Kapitel 10

Die Nacht war still, und das Anwesen von Obanai war in Dunkelheit gehüllt. Yukina – oder besser gesagt Yuki, wie sie mittlerweile von allen genannt wurde – lag wach auf ihrem Futon. Die Ereignisse des Tages spukten ihr immer noch im Kopf herum, und sie konnte einfach nicht einschlafen. Ein Spaziergang, dachte sie, würde helfen. Also schlich sie sich leise aus dem Zimmer und durch den Flur, darauf bedacht, niemanden zu wecken.

Als sie den Hof erreichte, blieb sie abrupt stehen. Auf dem kühlen Boden, unter dem schummrigen Licht des Mondes, saß Kaburamaru. Die weiße Schlange hob ihren Kopf und starrte Yukina direkt an.

„Oh, Kaburamaru..." flüsterte Yukina, während sie sich vorsichtig zu ihm hockte. Sie streckte ihre Hand aus, und Kaburamaru ließ es zu, dass sie ihn am Kopf streichelte. Seine Schuppen waren überraschend weich, und Yukina musste lächeln.

„Du wirst Obanai doch nichts erzählen, oder?" fragte sie leise, während sie ihn weiter streichelte. Kaburamaru blinzelte träge, ohne eine Regung zu zeigen.

Yukina seufzte und ließ die Schultern hängen. „Natürlich wirst du es ihm erzählen. Du bist ja quasi sein bester Freund." Sie lachte leise und schüttelte den Kopf. „Warum habe ich nur das Gefühl, dass du mich verraten wirst?"

Plötzlich hob Kaburamaru seinen Kopf und begann sich an Yukinas Hals zu schlängeln. Sie hielt kurz die Luft an, doch dann begann sie leise zu lachen. „Du bist echt seltsam, weißt du das? Aber irgendwie mag ich dich trotzdem."

Gerade als sie sich entspannte, hörte sie hinter sich ein Rascheln. Sie zuckte zusammen, sprang auf und ließ dabei fast Kaburamaru fallen. Ein leiser Schrei entfuhr ihr.

„Was machst du hier draußen?" Die kalte, monotone Stimme ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie drehte sich langsam um und sah Obanai, der mit verschränkten Armen im Schatten stand. Sein Blick war wie immer schwer zu deuten, aber Yukina konnte schwören, dass er amüsiert wirkte.

„O-Obanai!" stammelte sie, während sie Kaburamaru vorsichtig von ihrem Hals nahm. „Ich... ähm... wollte nur frische Luft schnappen."

Obanai hob eine Augenbraue. „Frische Luft? Um diese Zeit?"

Yukina wich seinem Blick aus und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja, genau. Ich konnte nicht schlafen, okay?"

„Interessant," sagte Obanai trocken. „Und Kaburamaru? Hat er dich eingeladen, ihm Gesellschaft zu leisten?"

„Er hat mich nicht weggeschickt," erwiderte Yukina trotzig und verschränkte die Arme noch fester. „Außerdem... er mag mich. Stimmt's, Kaburamaru?"

Kaburamaru schlängelte sich zu Obanai hinüber und kroch an dessen Schulter. Es sah fast so aus, als würde er Obanai etwas zuflüstern. Yukina starrte die beiden an und wurde plötzlich misstrauisch. „Hat er dir gerade was gesagt?" fragte sie skeptisch.

Obanai zog den Kopf leicht zur Seite, um Kaburamaru anzusehen. Dann richtete er seinen Blick wieder auf Yukina. „Vielleicht."

Yukina stöhnte. „Das ist unfair! Kaburamaru ist nicht dein persönlicher Spion!"

Obanai ließ Kaburamaru von seiner Schulter gleiten und trat näher zu Yukina. „Wenn du nachts aus dem Anwesen schleichst, wirst du ihn irgendwann zu schätzen wissen," sagte er kühl. „Du hast Glück, dass ich dich gefunden habe und kein Dämon."

Yukina biss sich auf die Lippe und schaute zu Boden. „Ich wollte doch nur etwas nachdenken..."

„Denk in deinem Zimmer nach," schnappte Obanai, drehte sich um und begann, zurück ins Anwesen zu gehen.

„Du bist so unfair!" rief Yukina ihm hinterher.

Obanai blieb stehen, drehte sich jedoch nicht um. „Und du bist zu laut," sagte er, bevor er in der Dunkelheit verschwand.

Yukina schaute ihm wütend hinterher, während Kaburamaru sich langsam wieder zu ihr bewegte. „Du bist genauso schlimm wie er," murmelte sie, doch ihre Hand wanderte erneut zu seinem Kopf, und sie streichelte ihn mit einem sanften Seufzen.

Yukina gähnte erneut und rieb sich müde die Augen. „Na gut, Kaburamaru, du hast gewonnen. Schlafen klingt jetzt gar nicht mehr so schlecht." Sie ging zurück in ihr Zimmer, trat vorsichtig über die knarrenden Dielen und schloss die Schiebetür leise hinter sich.

Das Bett wirkte verlockend, und Yukina warf sich direkt darauf. Kaburamaru schlängelte sich hinterher und machte es sich auf ihrer Brust bequem, die Augen halb geschlossen.

„Du hast ja echt keine Hemmungen, dich überall breit zu machen," murmelte Yukina und lachte leise. Sie zog die Decke bis zu ihrer Schulter hoch und schloss die Augen. Kaburamarus leises Zischen beruhigte sie, und binnen Minuten war sie eingeschlafen.

Als die Sonne am nächsten Morgen durch die Fenster schien, wachte Yukina von einem seltsamen Gewicht auf ihrem Gesicht auf. Sie öffnete langsam die Augen und fand Kaburamaru, der sich quer über ihre Stirn gelegt hatte.

„Kaburamaru!" murrte sie und schob die Schlange sanft zur Seite. „Du bist schlimmer als ein Kissen, das zu schwer ist!"

Plötzlich wurde die Tür aufgeschoben, und Obanai trat ein. „Wach endlich auf, Yuki," sagte er, ohne sie direkt anzusehen. „Du hast verschlafen."

Yukina setzte sich hastig auf. „Was? Es ist doch noch früh!"

„Nicht früh genug," entgegnete er kühl. „Du hast noch Training, und ich habe keine Lust, auf dich zu warten."

Yukina verdrehte die Augen, während sie Kaburamaru von sich löste. „Gut, ich komme ja schon."

Obanai musterte sie mit verschränkten Armen, bevor er die Tür wieder schloss und davon ging. Yukina murmelte etwas Unverständliches, während sie sich fertig machte.

Draußen auf dem Trainingsplatz wartete bereits Makoto, der gelangweilt mit seinem Schwert herumfuchtelte. Als Yukina auftauchte, warf er ihr einen Blick zu.

„Ach, du bist also endlich wach," bemerkte er trocken. „Ich dachte schon, du hättest beschlossen, heute mal keine Dämonenjägerin zu sein."

Yukina funkelte ihn an. „Was willst du eigentlich? Soll ich dir zeigen, wie schnell ich bin?"

Makoto schnaubte. „Schnell vielleicht, aber stark? Nicht wirklich."

Yukina ballte die Fäuste, doch bevor sie etwas sagen konnte, kam Obanai hinzu. „Hört auf zu streiten und konzentriert euch. Ihr trainiert zusammen."

„Mit ihm?" fragte Yukina entsetzt.

„Mit ihr?" fragte Makoto gleichzeitig, die Augenbraue hochgezogen.

„Ja," sagte Obanai schlicht und setzte sich auf einen nahen Stein, um zuzusehen. „Und keine Beschwerden. Ihr werdet lernen, miteinander auszukommen, ob es euch passt oder nicht."

Makoto seufzte und drehte sein Schwert in der Hand. „Na gut, dann zeig mal, was du kannst, Yuki."

„Nenn mich nicht so!" rief Yukina, zog ihr Schwert und stellte sich in Kampfhaltung.

Obanai beobachtete das Ganze mit verschränkten Armen und einem kaum sichtbaren Lächeln. Das würde interessant werden.

Yukina schob den Kuchen in den Ofen und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Das müsste jetzt nur noch zwanzig Minuten dauern," sagte sie zufrieden und drehte sich zu Obanai um, der am Tisch saß und sie ausdruckslos beobachtete.

„Hast du eigentlich nichts Besseres zu tun, als hier zu sitzen und mich anzustarren?" fragte Yukina mit einem schiefen Grinsen.

Obanai legte den Kopf leicht schief. „Es ist faszinierend zu sehen, wie jemand wie du versucht, etwas hinzubekommen, ohne es anzubrennen."

Yukina schnaubte und verschränkte die Arme. „Pass nur auf, Obanai. Vielleicht lasse ich dich nachher nichts davon probieren."

„Drohen kannst du nicht besonders gut," antwortete er trocken und sah sie mit leichtem Spott an.

Yukina seufzte und schnappte sich ein Geschirrtuch, um sich abzulenken. Nach einigen Minuten fragte sie schließlich: „Wo ist eigentlich Makoto? Ist er nicht zurückgekommen?"

Obanai zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Wahrscheinlich macht er wieder irgendwas Sinnloses."

In diesem Moment flog die Tür auf, und Makoto stolperte herein – eine Flasche Alkohol in der Hand. Yukina und Obanai sahen ihn beide entsetzt an, als hätte ein Geist den Raum betreten.

„Makoto!" rief Yukina und deutete auf die Flasche. „Was machst du da? Das ist Alkohol! Du bist elf!"

Makoto nahm einen großen Schluck, wischte sich den Mund ab und grinste. „Ja, und? Ich hab das schon oft getrunken. Keine große Sache."

Obanai starrte ihn mit einer Mischung aus Unglauben und Abscheu an. „Du bist ein Dämonenjäger in Ausbildung. Hast du irgendeine Ahnung, wie verantwortungslos das ist?"

Makoto zuckte mit den Schultern. „Ich bin doch nicht betrunken. Außerdem hilft das angeblich gegen kaltes Wetter. Ist praktisch, wenn man nachts unterwegs ist."

Yukina war sprachlos. „Was... was ist falsch mit dir? Wer hat dir das überhaupt gegeben?"

„Hab's mir selbst besorgt," antwortete Makoto stolz. „Ihr seid echt langweilig, wisst ihr das?"

Obanai schüttelte den Kopf und stand auf. Mit einem schnellen Schritt war er vor Makoto, nahm ihm die Flasche aus der Hand und stellte sie auf den Tisch. „Das reicht. Du trinkst keinen Tropfen mehr davon."

Makoto sah ihn trotzig an. „Warum nicht? Du kannst mir nichts verbieten."

„Doch, kann ich," sagte Obanai eiskalt. „Und wenn du weiter so einen Unsinn machst, wirst du nie ein richtiger Dämonenjäger."

Yukina nickte zustimmend. „Obanai hat recht. Und ganz ehrlich, Makoto, wer trinkt denn bitte Alkohol, wenn er nicht mal alt genug ist, um überhaupt eine Tasse Kaffee zu vertragen?"

Makoto verdrehte die Augen. „Ihr seid echt anstrengend."

Obanai setzte sich wieder an den Tisch und ignorierte Makotos Blick. „Setz dich und iss was. Vielleicht hilft dir das, klarer zu denken."

Yukina beobachtete die Szene und konnte nicht anders, als zu kichern. „Weißt du, Makoto, manchmal frage ich mich wirklich, wie du überhaupt in die Dämonenjäger-Ausbildung gekommen bist."

Makoto funkelte sie an. „Weil ich besser bin als du, Yuki."

Yukina verschränkte die Arme. „Ach ja? Soll ich dir zeigen, wie viel besser ich bin?"

„Kinder," unterbrach Obanai ruhig, aber mit einem deutlichen Hauch von Genervtheit in der Stimme. „Hört auf zu streiten, sonst werdet ihr beide gleich rausgeworfen."

Yukina und Makoto sahen sich an, hielten dann aber die Klappe. Die restliche Zeit verbrachte Makoto damit, missmutig auf seinen Teller zu starren, während Yukina heimlich über ihn lachte.

Am nächsten Morgen wurde Yukina früh geweckt. Ein Rabe klopfte mit dem Schnabel an ihr Fenster und krächzte eine neue Mission. Yukina setzte sich auf, gähnte und hörte dem Vogel zu. „Eine Dämonensichtung im Dorf Kisaragi. Mehrere Opfer. Sofort los!"

„Schon gut, schon gut, ich bin unterwegs," murmelte Yukina verschlafen und schwang sich aus dem Bett. Kaburamaru glitt von ihrer Schulter und beobachtete sie, während sie sich anziehen und ihr Schwert schnappen wollte.

Obanai saß bereits in der Küche und trank seinen Tee, als Yukina mit schnellen Schritten hereinkam. „Ich habe eine Mission," sagte sie knapp.

„Hoffentlich bringst du sie diesmal zu Ende, ohne dich halb umzubringen," sagte Obanai trocken, ohne von seinem Tee aufzublicken.

Yukina hielt inne und funkelte ihn an. „Mach dir keine Sorgen. Ich werde dich überraschen."

„Das wäre wirklich mal etwas Neues," murmelte Obanai, während Yukina wütend die Tür hinter sich zuschlug.

Am Abend erreichte Yukina das Dorf Kisaragi. Die Straßen waren leer, und eine unheimliche Stille lag in der Luft. Sie zog ihr Schwert, bereit für einen Angriff, als sie plötzlich Schreie hörte. Yukina rannte los und fand den Dämon in einer Seitengasse, wo er sich gerade über einen wehrlosen Mann beugte.

„Da bist du ja!" rief Yukina laut. Der Dämon hob den Kopf, Blut tropfte von seinen Händen und seinem Mund. „Ein Dämonenjäger? Du siehst nicht so aus, als wärst du ein Problem für mich."

„Das werden wir ja sehen!" rief Yukina und rannte los. Sie erinnerte sich an Obanais Worte und konzentrierte sich auf ihre Technik. Mit einem gewaltigen Anlauf setzte sie die 5. Form der Schlangenatmung – Schlängelnde Schlange ein. Ihr Schwert zog eine geschwungene Linie in der Luft, und bevor der Dämon überhaupt reagieren konnte, war sein Kopf abgetrennt.

Der Dämon starrte sie entsetzt an, während sein Kopf zu Boden fiel. „Wie...?" war alles, was er noch herausbrachte, bevor er zu Asche zerfiel.

Yukina atmete schwer, ließ ihr Schwert sinken und grinste triumphierend. „Ich habe es geschafft," flüsterte sie und sah ihre Hände an. „Mit genug Anlauf kann ich Dämonen köpfen, egal wie schwach ich bin!"

Sie wischte das Schwert sauber und schaute sich im Dorf um, um sicherzugehen, dass keine weiteren Dämonen da waren. Zufrieden machte sie sich auf den Rückweg.

Zurück im Anwesen trat Yukina mit erhobenem Kopf ein. Obanai saß wie immer am Tisch, als hätte er auf sie gewartet. Er sah sie an, die Augen halb geschlossen. „Du bist zurück," stellte er schlicht fest.

„Ja, und ich habe den Dämon getötet!" antwortete Yukina stolz.

„Alleine?" fragte Obanai, sein Tonfall misstrauisch.

„Natürlich alleine," erwiderte sie und stellte ihr Schwert ab. „Mit einem einzigen Hieb."

Obanai sah sie überrascht an. „Das glaube ich erst, wenn ich es sehe."

Yukina funkelte ihn an. „Du könntest ruhig mal ein bisschen stolz auf mich sein, weißt du das?"

„Vielleicht, wenn du es ein paar Mal hintereinander schaffst," sagte Obanai mit einem leichten, fast unsichtbaren Lächeln, das Yukina völlig entging.

„Warte nur ab," sagte Yukina mit einem Grinsen. „Ich werde dir zeigen, dass ich mehr draufhabe, als du denkst."

Obanai sah ihr nach, als sie sich auf den Weg in ihr Zimmer machte. Kaburamaru glitt zu ihm hinüber und zischte leise, während Obanai mit einem kaum hörbaren Seufzen sagte: „Vielleicht hat sie doch Potenzial."

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