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⛧⛧⛧⛧⛧⛧ Kapitel 10 ⛧⛧⛧⛧⛧⛧


Meine Motivation an diesem Morgen aus dem Bett zu steigen, könnte nicht geringer sein. Ich hätte nicht gedacht, dass es mir solche Angst macht daran zu denken, dass ich gleich in der Schule erneut mit Lizas Tod konfrontiert werde. Und doch ist meine Angst größer, als ich erwartet hätte.

Mit einem verzogenen Gesicht trete ich vor meinen Kleiderschrank und suche mir ein paar Kleidungsstücke für den Tag heraus. Ich weiß nicht, was angemessene Kleidung für den Tag ist, doch da ich sowieso ausschließlich dunkle Kleidung trage, fällt mir die Auswahl nicht sonderlich schwer. Ich ziehe mir über meine Unterwäsche einen schwarzen, flauschigen Pullover und eine schwarze Skinny-Jeans. Meine Lederjacke und meine Schuhe befinden sich im Flur, sodass ich mir darum keine Gedanken machen muss. Außerdem werde ich jetzt ersteinmal Frühstücken. Mir ist vorhin aufgefallen, dass nicht wirklich etwas im Kühlschrank übrig ist, obwohl ich Freitag erst einkaufen war. Allerdings hatte ich auch nicht damit gerechnet, dass ich für meine Eltern und einen Erzengel zusätzlich einkaufen muss. Immerhin war weder die Anwesenheit meiner Eltern, noch die Anwesenheit eines Erzengels geplant.

Unten auf der Treppe rieche ich schon Rühreier und Bacon, was dafür sorgt, dass ich verwirrt inne halte. Ich weiß ziemlich genau, dass wir keine Eier und auch keinen Bacon mehr im Kühlschrank hatten.

Als ich in die Küche eintrete, halte ich erstaunt inne, als ich den gedeckten Frühstückstisch entdecke. Meine Eltern und Gabriel befinden sich schon hier, weswegen ich noch verwirrter aussehe und einen Blick auf meine Uhr werfe. Meine Eltern sind um so eine Zeit schon wach? Und woher kommen die Sachen für das Frühstück? War bisher schon jemand einkaufen? Es haben doch aber noch gar keine Läden geöffnet, oder?

Gabriel scheint mir meine Verwirrung anzusehen, denn er kommt auf mich zu und legt mir sanft eine Hand auf den Rücken, dann schiebt er mich auffordernd auf den letzten freien Platz am Küchentisch.

„Ich war so frei euch allen ein Frühstück zu machen.", erklärt Habriel mir, so als wäre es etwas völlig selbstverständliches, dass er ein Frühstück für uns zubereitet hat, ohne, dass wie die entsprechenden Zutaten besitzen.

„Das hast du selbst zubereitet?", frage ich ihn verwirrt und lasse mich auf den Stuhl sinken. Ich greife nach einem Brötchen, während mir Gabriel einen Teller mit Rührei und Bacon vor die Nase stellt.

„Nein. Ich habe einen Abstecher in mein Lieblingsdiner gemacht."

„Das ist wirklich nett von dir, Gabriel. Danke." Während ich mein Brötchen belege, mustere ich meine Eltern unauffällig. Sie sehen heute schon wieder deutlich besser aus und wenn ich sie so sehe, dann würde ich nicht darauf kommen, dass uns am Freitagabend all dies geschehen ist. Sie sehen wieder deutlich gesünder aus und vor allem meine Mutter strahlt wieder richtig. Außerdem kann ich ihr ansehen, wie angetan sie davon ist, dass Gabriel uns dieses Frühstück zubereitet hat.

Während des Frühstücks betreiben wir alle leichten Smalltalk und als wir fertig sind, schickt Gabriel mich in den Flur um mir meine Schuhe und meine Jacke anzuziehen, während er mit einem Schnippsen seiner Finger den Tisch wieder abräumt.

Als Gabriel und ich das Haus verlassen und zu meinem Auto gehen, steht es offensichtlich kurz davor zu regnen. Ich hätte beinahe zynisch aufgelacht, als ich das bemerkt habe. Eine filmreife Stimmung für meinen momentanen emotionalen Zustand. Dass Gabriel immer wieder unauffällig zu mir sieht, zeigt mir, dass er spürt, was in meinem Kopf vorgeht. Ich danke ihm in Gedanken, dass er mich nicht darauf anspricht. Außerdem glaube ich, dass ein so mächtiges Wesen wie Gabriel sich denken kann, was in meinem Kopf vorgeht.

Ich wünsche mir, dass der Weg zur Schule ewig dauert, doch das tut er nicht. Stattdessen habe ich das Gefühl, dass ich ihn heute in Rekordzeit hinter mich bringe, denn sämtliche Ampeln auf dem Weg dorthin sind heute grün. Viel zu schnell für meinen Geschmack komme ich auf dem Parkplatz der Schule an. Um noch etwas mehr Zeit zu schinden, parke ich so weit weg wie möglich vom Eingang der Schule weg. Als ich den Motor ausmache und den Schlüssel aus dem Schloss ziehe, atme ich erneut tief durch, dann drehe ich meinen Kopf zu Gabriel. Dieser lächelt mir ein letztes Mal aufmunternd zu und ist intelligent genug mir keine schlauen Ratschläge mehr zu geben, dann leuchtet es plötzlich so hell, dass ich meinen Blick von ihm abwende. Als es wieder dunkel wird und ich in seine Richtung sehe, entgleist mir der Blick für ein paar Sekunden, dann allerdings fange ich mich wieder.

„Vielleicht solltest du einfach für immer ein Stift bleiben", spreche ich in Gabriels Gedanken. Er hatte mir gestern Abend noch gezeigt, wie das funktioniert und nachdem er mir beinahe eine viertel Stunde versucht hatte, die Technik beizubringen, indem er mich zu Tode gelabert hat, habe ich ihn mit einem ziemlich unwirschen „Halt endlich die Klappe!" in seinen Gedanken erst zum Schweigen und danach zum Grinsen gebracht. Nachdem er dann etwas davon gefaselt hatte, dass unsere Schutzengel-Verbindung wohl besonders stark sein muss, da ich so einfach in seinen Gedanken sprechen kann, hatte er mich endlich schlafen lassen. Natürlich nicht, ohne mir vorher zu sagen, dass das Schwierigste – seine Gedanken zu lesen – noch auf mich zukommt. Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich seine Gedanken überhaupt lesen möchte. Ist das nicht ein zu großer Eingriff in seine Privatsphäre? Immerhin möchte ich ja auch nicht, dass er in meinen Gedanken herumschnüffelt.

„Das hättest du wohl gerne", höre ich es in meinem Kopf lachen, dann schnappe ich mir den Stift und schiebe ihn in die Außentasche meines Rucksacks. Mit einem letzten entspannten Atemzug öffne ich meine Autotür und trete heraus. Ein Blick auf meine Uhr verrät mir, dass ich noch eine viertel Stunde habe, bis der Unterricht beginnt. Alles in mir drinnen schreit danach bloß hier stehen zu bleiben und mich erst in allerletzter Sekunde ins Klassenzimmer zu schleichen, doch ich ermahne mich selbst, dass dies ein feiges Verhalten ist, dass die Bloodsteins niemals an den Tag legen würden und setze mich im selben Moment schon in Bewegung. Die ersten Meter sind noch leicht gemacht, doch dann spüre ich Blicke auf mir. Es sind hauptsächlich Freunde von Liza, die mich ansehen und ich weiß sofort, dass sie es wissen. Sie wissen, dass Liza gestorben ist und wollen nun eine Reaktion von mir haben. Ich überlege, was jetzt das logischte ist. Alles in mir drinnen, besonders meine Jäger-Hälfte, schreit danach meine Emotionen zu verschließen und mir den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Doch irgendetwas hält mich davon ab. Sollen doch alle sehen, dass es mir nicht gut geht. Ist das nicht sowieso die Reaktion, die alle erwarten? Oder erwarten alle von mir, dass ich so herzlos reagiere, dass ich mich nicht weiter um den Verlust kümmere? Natürlich, ich trauere nicht so stark, wie ich es erwartet hätte, aber ich bin gewiss auch weit davon entfernt, mich über ihren Tod zu freuen.

Ich laufe eisern immer weiter auf die Haupttür der Schule zu. Es fällt mir nicht schwer die meisten zu ignorieren und ich weiß, dass mich sowieso niemand ansprechen würde. Dafür sorgt mein Ruf schon genug. Ich bin schon fast an der Tür angekommen, als mich plötzlich ein lauter Ruf aufhält. Als ich mich zu der Person, die meinen Namen gerufen hat, umdrehe, stehe ich Kristin gegenüber. Als sie meinen Blick sieht, steigen ihr Tränen in die Augen und ich weiß, dass dies der Moment ist, in dem sie erkannt hat, dass die Gerüchte, von denen ich mir sicher bin, dass sie hier vorhanden sind, wahr sind. Dass es keine traurige Geschichte eines Schülers ist, der Aufmerksamkeit sucht, sondern die traurige Wahrheit.

Ich weiß nicht, was mich dazu veranlasst, doch als Kristin aufgelöst auf mich zukommt und ich auch Brandon nicht in der Nähe entdecken kann, lege ich meine Arme um sie und ziehe sie tröstend in eine Umarmung. Ich hatte erwartet, dass sie zurückweicht, geschockt von dem plötzlichen Körperkontakt, doch stattdessen erwidert sie die Umarmung und hält sich an mir fest, als wäre ich ihr einziger Halt.

„Es ist okay, Kristin.", murmele ich ihr entgegen und ignoriere die Blicke der anderen Schüler. Kristin schluchzt weiterhin in meine Schulter und ich beschließe, dass sie einen besseren Ort braucht, um zu weinen.

„Komm mit, lass uns reingehen.", meine ich sanft zu ihr und weiß selbst gar nicht, woher diese plötzliche Sanftheit kommt. Aber irgendwie kann ich sie nicht einfach stehen lassen. Nicht, nachdem sie bisher immer die einzige, neben Liza, war, die mich irgendwie versucht hatte in die Gruppe zu integrieren. Sie hatte immer wieder versucht Gutes für mich zu tun. Es ist nur gerecht, dass ich das jetzt auch für sie machen werde.

Kristin sagt nichts, als ich sie mit in das Schulgebäude ziehe, aber sie weiß sehr wohl, wohin ich sie gerade führen will. Und auch, wenn ich weiß, dass sie sich bessere Orte als den Heizungskeller vorstellen kann, weiß sie, dass dort fast niemand hinkommt. Die Einzigen, die sich hin und wieder dorthin verirren sind ein paar Freshmen, die denken, dass es cool ist, in einem einsamen Heizungskeller abzuhängen.

Als wir die Stufen heruntergehen und ich die Tür aufstoße, steigt mir schon der Geruch von Zigarettenrauch in die Nase und meine Hoffnungen, dass sich niemand hier befindet, schwinden sofort. In dem Moment, in dem ich die Tür zum Heizungskeller aufstoße, werden wir ertappt von drei Jungen angesehen, die eifrig versuchen ihre Zigaretten zu retten, die sie hinter ihren Rücken versteckt hatten.

„Raus!" Ich hatte noch nie besonders gerne Gebrauch von meinem Ruf gemacht, den ich habe, seitdem ich mich öffentlich mit einem Jungen geprügelt habe – und ihn fertig gemacht habe, vor allen anderen. Doch heute mache ich eine Ausnahme. Die drei Jungen verlassen eilig den Keller und werfen mir dabei noch einen letzten Blick zu, dann sehe ich sie nur noch die Treppe hochstürmen. Kristin sieht mich mit großen Augen an und ich erwidere ihren Blick.

„Wie ist das passiert?", fragt sie mich mit Tränen in den Augen an und ich weiche ihrem Blick aus. Sage ich ihr die Wahrheit? Oder sage ich ihr das, was Gabriel und ich uns ausgedacht haben? Ich denke es ist deutlich klüger ihr nicht die Wahrheit zu sagen. Auch, wenn sie die Wahrheit verdient hätte. Aber es ist zu gefährlich, wenn auch nur eine Person die Wahrheit kennt. Oder zumindest einen Teil davon.

„Ihre Eltern haben mir gesagt, dass es ein Herzversagen war", lüge ich ihr deshalb ins Gesicht und weiß sofort, dass sie mir meine Lüge nicht komplett abkauft. Sie zieht eine Augenbraue in die Höhe und weicht ein kleines Stück von mir zurück.

„Aber Liza war doch kerngesund?"

„Ich weiß auch nicht mehr, als du", weiche ich aus, obwohl das keinesfalls der Wahrheit entspricht.

„Tut mir leid."

„Du musst dich nicht entschuldigen. Es ist alles in Ordnung." Gestern noch habe ich mich über den bemüht verständnisvollen und sanften Ton der Winchesters lustig gemacht und jetzt versuche ich selbst das Gleiche. Eine leise Stimme in meinem Kopf flüstert mir „Heuchlerin" zu. Einen Moment glaube ich, dass es Gabriel ist, bis ich realisiere, dass es meine eigene Stimme ist.

„Wir... wir sollten nach oben in den Unterricht gehen", schlage ich dann vor, um aus dieser blöden Situation zu entkommen. Wer weiß, was mein Kopf mir sonst weiterhin noch sagt. „Nimm es mir nicht übel, aber du siehst aus, als würdest du kaum stehen können"

„Ich habe wenig geschlafen. Brandon und ich hatten Streit." Kristins Blick fällt und ich erkenne, dass die Sache ihr wirklich nahe geht. Trotzdem scheint sie verstecken zu wollen, dass sie trauriger ist, als ich erwartet hätte. Es kam schon häufiger vor, dass Kristin und Brandon Streit hatten, aber noch nie habe ich sie so mitgenommen gesehen.

„Möchtest du darüber reden?", biete ich ihr deshalb mit sanfter Stimme an, doch Kristin schüttelt nur sanft mit dem Kopf. „Vielleicht ein anderes Mal."

„Natürlich." Ich lächele sie an und trete dann einen Schritt von ihr zurück. Kristin streicht sich die Tränen aus dem Gesicht und nickt mir dann zu. Das nehme ich als Zeichen, dass sie fertig ist und wir den Keller verlassen können.

Gemeinsam gehen Kristin und ich die Stufen wieder zurück zu den Klassenräumen nach oben und betreten nebeneinander den Klassenraum. Unsere Plätze liegen in der gleichen Reihe und bisher saß immer Liza zwischen uns. Ich weiß nicht, ob ich einen Platz zu Kristin aufrutschen sollte. Unschlüssig bleibe ich vor meinem Platz stehen, während Kristin sich setzt. Wenn ich mich jetzt auf Lizas Platz setze, dann wirkt alles so endgültig. Dann ist deutlich zu sehen und zu spüren, dass Liza nicht anwesend ist und auch nicht mehr kommen wird. Aber ist nicht die Akzeptanz, dass sie nicht mehr wieder kommen wird, der erste Schritt, damit ich akzeptieren kann, dass sie meinetwegen nicht mehr unter uns weilt? Ich zögere noch kurz, dann ziehe ich Lizas Stuhl unter dem Tisch hervor und lasse mich neben Kristin nieder. Sie dreht den Kopf zu mir und sieht mich mit einem sanften Blick an. Ich erkenne, dass sie weiß, was sich eben in meinem Kopf angespielt hat. Doch noch bevor sie etwas sagen kann, kommen weitere Schüler in den Raum. Sofort liegen alle Blicke auf Kristin und mir und ich fühle mich sofort wieder unwohl. Was mich allerdings am Meisten überrascht sind die teilweise mitfühlenden Blicke von Menschen, die noch nie mehr als drei Worte am Stück mit mir gewechselt haben. Ich weiß, dass sie es gut meinen, aber ich weiß auch, dass dieses Mitleid gespielt ist. Denn diese Reaktion ist nur eine Verwirklichung dessen, was die allgemeine Gesellschaft in so einer Situation gedenkt zu tun. Und auf so etwas kann ich verzichten. Ich bin ehrlich erstaunt, dass schon so viele Leute erfahren haben, was geschehen ist. Doch eigentlich sollte es mich nicht mehr überraschen, denn Tratsch hat sich an dieser Schule schon immer verbreitet wie Krankheitserreger bei einer Grippewelle. Ein stetiges Tuscheln erfüllt den Raum und immer wieder spüre ich Blicke auf Kristin und mir. Es ist allgemein bekannt, dass Kristin und ich ihre engsten Freunde hier sind.

Als meine Lehrerin jedoch das Klassenzimmer betritt, verstummt das Tuscheln. Ich rechne fest damit, dass sie jetzt eine traurige Rede hält, allerdings werde ich überrascht, als sie wie gewohnt ihren Unterricht beginnt. Auch in den Blicken der anderen kann ich erkennen, dass diese sich wundern, was hier vor sich geht. Dann allerdings schleicht sich die allgemeine Erkenntnis in ihre Köpfe, dass unsere Lehrerin einfach noch nichts davon weiß.

Unsere Religionslehrerin, Misses Gonzalez, ist eine Frau Mitte 50, mit allmählich ergrauten Haaren, die eher den Kleidungsstil einer Öko-Tante aufweist. Sie wird von vielen von uns als seltsam bezeichnet und ich kann jeden verstehen, der diese Frau gruselig findet. Ihre Erzählungen innerhalb des Unterrichts hatten mich einst annehmen lassen, dass sie eine Hexe ist. Als ich der Sache allerdings auf den Grund gegangen bin, habe ich innerhalb weniger Sekunden gemerkt, dass sie einfach nur eine verrückte, alte Frau ist, die auf dem Trödelmarkt ein Buch über Hexerei gefunden hat. Zum Glück hat sie mich damals nicht bemerkt.

Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und danke innerlich allen Göttern, dass meine Lehrerin noch nie so genau wusste, wer sich hier in der Klasse befindet. Denn sonst hätte sie sicherlich bemerkt, dass Liza nicht anwesend ist und wäre darauf eingegangen. Ihre großen, glasigen Augen schweifen durch die Klasse und ein seliges Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Es wirkt beinahe so, als würde sie sich freuen, dass doch mindestens drei viertel der Klasse anwesend sind.

„Wie ihr ja sicherlich wisst, haben wir in der letzten Stunde unser Thema abgeschlossen, sodass wir heute mit einem neuen Thema beginnen werden." Auch, wenn sie versucht uns diese Neuigkeiten mit einer großen Begeisterung mitzuteilen, kommt nichts davon bei uns an. Stattdessen sehe ich, wie zwei Schüler vor uns ihre Handys aus der Hosentasche ziehen. Es würde mich nicht überraschen, wenn es im Laufe der Stunde noch mehr werden. Auch ich habe in diesem Unterricht schon häufiger in meinem Notizbuch geblättert oder Recherchen angestellt. Zwei Stunden können sich wirklich ziehen wie eine Ewigkeit.

„Heute möchte ich mit euch beginne, über eine besondere Gruppe der himmlischen Wesen zu reden. Kann sich einer von euch denken, um welche Gruppe es sich handelt?" Stille. Scheinbar hat keiner meiner Klassenkameraden auch nur einen Funken Motivation, sich am Unterricht zu beteiligen. Auch meine Aufmerksamkeit schweift er ab und ich beuge mich zu meinem Rucksack herunter, um mein Notizbuch herauszuholen.

„Ich würde mit euch gerne über Erzengel reden." Ich halte in der Bewegung inne und sehe meine Lehrerin mit einem irritierten Blick an.

„Das ist ein schlechter Scherz, oder?", ertönt es in meinem Kopf und auch ich habe ähnliche Gedanken in meinem Kopf. Welche Ironie des Schicksals ist es denn, dass wir im Religionsunterricht sofort über Erzengel reden, drei Tage nachdem ich erfahren hatte, dass es sie wirklich gibt...

„Können wir nicht einmal über ein Thema reden, das relevant für uns ist?", seufzt Kristin neben mir und erst jetzt wird mir bewusst, dass ich immer noch in der selben Position verharre, wie eben auch noch. Schnell ziehe ich mein Notizbuch aus dem Rucksack und schiebe es unter meine Mappe, damit meine Lehrerin es nicht sofort sieht.

„Wer weiß, ob uns diese Informationen nicht doch einmal nützlich werden", antworte ich Kristin leise und wende den Blick dann wieder nach vorne. Ich spüre ihren nachdenklichen Blick auf mir, doch sehe sie nicht an.

„Kann mir einer von euch sagen, welches die vier bekanntesten Erzengel sind?" Ich weiß, dass ich mich eigentlich nie so wirklich am Unterricht beteilige, allerdings spüre ich, dass dies hier eine Chance für mich ist, meine Noten aufzubessern. Immerhin weiß ich, dass Misses Gonzalez sehr großzügig mit dem Austeilen von guten Noten ist, solange man ihr zeigt, dass man sich auch nur irgendwie für den Unterricht interessiert. Ihre Augen weiten sich erfreut, als sie sieht, dass ich mich beteiligen möchte.

„Ja, Zoe. Bitte."

„Michael ist der Älteste. Danach wurde Luzifer geboren, welcher allerdings von seinem Vater aus dem Himmel verbannt wurde und deshalb ein gefallener Engel ist. Als nächster wurde Raphael geboren und der Jüngste ist Gabriel." Ich spüre mehrere Blicke auf mir, als ich das sage, doch trotzdem wende ich meinen Blick nicht von meiner Lehrerin ab. Auch sie scheint erstaunt zu sein, dass ich freiwillig einen Beitrag zu dem Unterricht dazu gebe. Und dann gerade noch eine Information, die der Wahrheit entspricht.

„Das... ja. Sehr gut." Ihr Erstaunen wirkt wahrlich echt und ich schmunzele. Sie hatte wohl nicht erwartet, dass ich eine so sinnvolle Antwort zum Unterricht beizutragen habe.

„Weiß jemand noch etwas über Erzengel?" Wieder hebe ich meine Hand und anstatt eines erfreuten Blickes bekomme ich dieses Mal einen erstaunten und beinahe schon verwirrten. Scheinbar hat Misses Gonzalez nicht damit gerechnet, dass ich mich mehr als ein Mal melden werde.

„Zoe. Na dann mal los!", fordert sie mich dann erfreut auf. Ich grinse innerlich, weil sich meine Recherche gestern in der Bibliothek scheinbar wirklich gelohnt hat.

„Gabriel ist zuständig für die Gefühlswelt der Menschen und hat einen sehr ausgeprägten Gnade- und Gerechtigkeitssinn", gebe ich das wieder, das ich gestern in einem der Bücher gelesen habe.

„Ich sollte mich geschmeichelt fühlen, dass du über mich recherchiert hast, Schätzchen."

„Halt die Klappe, Gabriel", zische ich zurück. Ich höre ihn in meinem Kopf leise lachen und muss selbst schmunzeln. Wenn ich das hier jemandem erzählen würde, dann würde der mich doch für bescheuert erklären. Die Leute würden denken, dass ich durchgedreht bin, wenn ich ihnen erzähle, dass ich Gespräche mit einem Erzengel in meinem Kopf führe.

„Sehr gut, Zoe. Ist das ein Thema, das dich interessiert?" Ich hätte beinahe aufgelacht. Doch es ist eigentlich kein Wunder, dass Misses Gonzalez mir diese Frage stellt. Denn es kommt sehr selten vor, dass ich Interesse an ihrem Fach zeige. Und noch seltener kommt es vor, dass ich mich aktiv in ihrem Unterricht beteilige. Und doch hatte ich gehofft, dass sie nicht weiter auf meine plötzliche Begeisterung für Religion eingeht. Scheinbar vergeblich.

„Ehm ... kann man so sagen, ja", gebe ich ihr als Antwort zurück und weiche ihrem Blick aus. Trotzdem sehe ich aus dem Augenwinkel, dass sich ein zufriedenes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitet. Ich hoffe wirklich, dass sie nicht versucht mich jetzt in diesem Unterricht besser einzubinden.

„Ich möchte, dass ihr euch in vier Gruppen aufteilt. Jede Gruppe wird einen der vier Erzengel behandeln. Die Ergebnisse stellt ihr in drei Wochen hier vor der Klasse vor." Ich verdrehe die Augen.

„Das wird lustig für mich."

„Gibt es jemanden, der sich mit einem bestimmten Thema beschäftigen möchte?" Meine Hand schießt in die Höhe und ich warte, bis Misses Gonzalez mir zunickt als Zeichen, dass ich sprechen darf.

„Ich würde gerne Gabriel nehmen."

„Ich schließe mich ihr an." Ich sehe zu meiner Linken, auf der Kristin sitzt. Diese lächelt mir schwach zu und ich kann die aufkeimenden Tränen in ihren Augen sehen. Ich spüre, dass es aufgrund von Liza ist und wende den Blick ab. Trotzdem lege ich ihr eine Hand auf den Arm, als Zeichen, dass ich für sie da bin. Ich weiß nicht, weshalb ich so reagiere, doch irgendwas in mir drinnen sagt mir, dass ich ihr das schuldig bin. Auch, wenn mein Kopf mir sagt, dass ich sie damit in Gefahr bringe. Lizas Tod ist der Beweis, dass ich eine Gefahr für jegliche Freunde darstelle, die ich haben könnte. Doch mein Gewissen sagt, dass ich für Kristin da sein muss. Sie hatte immer versucht, dass ich mich in der Gruppe wohlfühle und hatte mich mehrmals vor den anderen verteidigt. Ich kann sie nicht einfach so alleine lassen. Denn wenn ich eins über Brandon weiß, dann, dass er nicht sonderlich gut darin ist, sich um die Bedürfnisse anderer zu kümmern. Er ist darin sogar noch schlechter als ich. Und wenn er nicht für Kristin da sein kann, dann muss ich es eben tun. Vielleicht schaffe ich es ja trotzdem, dabei den angemessenen Abstand zu wahren und sie nicht unnötig in Gefahr zu bringen.

Eine halbe Ewigkeit später erlöst uns Misses Gonzalez endlich aus dem Unterricht. Als ich meine Mappe in meinen Rucksack stecke, fällt mein Blick auf Kristin und ich seufze. Ihr stehen schon wieder die Tränen in den Augen.

„Sie sollte nicht hier sein, denkst du nicht auch?", ertönt Gabriels Stimme in meinem Kopf und ich zucke leicht zusammen. Ich hatte definitiv nicht damit gerechnet, dass er gerade jetzt zu sprechen beginnt. Doch als ich einen weiteren Blick auf Kristin werfe, stelle ich fest, dass er Recht hat.

„Nein, das sollte sie wirklich nicht... Ich fahre sie nach Hause", beschließe ich und stecke meine Stifte ein.

„Das ist eine gute Idee."

„Solltest du als Engel mich nicht davon abhalten die Schule zu schwänzen?", frage ich ihn beinahe spöttisch und höre ein Schnauben in meinem Kopf. Ich beginne beinahe zu grinsen, als ich den empörten Unterton in seiner nächsten Frage höre. „Was?!"

„Na du weißt schon. Heiliges Wesen, macht immer das Richtige, Gerechtigkeitssinn... du weißt doch sicherlich, was dort in den Büchern über dich stand", necke ich ihn und werfe einen Blick zu Kristin. Es wirkt beinahe so, als würde sie ihre Sachen in Zeitlupe zusammensuchen, so viel Zeit lässt sie sich.

„Schätzchen, ich bin mir sicher, dass die Hälfte meiner Charaktereigenschaften nicht in diesen Büchern steht."

„Das mag sein... Wie gesagt, ich fahre Kristin nach Hause."

„In Ordnung, sag mir- Da draußen vor dem Schulgebäude steht etwas." Ich erstarre, als er mir das sagt und versuche einen unauffälligen Blick aus dem Fenster zu werfen, aber ich stehe zu weit von dem Fenster weg, um etwas sehen zu können.

„Etwas?", frage ich den Erzengel deshalb beinahe schon etwas irritiert.

„Kein Mensch, das steht fest." Ich werfe einen unauffälligen Blick zu Kristin. Nicht, dass sie bemerkt, dass ich mich gerade so seltsam verhalte. Immerhin bin ich gerade nicht sonderlich aufmerksam, was meine Umgebung angeht.

„Hast du eine Ahnung, was es sonst ist? Dämonen?", schlage ich vor und ziehe den Reißverschluss meines Rucksacks zu. Ich ziehe meinen Fuß an meinen Körper, um meinen Schuh erneut zuzubinden, um noch mehr Zeit zu schinden.

„Nein, eher ein Engel. Aber ich bin mir nicht sicher."

„Wieso bist du dir nicht sicher?"

„Weil ich nur in meiner Hülle meine Sinne und Kräfte vollständig verwenden kann." Ich seufze, als er das sagt.

„Das ist... eine echte Einschränkung", kommentiere ich das Ganze allerdings nur und binde nun meinen zweiten Schuh neu.

„Das stimmt... schmeiß mich draußen in einen Busch, wenn du Kristin nach Hause bringst und ich verwandele mich zurück." Ich verkneife mir ein Lachen, als ich mir vorstelle, dass ich einen Erzengel – wenn auch getarnt als Stift – einfach so in den Busch vor der Schule werfen soll.

„Das ist doch nicht dein Ernst."

„Wieso nicht?" Gabriel klingt beinahe etwas beleidigt und ich rolle mit den Augen.

„Weil das absolut lächerlich klingt."

„Was allerdings nichts daran ändert, dass das gerade unsere beste Option ist. Also, was ist?" Seine Stimme klingt ungeduldig und ich weiß, dass er Recht hat. Sonderlich viele andere Optionen haben wir wirklich nicht, in denen er sich zurückverwandeln kann und ich unbemerkt mit Kristin verschwinden kann.

„Na schön."

Ich richte mich nun endlich auf und hebe meinen Rucksack an. Kristin neben mir scheint auch jetzt erst fertig geworden zu sein und ich hätte erwartet, dass mein Gespräch mit Gabriel eben länger gedauert hat. Aber vielleicht waren Kristin und ich auch beide einfach nur ziemlich langsam beim Einpacken unserer Sachen.

„Wollen wir verschwinden?" Kristin sieht mich mit großen Augen an, als ich ihr diese Frage gestellt habe. Sie scheint einen Moment lang abzuwägen, was sie wirklich möchte, dann allerdings nickt sie zögerlich.

„Ja bitte, lass uns verschwinden."  


(Überarbeitet)

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