Kapitel 8

15 Tage waren vergangen, und Tamae wartete ungeduldig auf den Moment, in dem sie endlich ihr eigenes Sonnenschwert in den Händen halten konnte. Seit ihrer Rückkehr ins Nebelanwesen hatte sie weiter trainiert, um ihre Fähigkeiten zu schärfen und sich auf das Leben als vollwertige Dämonenjägerin vorzubereiten. Doch ohne ihr eigenes Schwert fühlte sich alles unvollständig an.

An diesem Tag war es besonders windig. Die kühle Morgenluft strich über das Nebelanwesen, als Tamae vor der Veranda saß und den Himmel beobachtete. Ihr Herz schlug schneller, als sie in der Ferne Schritte hörte. Sie sprang auf, als sie einen älteren Mann den schmalen Pfad zum Anwesen hinaufgehen sah. Er trug eine große, in Stoff gewickelte Kiste auf dem Rücken und bewegte sich mit ruhigen, bedachten Schritten.

Muichiro, der neben ihr im Schatten eines Baumes gesessen hatte, stand ebenfalls auf. Seine cyanblauen Augen musterten den Ankömmling, doch er schien bereits zu wissen, wer es war.

„Das muss dein Schmied sein", sagte er leise.

Tamae nickte und trat dem Mann entgegen. Der Schmied war ein Mann mittleren Alters mit ergrautem Haar und einem wettergegerbten Gesicht. Seine Hände waren von der jahrelangen Arbeit an Schwertern rau und von Narben gezeichnet. Doch in seinen Augen lag eine ruhige, freundliche Wärme.

„Du bist Tamae, nicht wahr?" fragte der Schmied mit tiefer Stimme.

„Ja, Herr", antwortete Tamae höflich und verbeugte sich leicht.

Der Schmied nickte und stellte die Kiste vorsichtig auf den Boden. Er löste die Stoffbänder, mit denen sie verschnürt war, und öffnete sie langsam. In der Kiste lag ein wunderschönes Katana, das noch in seiner Scheide ruhte. Tamae konnte spüren, wie ihr Herzschlag schneller wurde.

„Das ist dein Sonnenschwert", erklärte der Schmied. „Es wurde mit größter Sorgfalt geschmiedet, aus dem Stahl, den du ausgewählt hast. Sonnenschwerter sind einzigartig. Sie sind die einzigen Klingen, die Dämonen töten können. Doch ihre wahre Stärke liegt nicht nur im Metall, sondern auch in ihrem Träger."

Er hob das Katana vorsichtig aus der Kiste und reichte es Tamae. Sie nahm es mit beiden Händen entgegen, spürte das Gewicht der Klinge und die Kraft, die in ihr lag.

„Sonnenschwerter haben eine besondere Eigenschaft", fuhr der Schmied fort. „Sie ändern ihre Farbe, sobald der Träger sie zieht. Die Farbe spiegelt den Charakter und die Fähigkeiten des Kriegers wider."

Tamae sah kurz zu Muichiro, der mit ruhigem Blick neben ihr stand. Dann atmete sie tief durch, schloss für einen Moment die Augen und zog das Katana langsam aus der Scheide.

In dem Moment, in dem das Schwert das Licht erblickte, geschah es.

Die Klinge begann sich zu verfärben – ein sanfter, schneeweißer Schimmer breitete sich über das gesamte Metall aus. Es war, als hätte die Klinge selbst beschlossen, in der Reinheit von frischem Schnee zu leuchten. Das Weiß war makellos und strahlend, als wäre es aus Licht selbst geschmiedet.

Tamae hielt den Atem an. Sie hatte viele Farben gesehen – Rot, Blau, Grün, sogar einmal ein Schwarzes – aber Schneeweiß?

Der Schmied runzelte die Stirn und betrachtete das Schwert mit ehrfürchtigem Blick. „Ein weißes Sonnenschwert..." murmelte er nachdenklich.

Muichiro trat näher und betrachtete die Klinge mit wachem Blick. „Ich habe bisher nur eine einzige Person mit einem weißen Sonnenschwert gesehen", sagte er leise. „Das bedeutet etwas."

Tamae fühlte sich, als würde eine unsichtbare Last auf ihren Schultern liegen. War das gut oder schlecht? War sie vielleicht nicht stark genug? Oder bedeutete es, dass ihr Weg ein anderer war als der der anderen?

„Was bedeutet es?" fragte sie schließlich und blickte zwischen dem Schmied und Muichiro hin und her.

Der Schmied zögerte einen Moment, bevor er antwortete. „Die genaue Bedeutung kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Es gibt nur wenige Berichte über weiße Klingen. Aber in den alten Schriften heißt es, dass Weiß für Klarheit und Reinheit steht. Es könnte bedeuten, dass deine Kampftechnik auf Präzision und Geschwindigkeit basiert. Oder dass dein Herz frei von Zorn ist."

Muichiro sah sie nachdenklich an. „Du bist nicht wie andere Dämonenjäger, Tamae. Deine Motivation ist nicht Rache allein, oder?"

Tamae senkte den Blick. Er hatte recht. Sie wollte die Dämonen besiegen, aber nicht aus Hass. Sie wollte diejenigen beschützen, die noch lebten. Sie wollte nicht, dass jemand anderes das durchmachen musste, was sie durchgemacht hatte.

„Vielleicht...", murmelte sie. „Ich will sie besiegen. Aber nicht nur aus Rache. Ich will, dass niemand mehr so leiden muss wie ich."

Der Schmied nickte langsam. „Dann passt das weiße Schwert zu dir. Es ist das Zeichen einer reinen Absicht. Es ist wunderschön."

Tamae betrachtete die Klinge erneut. Ja, sie war wunderschön. Sie reflektierte das Licht wie frisch gefallener Schnee, und doch war sie so scharf wie jede andere Klinge. Sie wusste, dass dieses Schwert ihr Begleiter im Kampf sein würde – und dass es ihr helfen würde, ihren Weg zu gehen.

„Danke", sagte sie leise und verbeugte sich tief vor dem Schmied. „Danke, dass Sie dieses Schwert für mich geschmiedet haben."

Der Schmied lächelte leicht. „Behandle es gut, Tamae. Es wird dich beschützen, wenn du es zu führen weißt."

Muichiro legte eine Hand auf ihre Schulter. „Du hast jetzt dein eigenes Schwert. Ab morgen beginnt dein echtes Training als Dämonenjägerin."

Tamae nickte entschlossen. Sie war bereit. Bereit, ihren Weg zu gehen, bereit, sich den Dämonen zu stellen, bereit, ihre eigene Stärke zu entdecken.

Das weiße Sonnenschwert lag sicher in ihren Händen – und mit ihm ihr Schicksal.

Tamae saß auf einem der großen Tatami-Matten im Nebelanwesen und betrachtete ihr frisch erhaltenes Schwert. Die Klinge lag ruhig vor ihr, der weiße Glanz noch immer ungebrochen. Der Wind wehte sanft durch das offene Fenster, und in der Ferne hörte sie das Zwitschern der Vögel. Aber in ihr war eine Unruhe, die nicht verflog. Es gab noch so viele Fragen, die sie sich nicht zu beantworten wusste.

Sie hatte das Gefühl, dass ihre Reise gerade erst begonnen hatte, und während sie sich darüber freute, dass sie nun offiziell eine Dämonenjägerin war, wusste sie auch, dass der wahre Kampf erst vor ihr lag. Doch eine Sache beschäftigte sie besonders: Muichiro hatte von einer anderen Person gesprochen, die ebenfalls ein schneeweißes Katana führte. Wer war diese Person? Und warum hatte Muichiro sie erwähnt?

Tamae stand auf und ging langsam zu Muichiro, der draußen auf der Veranda stand und die Aussicht über die weite Landschaft genoss. Der Himmel war in sanftes Blau gehüllt, und die Sonne stand hoch, als ob sie gerade ihren Zenit erreicht hätte. Muichiro, der in der Sonne stand, wirkte ruhig und unbeeindruckt, doch in seinen Augen lag etwas, das sie nicht ganz einordnen konnte.

„Muichiro", begann Tamae vorsichtig, während sie sich ihm näherte. „Du hast gesagt, du kennst noch eine Person, die ein schneeweißes Katana besitzt. Wer ist das?"

Muichiro drehte sich langsam zu ihr um. Es war nicht der Blick, den sie von ihm erwartete. Normalerweise war sein Gesicht ausdruckslos, doch für einen Moment konnte Tamae in seinen Augen ein kleines Aufblitzen von Interesse und vielleicht auch Verwirrung sehen. Als ob er über etwas nachdachte.

„Du möchtest wissen, wer das ist, hm?" sagte Muichiro mit ruhiger Stimme. Er ließ das Gespräch wie eine beiläufige Bemerkung klingen, doch Tamae konnte spüren, dass es mehr dahinter gab. „Es ist die Tsugoku von Obanai Iguro."

„Tsugoku? Was ist das?", fragte Tamae, der Begriff war ihr bisher noch nie begegnet.

Muichiro stellte sich aufrechter hin und atmete tief durch, bevor er antwortete. „Ein Tsugoku ist eine Art von Schüler, der besonders enge Bindungen zu einem ihrer Lehrer hat. In diesem Fall handelt es sich um die Schülerin von Obanai Iguro, der Schlangensäule. Wenn ein Tsugoku von einem Meister oder einer Meisterin anerkannt wird, bedeutet das, dass die Verbindung zwischen ihnen besonders stark ist. Man könnte sagen, dass ein Tsugoku nicht nur eine Schüler ist, sondern auch eine Art zweite Seele für ihren Meister."

Tamae überlegte, was er sagte. Es klang fast wie eine Art enges Band, etwas, das weit über die normale Beziehung zwischen Lehrer und Schüler hinausging.

„Und diese Person, die du kennst", fragte Tamae, „wer ist sie? Und warum trägt sie auch ein schneeweißes Katana?"

Muichiro schloss für einen Moment die Augen, als ob er nachdachte. „Ihr Name ist Yukina Hoshino. Aber..." Er hielt inne und schaute dann zu Tamae. „Ich muss zugeben, ich habe ihren Namen seit einiger Zeit nicht mehr gehört. Sie ist eine außergewöhnliche Kriegerin, auch wenn sie noch jung ist. Und ihre Klinge... Sie hat das gleiche weiße Schwert wie du."

Tamae nickte nachdenklich. „Aber warum? Warum haben wir beide so ein Katana?"

„Es hat mit der Natur des Sonnenschwertes zu tun", erklärte Muichiro. „Das Schwert färbt sich in der Farbe, die dem Träger am meisten entspricht. Aber in deinem Fall ist es nicht nur das. Es gibt nicht viele, die ein schneeweißes Schwert führen. Manchmal, wenn das Schwert für zwei unterschiedliche Krieger wie dich und Yukina bestimmt ist, kann es zu ähnlichen Ergebnissen kommen."

„Es ist also nicht nur ein Zufall?" fragte Tamae.

„Nein", antwortete Muichiro mit einem ernsten Ton. „Es ist selten, dass zwei Schwertträger mit dem gleichen weißen Schwert verbunden sind. Meistens hat es eine tiefere Bedeutung."

Tamae spürte, dass sie noch viel mehr über diese Verbindung erfahren musste. Was genau war die Bedeutung dieses weißen Schwertes? Was machte die Bindung zwischen ihr und Yukina besonders? Und vor allem – was bedeutete das für sie und Muichiro?

Muichiro sah sie mit einem Blick an, der zugleich tief und nachdenklich war. „Du hast dich entschieden, Dämonen zu bekämpfen, Tamae. Aber es gibt noch einen anderen Weg, den du wählen kannst, wenn du bei mir bleibst. Du kannst meine Tsugoku werden."

Tamae blickte ihn überrascht an. „Was meinst du damit?"

„Ein Tsugoku ist nicht nur ein Schützling. Sie sind auch untrennbar mit ihrem Meister verbunden", erklärte Muichiro. „Wenn du dich dafür entscheidest, mit mir zu bleiben, wird deine Verbindung zu mir stärker. Du würdest nicht nur meine Schülerin sein, sondern auch ein Teil von mir, genauso wie die Tsugoku von Obanai. Wir wären untrennbar miteinander verbunden."

Tamae spürte, wie sich ihre Gedanken überschlagen. Was meinte Muichiro mit „untrennbar verbunden"? War das eine Einladung, bei ihm zu bleiben, um mehr als nur eine Schülerin zu sein? Und was bedeutete es für ihr Leben? Würde sie sich wirklich dafür entscheiden, als Tsugoku zu bleiben? Gab es überhaupt eine Wahl?

„Und wenn ich mich dafür entscheide?", fragte Tamae schließlich, ihre Stimme ruhig, aber mit einer Spur Unsicherheit.

„Dann würdest du ein enger Teil meiner Ausbildung und meiner Welt werden", antwortete Muichiro. „Aber es ist nicht leicht. Die Rolle eines Tsugoku ist mit Verantwortung verbunden, und es gibt viele Prüfungen, die du durchstehen musst."

Tamae schloss für einen Moment die Augen und dachte nach. Sie hatte sich immer gefragt, warum sie ausgerechnet bei Muichiro geblieben war. Sie hatte seine Fähigkeiten bewundert, seine Ruhe und Klarheit. Und jetzt wusste sie, dass ihre Entscheidung, sich ihm anzuschließen, weit über das hinausging, was sie ursprünglich geglaubt hatte.

„Ich werde darüber nachdenken", sagte Tamae schließlich. „Ich brauche Zeit, um zu verstehen, was das wirklich für mich bedeutet."

Muichiro nickte, und in seinen Augen lag eine Mischung aus Verständnis und Geduld. „Es ist keine Entscheidung, die man leicht trifft. Aber wenn du dich entscheidest, wirst du meinen vollsten Respekt haben."

Tamae atmete tief durch und nickte ebenfalls. „Danke."

Während sie noch über alles nachdachte, begann sie, in Gedanken die Worte des Schmieds und von Muichiro zu verarbeiten. Hatte sie die Möglichkeit, zu wachsen und mehr zu werden als nur eine Kriegerin? Konnte sie diese Bindung eingehen, die so stark war, dass sie untrennbar mit einem anderen Menschen verbunden sein würde? Sie wusste, dass ihre Reise erst begonnen hatte, aber sie hatte das Gefühl, dass ihre Entscheidungen nun umso schwerwiegender waren. Die Verantwortung, die ihr übertragen wurde, war nicht leicht.

Die Ruhe des Anwesens umhüllte sie, und auch Muichiro stand einfach nur da, wartend, bis sie sich entschieden hatte. Es war ein Moment der Stille, ein Moment des Innehaltens.

„Ich werde meinen eigenen Weg gehen", sagte Tamae schließlich, fast wie ein Flüstern, „aber für jetzt... für jetzt bleibe ich hier."

Muichiro nickte, als hätte er mit dieser Antwort gerechnet. „Es ist der erste Schritt. Und du bist nicht allein, Tamae."

Sie spürte, wie ein gewisser Druck von ihr abfiel. Sie war noch nicht bereit, alle Antworten zu haben, aber sie wusste, dass sie sich weiterentwickeln würde. Sie hatte ein Ziel vor Augen, und sie war entschlossen, es zu erreichen – ob als Tsugoku oder als eigenständige Kriegerin.

Für den Moment war das schneeweiße Katana alles, was sie brauchte, um vorwärts zu gehen.

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