Kapitel 34. Azael

Ich badete im Blut unzähliger Dämonen.
Dämonen, die ich ohne Gnade abschlachtete. Seit Monaten. Sechs, um genau zu sein. Seit sechs Monaten, 4 Tagen, neun Stunden und 27, nein, 28 Minuten.

Die Decke in meinem Zimmer müsste schon ein Loch haben, so verbissen starrte ich jede Nacht darauf. Wie immer, wenn ich nicht schlafen konnte, stand ich auf und schlich mich durch das Wohnzimmer, auf dessen Sofa Cahir lang ausgestreckt und mit einem Arm auf den Augen lag und schlief.

Ich linste ins Badezimmer, aber es war leer. Keine Cremes, keine Parfums, keine Tinkturen, Serums und Körperlotionen. Alles, was dort noch stand, war ein Duschgel, ein Rasierer und Deo. Keine pastellrosa Verpackungen stand mir im Weg und nur mein eigener Duft, der mir entgegenwehte.

Ich wandte mich ab und hieß den kleinen Stich in meinem Herzen willkommen. Eigentlich war er immer da und ich spürte ihn schon gar nicht mehr, so allgegenwärtig war er.

Mit einem letzten Blick auf alles, was fehlte, wandte ich mich ab und lief zu Lins Zimmer. Die Tür öffnend, starrte ich in der Dunkelheit in den Raum, der vollkommen leer war.
Kein gemachtes Bett, keine Kleider auf dem Boden, keine Dekoration und kein Stofftier.
Sie war weg.
Ausgezogen.

Noch an dem Abend, als ich sie aus dem Berg geholt hatte, war Lin gegangen. Sie hatte ihre Sachen gepackt und war ausgezogen und hatte mich verlassen. Und ich? Ich habe zugesehen, wie sie ein Teil nach dem anderen in die Kartons gepackt hatte, in denen sie damals hier eingezogen war. Ich hatte zugesehen, wie sie jeden Einzelnen das Treppenhaus hinuntergeschleppt und dann, wie Paulina, die sie nach Hilfe gefragt hatte, in einem kleinen Transporter verschwunden war.
Sie hatte geweint. Die ganze Zeit über geweint und ich hatte zugesehen.

›was ... waren die letzten Worte von meinem Vater, als du ihn niedergestreckt hast‹
›ist das wichtig‹
›ja, ist es.‹

›wie konntest du nur so etwas herzloses tun? Wenn ich keine Bindung zu dir hätte, würde ich dich abgrundtief hassen und ich wünschte, ich könnte dich hassen. Ich will dich hassen!‹
›sag das nicht, Lin. Ich bitte dich‹

›warst du überhaupt nur ein Mal wirklich ehrlich zu mir?! Wie konntest du nur?‹

›wenn du gehen willst, oder ich gehen soll, komme ich klar.‹
›was wolltest du hören? Dass es mich umbringen wird, wenn du gehst?‹
›ich wollte hören, dass du mich nicht verlieren willst. Dass ich bleiben soll. Dass du warten wirst, bis ich dir verzeihe. Dass du uns nicht aufgeben willst. Aber das alles hast du nicht gesagt. Aber es ist gut, zu wissen, dass du klarkommst.‹

Ich komme klar. Tat ich das?
Nein. Absolut nicht! Ich litt Höllenqualen. Jeden Tag, seit sie weg war, erstickte ich fast und der Schmerz in meiner Brust war unerträglich. Ich spürte, dass es ihr ähnlich ging, wenn auch nicht ganz so wie mir. Durch mein Blut, dass ganz das eines Dämons war, war das Gefühl heftiger als bei Lin, die halb Mensch war. Sie hatte es schon schwer, aber ... Gott, dass ich mich aufrecht hinstellen konnte, war schon ein Wunder.

Ich rieb mir durch die Haare und lehnte mich in den Türrahmen zu dem leeren Zimmer.
Ich vermisste sie.
Ich liebte sie.
Ich wollte sie zurück.
Ich krallte meine Hand in meine nackte Brust und Riss mir dabei Haut auf. Schmerz erfasste mich, doch es reichte nicht, die Qual in meinem Inneren zu überschatten.

Als ich Lin erklärte, dass eine Verbindung zwar innig sei, aber nicht zwingend anzunehmen, hatte ich nicht gelogen. Keine der beiden Parteien musste es akzeptieren und man konnte immer getrennte Wege gehen. Nur ... es war hart. Bis die Verbindung sich löste und man frei war, litt man unmenschliche Qualen.

Ich sog scharf die Luft ein, als eine neue Welle des Schmerzes mich erfasste und fast in die Knie zwang. Die Fehler, die ich gemacht hatte, waren so dumm. So unendlich dumm, wenn man bedachte, dass ich einfach nur hätte die ganze Wahrheit sagen müssen.

Ich habe deinen Vater umgebracht. Es tut mir leid.

Einfach, oder?

Hätte ich es damals gesagt, wäre es in jedem Fall besser ausgegangen als jetzt. Entweder, sie hätte mir verziehen und wäre noch hier, oder aber sie wäre gegangen, bevor die Bindung zu fest wurde. Es wäre sicher nicht schön gewesen, doch erträglicher als jetzt. Denn jetzt? Noch nie hatte ich so etwas gefühlt. Selbst Mahas Tot war nicht so intensiv gewesen.

Erneut grub ich meine Krallen in meine Haut und dieses Mal so tief, dass ich keuchte und Blut floss.
Ich vermisste sie.
Ich liebte sie.
Ich wollte sie zurück.

»Az?«, gähnte Cahir und richtete sich auf. Er sah mich an und seufzte. »Schon wieder?«

Ich sah meinen Freund, der vor drei Monaten aus Sorge um mich, zu mir gezogen war, nicht an, als ich sagte: »Schlaf weiter.«

Er schnaubte und setzte sich auf. »Die ganze Bude stinkt nach deinem Blut.«

Er tat mir leid. Cahir war ein wahnsinnig guter Freund, der mir stumm beistand, wenn ich verzweifelt gegen den Schmerz ankämpfte. Er hatte es damals bei Maha schon getan und es wunderte mich, dass er es nicht leid war, auch jetzt hier zu sein, und mich leiden zu sehen.
»Es tut mir leid«, raunte ich und schluckte.

Er winkte ab. »Schon okay. Also ...« Cahir rieb sich müde das Gesicht und gähnte. »Wo ist sie?«

Wo ist sie?

Das fragte er immer zuerst, wenn ich nachts aufwachte, oder mit dem Blut der Dämonen, die ich abschlachtete, bedeckt war.

»Immer noch bei ihrer Mutter. Immer noch bei den Jägern.«

Linnea war dort hingegangen, keine Woche, nachdem sie weggegangen war. Ich schloss die Augen und fühlte dem Wissen nach, wo sich die Frau befand, die ich liebte. Tief einatmend, folge ich in Gedanken dem Faden, der mich, solange die Verbindung besteht, zu ihr führt. Sie ist am Stadtrand im Hauptsitz der Jägerfraktion.

Früher hätte ich diese Information genutzt, um diese Mistkerle abzuschlachten. Heute konnte ich das nicht, denn damit würde in Lin die Grundlage des Lebens nehmen, dass sie neuerlich gewählt hatte. Und so sehr die Viper auch versuchte, mich dazu zu bringen, es ihr zu verraten, ich schwieg.
Keine Folter und keine Versuchung konnte mein Schweigen brechen.

»Gehts ihr gut?«
Ich sah Cahir nach, der aufstand, an den Kühlschrank lief und zwei Blutkonserven herausholte. Keine Bierflaschen mehr, denn ich würde ohnehin keinen mehr hier einziehen lassen. Selbst wenn es nicht meine Wohnung war.
»Sie ... Ja, ich denke schon«, antwortete ich leise und nahm das Bier entgegen.

Es war nicht ganz gelogen und auch nicht ganz die Wahrheit, denn hier und das spürte ich, dass sie an mich dachte. Dass sie mich vermisste und dass sie, wie ich auch, litt, weil wir einander brauchten.

Anfangs war er schwerer für sie gewesen, denn Lin hatte den Entzug meines Blutes durchlebt. Sie stand sogar mehrmals mal vor der Tür, doch ich hatte sie nicht eingelassen. Zum einen, weil ich ja wusste, dass sie nur hier war, weil die das Blut wollte und zum anderen, weil ich mir selbst nicht getraut hatte. Lin hatte sich entschieden, mich zu verlassen und ich mich dazu, sie freizugeben. Denn ohne mich war sie sicher. Sicherer zumindest, als an meiner Seite.
Ich vermisste sie.
Ich liebte sie.
Ich wollte sie zurück.
Nichts von dem hatte ich je ausgesprochen.

Das Blut in einem großen Schluck austrinkend, warf ich den Beuten achtlos in die Spüle und lief in mein Zimmer. Ich schnappte mir ein Hemd, dann mehrere Waffen und lief zur Tür.
Cahir, der mir folgen wollte, hielt ich mit einer Handbewegung auf. »Ich geh' jagen.«

Er nickte nur. »Ich komme mit.«

»Alleine.« Ich sah ihn nicht an, sondern lief schon den Flur entlang, die Straße hinab und meinem Gefühl nach dorthin, wo ich dämonische Wesen am ehesten vermutete. Es dauerte ein paar Stunden, doch weit vor Sonnenaufgang, hatte ich mein Ziel gefunden.

Ich schnitt, stach, verbrannte und wiederholte alles immer wieder, bis meine Gedanken an Lin verschwunden waren und ich nur noch an das Töten der Wesen dachte.

Ich köpfte, weidete aus, halbierte, zerschnitt, verbrannte, trennte Gliedmaßen ab und fing wieder von vorne an, wenn ich in den Schatten der Nacht weitere Bestien aufspürte. Die Jäger, die ich sah, ließ ich unbehelligt und suchte stattdessen neue Monster in den Gassen. Zwei Menschen, die ich nicht retten konnte, musste ich begraben und als der Tag anbrach und ich wieder von oben bis unten mit Blut beschmiert war, ging ich unter den Berg und begann, die Gefangenen zu foltern und brutal abzuschlachten, wer auf der Liste der Todgeweihten stand.

Zur Freude der Viper, wie sie immer sagte, lief ich neuerlich zu Hochtouren auf. Ganz wie in alten Zeiten, meinte sie. Ich wusste, dass sie die Jahrzehnte, nach Mahas tot meinte.

Als ich wieder zu Hause ankam, war Cahir weg. Ich duschte, fiel kraftlos ins Bett und verfluchte ich mich dafür, meine Mutter nicht einfach umbringen zu können.
Aber sie war stark. Viel zu stark.
Und ich war zu schwach.

Ich starrte an die Decke, fühlte vereinzelt zu meinen allumfassenden Schmerzen neue, kleine Wellen aufflackern und schloss die Augen. Lin. Es waren ihre Gefühle, dich ich spürte und obwohl sie meine verstärkten und mich die Pein doppelt und dreifach erleben ließen, griff ich an meine Brust und ein Lächeln zupfte an meinen Lippen. Es war alles, was mir von ihr geblieben war. Der Moment, indem sie selbst etwas so stark fühlte, dass es zu mir drang. Ich atmete ruhig und ließ die Schmerzen mit Freude zu, wenn es ihre waren.

Aber mein Lächeln verschwand.
Wie lange würde ich sie noch spüren? Wie lange, bis die Verbindung sich auflöste? Würde ich es spüren? So, als würde ein gespannter Faden durchgeschnitten werden? Oder ein Gummi, das schnalzte? Vielleicht war es auch ganz anders und es wurde einfach ... weniger. Immer subtiler, immer mehr Zeit zwischen den Schüben der Gefühle, die ich wahrnahm, bis sie ganz verschwanden?

Ein gepeinigter Laut entkam mir, denn ich wusste nicht, was ich schlimmer finden würde. Ein abruptes Ende, das einen in die Knie zwang, oder das Schleichende, dass einen eines schönen Tages, sprachlos und verletzt zurücklassen würde.
Wahrscheinlich würde ich es bald herausfinden.
Wahrscheinlich würde mein dunkles Herz bald ein zweites Mal zu Staub zerfallen und ich wusste, wusste es so genauso, wie dass sie Sonne am nächsten Tag wieder aufgehen würde, dass ich diesmal daran zerbrach.

Wenn die Verbindung zu Lin sich löste, und sie mich vergessen würde, gäbe es zwei Wege, die ich einschlagen konnte. Der eine würde mich in die Dunkelheit ziehen und ich würde mich der Bestie beugen, die ich selbst war und die sich lediglich von Instinkten und Blutdurst leiten ließe. Ich würde ein Monster werden und weder gut noch böse unterscheiden. Der andere ... nun, sagen wir so, wenn ich später einmal diesen Weg wählen würde, hätten meine Qualen ein Ende.

Mein Handy piepte und ich nahm es vom Nachtisch. Diese bescheuerte Hoffnung, jedes Mal, wenn es eine Nachricht anzeigte, oder klingelte, ließ mich fast verrückt werden.
Und immer wieder tat die Enttäuschung ein wenig mehr weh.

CAHIR: ›bist du zu Hause?‹

Ich antwortete nicht. Stattdessen wechselte ich den Chat zu Lins und tippte:

ICH: ›ich liebe dich.‹

Ich starrte die Nachricht an. Starrte und starrte und starrte und löschte sie letztlich. Das zu senden wäre nicht gerecht. Es wäre armselig und nicht das, was ich mit für Linnea wünschte.

Ich liebte sie.

Ich vermisste sie und ja, fuck, ich wollte sie zurück. Aber sie hatte sich entscheiden und ich würde das akzeptieren. Auch wenn es letzten Endes meinen Untergang bedeuten würde.
Der Schmerz, der mich jetzt erfasste und mir den Magen fast umdrehte, sodass ich mich beinahe, wie am Anfang, als sie weg war, erbrechen ließ, begleitete mich in einen, von Erinnerungen mit Linnea gezeichnetem Traum.

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