hlafordswice and hreow - (Verrat und Reue)
Nur schwer liess Éowyn von der Umarmung ab, doch sie spürte, wie ihr Bruder zusammenzuckte. Verwundert blickte sie ihn an und sah erst dann, dass sein rechter Oberschenkel in ein helles Leinentuch gewickelt war, das verräterisch benetzt nach Blut aussah.
„Was ist passiert?", erschrocken zeigte sie auf den Verband. Ihr Bruder aber schüttelte nur lächelnd den Kopf: „Nichts, um sich große Sorgen zu machen, liebe Schwester. Einzig eine Lehre für mich meinen Harnisch nicht mehr abzunehmen." Die Worte beruhigten Éowyn nur halbwegs, das Aufflackern von Schmerz im Blick ihres Bruders war ihr nicht entgangen.
„Éomer", fragte sie forsch, „was ist passiert?"
Ihr Bruder wandte den Blick von ihr ab und seufzte. Für eine Weile schwieg er, und nur lautes Lachen und johlender Gesang aus der Halle war zu hören.
„Es schien mir, als wollte jemand unsere Reise verhindern." Leise, zu ihr hin gebeugt, begann Éomer zu erzählen und hob den Blick erst wieder, als er das Wort „Jemand" aussprach. Éowyn zuckte innerlich zusammen, als sie die Wut in den Augen ihres Bruders las. Sie wusste genau, wen ihren Bruder mit „Jemand" meinte.
„In der ersten Yule Nacht, als ich in meinem Zelt schlief, schlich sich jemand in mein Zelt. Als ich meine Augen aufschlug, sah ich nur das blitzende Messer und Cyneward, mein Knappe, der sich auf den Angreifer stürzte. Cyneward hatte kaum Chance gegen den ihn überragenden Angreifer. Ich eilte Cyneward zu Hilfe und gemeinsam brachten wir den Verräter zu Fall. Dabei erwischte mich das Messer..." Der Blick ihres Bruders verklärte sich, er blickte an ihr vorbei, den Erinnerungen verfallend. „Der Angreifer war niemand anderes als Earnulf, Sohn von Léofa, er hatte mir die Treue geschworen am Tag als ich in Aldburg einzog. Ich habe ihn als einer meiner getreuesten Mannen gehalten." Éomer verstummte für eine Weile. „Er weinte und flehte, ich solle ihn verschonen. Gríma habe ihm gedroht, seiner Familie Schaden anzutun, wenn er meine Ankunft in Edoras nicht verhindern würde. Ich wusste nicht, wie mir geschah. An meinem Schwert klebt das Blut eines guten Gefolgsmannes, Éowyn."
Entsetzt starrte Éowyn ihren Bruder an, überfordert mit der Situation, die sich ihr bot. Dermaßen nahe den Tränen hatte sie ihren Bruder nie gesehen.
Kaum dass sie reagieren konnte, erhob er sich mit einer Leichtigkeit, die sie ihm mit seiner Wunde nie zugetraut hätte.
„Þes hlafordswica, þis wyrma gifl! Schlangenzunge wird noch diese Nacht für seine Tat büßen", knurrte er und drehte sich zur Tür.
Hinsichtlich seiner Worte kam Leben in Éowyn, und sie stürmte ihrem Bruder nach. Kurz vor dem Eingang packte sie seinen Arm, um ihn daran zu hindern, eine große Dummheit zu begehen. Mit Leichtigkeit schüttelte er sie ab, zumal er zu vergessen schien, dass er es selbst war, der seiner Schwester den Kampf gelehrt hatte. Nach einigem Gerangel und einer nicht verheilten und schmerzhaften Wunde, hatte sie ihn auf dem Boden festgenagelt.
„Heute wird niemand getötet!" zischte sie ihren Bruder an, der sie wahrlich für einen kurzen Augenblick erstaunt anschaute.
„Du Narr! Wie stellst du dir das vor? Willst du etwa vor allen Versammelten dein Schwert in Grímas Bauch rammen ohne jeglichen belegbaren Beweis!? Mein lieber Bruder, ich habe dir ein bisschen mehr Verstand zugetraut!" Mit diesen Worten verpasste sie ihm mit der Hand zusätzlich eins auf den Kopf.
Ihr Bruder entgegnete nichts und versuchte sich von ihrem harten Griff zu befreien, obschon er selbst eingestehen musste, dass die Wunde dabei eher von neuem aufreißen als er freikommen würde. Murrend blieb er also still liegen, bis Éowyn ihn losließ.
„Jemand erzählte mir mal, dass es besser ist, ein überfordertes Pferd für einige Zeit einfach mal zum Stillstand zu bringen, bis es sich beruhigt hat." Triumphierend streckte Éowyn ihrem Bruder ihre Hand entgegen. Humpelnd und stöhnend kam er auf die Beine.
„Ich bin doch kein Pferd", schnaubte er, musste dann aber selbst grinsen. Trotz allen Übels der letzten Tage war es außerordentlich schön, wieder bei seiner Schwester zu sein. Eine Ewigkeit war es her, seit er sie das letzte Mal für einen Moment so unbeschwert gesehen und über sein törichtes Verhalten lachen gehört hatte.
Ihr Blick wurde alsbald jedoch wieder bekümmert: „Besser du lässt dir die Wunde erneut verbinden."
Wohl war das die beste Idee, denn der Verband hatte sich gelöst und helles Blut sickerte durch.
Behutsam half Éowyn ihrem humpelnden Bruder zu ihrer Schlafstätte.
„Ich suche dir schnell einen Heiler", murmelte sie und verschwand dann hastig.
Erschöpft schloss Éomer die Augen, die Wunde brannte und juckte. So hatte er sich Yule im wahrsten Sinne nicht vorgestellt. Er konnte nur hoffen, dass sich die Wunde nicht entzünden würde, und er an einer Blutvergiftung sterben würde. Vielleicht wäre es so aber auch nur gerecht.
Der Verrat von Earnulf machte ihm zu schaffen. So hatte er geglaubt, an Yule walte der Friede, aber letztendlich hatte er selbst Blut vergossen mit dem Tode seines eigenen Gefolgsmannes. Earnulf war ein Verräter, dies war nicht zu leugnen, zuletzt hatte er aber den Tod nicht verdient, seine Familie hatte seinen Tod nicht verdient, niemand hatte den Tod verdient. Aber in jener Situation war jegliche Moral, jegliches Mitleid, Güte und Gnade weg. Die schiere Wut und der Schmerz, verletzt worden zu sein, trieb seine Hand mit dem Messer in die weiche Haut zwischen Halsbeuge und Kopf...
Geräuschvoll kam Éowyn erstaunlich schnell wieder zurück. Im Schlepptau einen Heiler, der von den Festlichkeiten noch ein wenig nüchtern schien, und Cyneward.
Éomer wich dem Blick seines Knappen aus. Zutiefst schämte er sich, was der Junge mitansehen musste. Der Junge schien davon jedoch keine Notiz zu nehmen und half dem Heiler emsig, die Wunde auszuwaschen. Bald schwanden dem Krieger die Sinne und der von flackernden Kerzen erhellte Raum wurde schwarz.
Schlussendlich wurde es doch noch ein angenehmes Yule, wenn auch Éomer das Bett hüten musste. Dies verhinderte jedoch, dass er weder Gríma über den Weg lief, noch in ein Trinkspiel verwickelt wurde, das mit grausigem Erwachen in einem fremden Bett oder schlimmstenfalls bis auf die Knochen durchfroren in einem nach Pferdeurin stinkenden Strohhaufen endete.
Trotz den einen oder anderen schlechten Erinnerungen von ausgearteten Trinkgelagen während Yule dachte er an die vergangenen Yulefestlichkeiten: Die Wärme, die Herzlichkeit, das Lachen, die bunten Kleider der wirbelnden Gestalten im Tanze vereint, die schönen Lieder, Heldensagen, die von Sängern zum Leben erweckt wurden, und natürlich das große, flammende Sonnenrad. Aber, die Zeiten hatten sich geändert. Die Zeit des Ruhmes, der Ehre, der großen Heldentaten des Hauses Eorls war längst verblasst. Trotz der neuen, wenngleich schwachen Sonne, würde die Dunkelheit ungehindert in jede Halle einziehen. Wer konnte ihr noch standhalten?
Þes hlafordswica, þis wyrma gifl! – Dieser Verräter, dieses Wurmfutter!
Unerwartet gab es noch einen dritten Teil... ein bisschen spät, aber Yule ist genau gesehen erst am 1. Januar fertig :) also weiterhin eine frohe Yulezeit!
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