der junge Mann mitsamt Tasche und Käfig von der Oberseite der Kapsel rutschte und nur ein paar Schritte entfernt am Boden aufkam. 

Er war groß und schlank, auf eine geschmeidige und sehnige Weise, wie man sie bei den Klippenkletterern beobachten konnte, die jeden Sommer nach Burdina kamen, um an den Felsenklippen im Westen der Stadt gegeneinander anzutreten. Drei goldene Adlerfedern schmückten seine Schulterklappen und das Zahnrad mit den siebzehn Zähnen, das Symbol der Neuen Welt, den Kragen seiner Uniformjacke.

Alloy fragte sich, was er als Nächstes machen würde. Doch zunächst stand er nur da und ließ seinen Blick schweifen, sodass sie die Gelegenheit hatte, ihn näher zu betrachten. 

Zweifellos hatte sie es mit Prinz Cassian zu tun. Sein Gesicht glich dem seines Bruders. Es war stellenweise von einer dunklen Schmiere bedeckt, doch darunter schimmerten derselbe bronzefarbene Teint und dieselben aristokratischen Züge hervor. Die gleiche aufwärts gebogene Nase, die gleichen hohen Wangenknochen und der gleiche breite Mund mit den gleichen weichen Lippen. Der einzige Unterschied waren seine hellgrauen Augen. Im Schatten kantiger Brauen gelegen, waren sie von einem dunklen Rahmen umgeben, der wie aufgemalt aussah. 

Es waren die Züge eines Amalythen.

Während Alloy noch überlegte, ob ihr diese Begebenheit neu war oder ob sie es gewusst und wieder vergessen oder verdrängt hatte, kam der Prinz mit schnellen Schritten auf sie zu. Er musste sie entdeckt haben. Irgendwie war Alloy entfallen, dass sie keine unsichtbare Beobachterin war.

Unter Schmerzen setzte sie sich auf und wollte rückwärts vor ihm davonkrabbeln, aber er trat mit dem Fuß auf ihr linkes Bein, sodass sie vor Schmerz aufkeuchte und nicht mehr wagte, sich zu bewegen.

»Scheiße«, sagte Prinz Cassian. »Wer bist du? Was machst du hier? Ich hab dich doch nicht etwa getroffen, oder?«

»Nein«, ächzte Alloy. Der Schmerz in ihrem Bein zog zu ihrem Hintern und steigerte sich dort zu einem Stechen, das ihre gesamte Wirbelsäule hinaufschoss. »Wir sind gekommen, weil wir Ihren Absturz gesehen haben und dachten, Sie bräuchten Hilfe.«

»Wer ist wir?«, fragte der Prinz ungeduldig. Seine Stimme war viel tiefer und dunkler, als Alloy anhand seines Alters und seiner Statur vermutet hätte.

»Mein Bruder und ich«, antwortete Alloy, auch wenn es vielleicht klüger gewesen wäre, auf eine größere Gruppe zu verweisen.

»Dein Bruder ...« Prinz Cassian spähte mit zusammengekniffenen Augen zu dem Loch hinauf, das seine Rettungskapsel in den Boden geschlagen hatte. »Wer ist noch da oben?«

»Die halbe Stadt«, antwortete Alloy wahrheitsgemäß. Ihr Herz pochte hart von innen gegen ihre Rippen, was den Schmerz in ihrem Körper nur noch verstärkte.

»Sind sie auf der Suche nach mir oder dem Kopernium?«

»Beides.« Alloy biss die Zähne zusammen und deutete mit einem Kopfnicken auf die Rettungskapsel. »Wenn ich Sie wäre, würde ich mein Glück nicht überstrapazieren.«

»Das hatte mit Glück nichts zu tun.«

»Ach, nein?«

»Nein. Ich bin genau da, wo ich sein will.«

»Wirklich?«, erwiderte Alloy. »Weil für mich sah das nach einer ziemlich unkontrollierten Bruchlandung aus. Und in Anbetracht der Schäden, die Ihr Jäger genommen hat, gehe ich stark davon aus, dass er gegen Ende schon gar nicht mehr manövrierfähig war.«

»Was weiß eine Nova-Kauri-Göre schon von Raumjägern?«

»Eine ganze Menge. Ich studiere nämlich an der Flottenakademie von Alanthi.«

»Oh, wow.« Die Miene des Prinzen erhellte sich kurz, nur, um sich dann wieder abrupt zu verfinstern. »Soll ich jetzt etwa beeindruckt sein?«

»Wenn Sie nicht beeindruckt sind, können Sie sich vielleicht ungefähr vorstellen, wie es mir gerade geht«, grollte Alloy.

Der Prinz lachte leise. »Woran liegt es? Ist es die fehlende Krone? Verdammt, ich wusste, ich hätte sie nicht einfach so verschenken dürfen.«

»Es ist eher der erstaunliche Mangel an gutem Benehmen«, konterte Alloy.

Doch noch ehe Prinz Cassian etwas darauf erwidern konnte, waren von oben Stimmen zu vernehmen, die rasch näher kamen.

Der Prinz verstärkte den Druck auf Alloys Bein. »Keinen Mucks«, flüsterte er. »Oder du wirst in Zukunft Krücken brauchen.«

Alloy presste die Lippen aufeinander, um sich von einer spontanen Erwiderung abzuhalten. Sie hatte keine Ahnung, wozu der Prinz in der Lage war. Er schien nicht bewaffnet zu sein, aber er war eindeutig größer und stärker als sie – und an Wegrennen war in ihrem Zustand auch nicht zu denken. Also beschloss Alloy, dass es am Schlausten wäre, erst einmal zu gehorchen und abzuwarten, was sich ergeben würde.

»Ally?«, ertönte Jaxons Stimme vom Rand des Lochs. »Hörst du mich, Ally? Wir organisieren ein Seil und kommen runter. Halt noch ein bisschen durch.«

»Ally?«, formten die Lippen des Prinzen beinahe tonlos. 

Er lächelte, als hätte Jaxon einen Witz gemacht. Dann hängte er sich seine Tasche um die Schulter, bückte sich nach Alloy und zerrte sie grob auf die Beine. 

Alloy war davon so überrumpelt, dass sie sogar vergaß, zu protestieren. Nur ein leiser Schmerzenslaut kam über ihre Lippen – und erstickte, als Prinz Cassian sie mit dem Rücken gegen eine nahe Felswand presste. 

»Kennst du dich hier unten aus?«, wollte er wissen.

Alloy schüttelte den Kopf.

»Aber in dieser Staubwüste da draußen schon?«

Alloy zuckte unschlüssig mit den Schultern. Sie war im Alter von vier Jahren nach Nova Kauri gekommen, was sie im Grunde zu einer Einheimischen machte.

»Weißt du, was das Madrefio ist?«

»Diese zwielichtige Verbrecher-Kneipe in der Nähe des Raumhafens?«

Der Prinz packte Alloy am Oberarm. »Wenn wir hier raus sind, wirst du mich dorthin führen.«

»Wieso sollte ich?«

»Weil ich dich sonst töten werde.«

»Wirklich?«

Prinz Cassian lächelte liebenswürdig. »Wirklich.«

»Sie sollten besser darüber nachdenken, aufzugeben«, entgegnete Alloy. »Wenn Sie sich einfach den Behörden stellen, alles zugeben und versichern, dass es Ihnen leid tut-«

»Denkst du das wirklich?«, unterbrach sie der Prinz. »Denkst du echt, man könnte den Neoczaren töten und alles würde wieder gut, wenn man nur genug bereut?«

»Dann ist es wahr?«, fragte Alloy.

»Wahrheit«, murmelte Prinz Cassian. Es klang abfällig. »Was auch immer das sein soll.« Er hielt Alloy den Käfig hin. »Hier. Festhalten.«

Alloy nahm den Käfig. Zu ihrer Überraschung hockte darin ein schneeweißer Vogel mit schwarzen Knopfaugen, einer kleinen Federkrone und langen, fächerartigen Schwanzfedern. »Was ist das?«

»Ein Trauerhuhn«, antwortete der Prinz, packte Alloys Arm fester und zog sie mit sich in einen der engen Tunnel, die von der Höhle wegführten.

»Wohin gehen wir?«

»Zum Madrefio. Aber zuerst muss ich noch etwas überprüfen.« 

Prinz Cassian öffnete mit der freien Hand den Reißverschluss seiner Uniformjacke, fasste hinein und zog eine Pulswaffe hervor.

Alloy lief es eiskalt den Rücken herunter. Sie war einer Pulswaffe noch nie so nahe gewesen.

Die schwarze Carbonhülle glänzte wie frisch poliert. Durch eine in den Lauf eingelassene Sichtscheibe war der pulsierende Plasmakern zu erkennen. Seitlich am Handlauf befand sich ein Frequenz-Scanner und silberne Sammelspulen am vorderen Ende des Laufs erschufen die elektromagnetischen Felder, die Plasmawellen in tödliche Projektile verwandelten.

»Was haben Sie vor?«, keuchte Alloy.

»Pass gut auf«, erwiderte der Prinz.

»Ally?«, kam es von oben. Die Stimme gehörte Viper.

»Huhu!«, rief Eden. »Hörst du uns?«

Dann meldete sich Jaxon zu Wort. »Wir kommen jetzt runter! Hab keine Angst, alles wird gut.«

Alloy wollte ihrem Bruder zurufen, dass er sich lieber aus dem Staub machen sollte, doch noch ehe sie den Mund aufmachen konnte, streckte Prinz Cassian den Arm aus und zielte auf die Rettungskapsel. 

Der Frequenz-Scanner der Pulswaffe wurde aktiviert. 

Über den integrierten Bildschirm flimmerten eine Reihe geometrischer Formen, legten sich übereinander und schufen neue Gebilde. Mehrere Lämpchen blinkten auf, erst rot, dann gelb. Es gab einen kurzen, akustischen Warnton, dann drückte der Prinz ab. 

Ein Pulsgeschoss zischte durch die Dunkelheit, bohrte sich durch die bereits beschädigte Hülle der Rettungskapsel und traf dort irgendetwas leicht Entflammbares, vermutlich den Sauerstofftank. Über den Sinn und Zweck dieser Konstruktion ließ sich mit Sicherheit streiten, über die Konsequenzen dagegen nicht. Die Rettungskapsel explodierte wie eine Splittergranate.

Um sich in Sicherheit zu bringen, hasteten Alloy und der Prinz den Tunnel hinunter, tiefer in die Katakomben unter den Ruinen.


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