Kapitel 4
Der erste Tag des Trainings begann früh. Das erste Licht des Morgens schlich sich durch die Fenster des Schmetterlingsanwesens, als Tamae sich langsam aus ihrem Bett erhob. Ihre Wunden waren weitgehend geheilt, aber das Gefühl der Schwäche war immer noch in ihr. Doch heute, so hatte Muichiro gesagt, würde alles anders werden. Sie würde beginnen, ihre Kraft zu finden.
Shinobu hatte ihr gezeigt, wie sie sich in den Morgenstunden zu ihrem Trainingsplatz begab, und dort wartete Muichiro bereits auf sie, seine cyanblauen Augen ruhig und ungerührt, als ob er in der Stille des Waldes selbst stand. Der Nebel, der morgens immer noch über dem Anwesen lag, schien seine eigene Präsenz zu verstärken, als Muichiro sich leicht nach vorne beugte und in einer klaren, tiefen Stimme sprach: „Heute lernst du die Atmung. Die Grundlage von allem. Ohne sie wirst du nicht weit kommen."
Tamae stand da, ihre Hände zitterten ein wenig, obwohl sie versuchte, sich zu fassen. „Was genau muss ich tun?" Ihre Stimme war unsicher, aber sie spürte einen Funken von Entschlossenheit tief in ihrem Inneren.
„Du wirst lernen, bewusst zu atmen", sagte Muichiro, seine Stimme ruhig, aber bestimmt. „Atme tief ein. Fülle deine Lungen vollständig. Spüre den Atem in dir, ohne Ablenkung. Du musst den Atem kontrollieren, Tamae. Denn nur mit einem klaren Geist kannst du deine wahre Stärke entfalten."
Tamae nickte, obwohl sie das Gefühl hatte, dass es leichter gesagt als getan war. Sie stellte sich neben Muichiro, schloss die Augen und atmete ein. Zuerst war es nur eine flache Bewegung, dann versuchte sie, ihren Atem zu vertiefen. Doch je mehr sie sich anstrengte, desto mehr fühlte sie sich von ihren Gedanken abgelenkt. Erinnerungen an ihre Familie, der Schmerz, der Verlust... alles kam wieder zurück.
„Nicht so", hörte sie Muichiros ruhige Stimme. „Dein Atem muss konstant und ruhig sein. Lenke deinen Fokus auf den Atem. Keine Gedanken. Keine Erinnerungen. Nur der Atem."
Tamae versuchte es erneut, dieses Mal konzentrierter. Sie schloss die Augen, versuchte, alle anderen Gedanken beiseite zu schieben. Ihr Atem kam langsamer, tiefer. Sie spürte, wie ihr Brustkorb sich mit jedem Atemzug weiteten, wie ihre Lungen sich mit Luft füllten. Doch es war noch nicht perfekt. Sie merkte, dass sie wieder unruhig wurde, dass ihre Gedanken wie Schatten immer wieder in ihren Kopf schlüpften.
„Das ist nicht genug", sagte Muichiro leise, und seine Stimme brachte etwas in ihr zum Klingen, das sie noch nicht ganz verstand. „Du musst den Atem nicht nur kontrollieren, sondern ihn vollständig in deinem Körper spüren. Du musst deinen Körper zu deinem Partner machen. Der Atem ist der Schlüssel zu deinem Kampfgeist."
Tamae hatte das Gefühl, dass diese Worte tief in ihr etwas auslösten. „Körper und Atem als Partner..." wiederholte sie leise, als sie es versuchte, noch einmal.
Muichiro nickte und fügte hinzu: „Ja. Dein Körper ist nicht dein Feind. Du musst lernen, dich mit ihm zu verbinden. Nur dann kannst du das tun, was du tun musst. Wenn du mit deinem Atem in Einklang bist, kannst du auch in Einklang mit deinen Fähigkeiten sein."
Tamae atmete tief ein und versuchte, sich vorzustellen, dass jeder Atemzug ein Teil ihres Körpers wurde. Sie stellte sich vor, wie die Luft ihren Körper füllte, wie sie durch ihre Adern und Muskeln strömte. Sie konzentrierte sich nur auf das Atmen, die Gedanken zurückschiebend. Einatmen. Ausatmen. Der Rhythmus begann sich zu stabilisieren, ihr Herzschlag wurde gleichmäßiger. Ihre Augen öffneten sich langsam, und sie bemerkte, dass ihre Gedanken nun klarer waren, nicht mehr von den Schrecken der Vergangenheit überwältigt.
„Du beginnst, es zu verstehen", sagte Muichiro, und obwohl sein Gesicht immer noch von der gewohnten Ruhe geprägt war, konnte Tamae einen Hauch von Zufriedenheit in seinen Augen erkennen. „Aber es gibt mehr. Du musst lernen, diese Konzentration auch unter Druck aufrechtzuerhalten. Du musst deinen Fokus in jeder Situation bewahren, egal was passiert."
Tamae nickte ernst. „Ich werde es versuchen."
„Gut", antwortete Muichiro und zog sein Schwert. „Nun, da du die Atmung einigermaßen kontrollierst, werden wir mit etwas anfangen, das deine Fähigkeiten auf die Probe stellt."
„Was sollen wir tun?" fragte Tamae, ihre Nervosität stieg wieder an.
„Du wirst deinen Atem in Bewegung umsetzen. Deine Atmung wird zu deinem Schwert. Deine Schläge werden von deiner Konzentration getragen", sagte Muichiro und setzte sich in eine Kampfhaltung. „Schlage zu."
Tamae zögerte. Sie hatte noch nie gekämpft, geschweige denn ein Schwert geführt. Doch sie wusste, dass dies ein wichtiger Schritt war. Sie nahm das Schwert, das Muichiro ihr anvertraut hatte, und versuchte, in seine Richtung zu schlagen. Doch der Schlag war schwach, wenig kontrolliert. Ihre Atmung war unregelmäßig, und sie spürte sofort, wie sie die Energie verlor.
„Deine Atmung ist der Ursprung deiner Kraft", sagte Muichiro ruhig, als er den Schlag ohne Mühe abwehrte. „Versuche es noch einmal. Denke an deinen Atem. Spüre, wie er sich in deinem Körper bewegt, und lass deinen Körper im Einklang mit diesem Atem handeln. Die Stärke kommt nicht aus der Gewalt, sondern aus der Harmonie."
Tamae nickte und schloss erneut die Augen. Sie atmete tief ein und versuchte, den Rhythmus ihrer Atmung wieder zu spüren. Sie stellte sich vor, wie der Atem in ihren ganzen Körper floss, von ihrem Herzen bis zu ihren Händen, bis sie das Schwert hielt. Dann ließ sie den Schlag los – nicht mit Wucht, sondern mit einem Gefühl der Präzision. Sie spürte, wie der Schlag anders war, wie er mit ihrer Atmung verschmolz. Es war nicht perfekt, aber es fühlte sich richtig an.
„Besser", sagte Muichiro, als er den Schlag erneut blockierte, aber mit weniger Mühe. „Du beginnst zu verstehen, Tamae. Deine Atmung wird zu deinem Leben, und dein Leben wird zu deiner Stärke."
Tamae atmete tief ein und sah Muichiro mit einem ernsten Blick an. „Ich werde es weiter üben. Ich will stärker werden. Ich werde es schaffen."
„Das weiß ich", sagte Muichiro, der nun langsam eine neue Haltung einnahm. „Aber denke daran, dass du dir Zeit lassen musst. Diese Art der Konzentration braucht Zeit. Du wirst nicht sofort Perfektion erreichen, aber du wirst wachsen. Und wenn du geduldig bist, wirst du eines Tages stark genug sein, um dich gegen jedes Übel zu stellen."
Tamae nickte, und obwohl der Weg noch lang und schwer war, fühlte sie sich zum ersten Mal seit dem Angriff nicht völlig verloren. Vielleicht hatte sie endlich einen Anfang gefunden. Und vielleicht, nur vielleicht, konnte sie eines Tages die Stärke finden, die sie brauchte, um all das zu überstehen.
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