Wir sehen Dich ...
„Lasst mich in Ruhe!" Ich riss die Augen auf und presste die Worte aus mir heraus. Sofort saß ich schweißgebadet in meinem Bett. Das Herz raste, und der Atem bebte. Vorsichtig flog mein Blick durch den Raum. Die Sonnenstrahlen kämpften sich durch die schmalen Schlitze des Rollos. Beruhigend tanzten die Staubpartikel im warmen Licht, das sich am Boden entlang zur Wand hinter mir hochzog. Eine leise Sommerbrise ließ die Blätter der Bäume rascheln. Vögel sangen, und der Geruch von frisch gemähtem Rasen lag in der Luft.
Unruhig tastete ich meine Schulter ab. Sie war warm und strahlte eine unbehagene Aura aus. Ich fasste mir mit beiden Händen ins Gesicht. Das Beben meiner Finger ließ sich nicht stoppen. Immer stärker, immer unruhiger. Ein tiefer, hauchender Atemzug entwich meiner Lunge. Die Bettdecke raschelte, als ich sie zur Seite warf, um mich taumelnd auf den Weg ins Bad zu machen. Meine Schritte waren schwer und träge. Das kalte Wasser ließ mich kurz zusammenzucken. Mein Kopf schmerzte. Ich sah hinauf in den Spiegel. rasant weiteten sich meine Augen und die Pupillen formten sich zu kleinen Schlitzen. Zitternd drehte ich mich um. Ein Schauer lief mir den Rücken hinab, als ich realisierte, allein in diesem Raum zu sein. – War hier nicht gerade noch ... –
Zögernd richtete ich den Blick wieder auf den Spiegel. Mein eigenes Spiegelbild war das Einzige, was zu sehen war. Es musste wohl Einbildung gewesen sein. Zur Sicherheit, um wirklich wach zu sein, warf ich weitere Hände voll kaltes Wasser ins Gesicht. Anschließend zog ich mir neue Kleidung an und begab mich nach unten ins Wohnzimmer.
Mit jedem weiteren Schritt verflog der Geruch des frischen Grases, und aggressiver Alkohol lag in der Luft. „Guten Morgen, Schlafmütze", begrüßte mich meine kleine Schwester May, mit Chipstüten in den Händen, die sie gerade entsorgte. Vereinzelt lagen oder standen leere und halbvolle Flaschen, aus deren die letzten Tropfen die Alkoholpfütze unter ihnen vergrößerten. Insbesondere die Bar, welche am Anfang der großen offenen Küche stand, klebte und triefte.
Erschöpft ließ ich mich auf das Sofa fallen, dessen Kissen vereinzelt herum lagen. Es war ein angenehmes Gefühl, wie sich jeder einzelne Muskel entspannte. Ein schwerer Atemzug entwich meiner Lunge. „Was ist denn hier passiert?", fragte ich erschöpft, warf den Kopf nach hinten, um es im nächsten Moment zu bereuen, da dieser dröhnte, und rieb mir mit beiden Händen das Gesicht. Ich starrte auf die Decke und ließ die Arme schlaff neben mich fallen. Wie schön sich alles drehte. Mir kam es vor wie in einem Karussell.
„Alkohol ist passiert", antwortete May lachend. „Wie war die Nacht? Ich hatte gehört, du hättest Claudia angebaggert. Warst du erfolgreich?", ein neugieriger Blick mit einem fetten Grinsen verzierte ihr Gesicht.
„May, was willst du?", nörgelte ich und rieb mir den Nacken.
„Wie's aussieht, hatte Claudia es dir richtig gegeben." Ihr Grinsen wurde größer, und sie stützte sich gelassen mit verschränkten Armen zwischen den ganzen leeren und halbvollen Alkoholflaschen auf der Bar ab.
„Was? Wer ist Claudia?"
„Ach, komm", kicherte sie, „So viel hattest du gestern nun auch nicht getrunken."
„Anscheinend genug, um den gestrigen Abend zu vergessen", antwortete ich mit einem leichten Gähnen und setzte mich zu ihr an die Bar.
„Wer ist das da?", fragte ich verwirrt und deutete mit einem Nicken auf eine Person, die hinter der Bar auf dem Boden lag.
„Ach, hier war er die ganze Zeit. Hey, warte!", May unterbrach ihren Satz, um etwas aufzuheben. „Das ist mein Handy." Sie warf mir einen finsteren Blick zu.
„Ich habe damit nichts zu tun." Sofort hob ich unschuldig die Hände. „Ich weiß ja nicht einmal, was gestern passiert ist."
„Verarsch mich nicht!", ihre Augen blitzten auf, „Wieso hatte Finn das Handy in seiner Hosentasche?", ihre Stimme strahlte eine leichte Wut aus. „Ihr wolltet doch nicht meine Exfreundin Vanessa anschieben?!" Ohne weitere Worte machte sie sich aus dem Staub.
„Was macht Finn hier unten?", hakte ich mit meiner Frage nach und sah ihr hinterher.
„Mhm. Er wird wahrscheinlich bei einer Auseinandersetzung von irgendjemandem endlich mal eines auf die Schnauze bekommen haben", antwortete mir May genervt. – Wenn Blicke töten könnten. – „Fuck! So viele Nachrichten!" Ihre Augen blitzten auf, worauf sie sofort anfing, hastig auf dem Bildschirm ihres Handys zu tippen.
Erschöpft ließ ich meinen Kopf auf die Theke fallen. Die Flaschen klirrten, und weitere fielen um. Ein leidendes Brummen begleitete den nächsten Atemzug. – Die Schmerzen bringen mich noch um. – Zum Glück war es nur ein Rauschtraum gewesen. Dennoch, die Gestalten verschwanden nicht aus meinem Kopf. Die Ranken mit den Kindern, sie gaben mir weiterhin ein Unbehagen, und das ätzende Kinderlachen, es dröhnte in den Ohren. Die Angst kehrte wieder und ließ meinen Körper beben. Das Blut gefror in den Adern. Das Gefühl, von einer übernatürlichen Macht, zerquetscht zu werden, raubte mir die Luft zum Atmen. „Mike. Ich warte auf dich ..." Eine leise hauchende Stimme huschte durch den Raum. Sofort rappelte ich mich auf.
Nach einem kurzen Schweigen fragte ich zögernd: „May, ist hier noch jemand anderes außer uns beiden und Finn?" Verwundert sah sie mich an und legte das Kissen langsam auf das Sofa. „Nein, wieso?" Leer starrte ich gegen die Wand hinter ihr. „Jemand hatte ...", stotterte ich. „Dachte, ich hätte etwas gehört", setzte ich mit deutlicher Stimme fort. Meine Augen lockerten sich wieder und blinzelten ohne Pause, während ich den Kopf kurz schüttelte.
„Hör auf Tag zu träumen und hilf mir lieber."
„Is gut", antwortete ich, sprang auf und nahm die ersten Flaschen in die Hand, welche ich sogleich in den Getränkekasten auf dem Boden stellte.
„Mike, kannst du mir bitte kurz helfen?", bat mich meine Schwester.
„Ja, was ist?", fragte ich sie und sah schräg zu ihr vor.
– Was war das? – schnell flog mein Blick zurück unter das Sofa. May antwortete mir, doch für mich war es nichts Weiteres als ein dumpfes Gemurmel. Ein kleines Funkeln blitzte unter dem Sofa hervor. Schweigend ließ ich die letzten Flaschen in den Kasten fallen und näherte mich dem Licht. Mit gerunzelter Stirn linste ich darunter.
Eine Maske. Sie hatte die Form eines Drachenkopfes. Sie strahlte eine bedrohliche Aura aus. Dennoch, die Neugier gewann und ich war nicht gewillt, mich dagegen zu wehren. Langsam streckte ich meinen Arm und zog die Maske hervor. Ihre blutroten Schuppen schimmerten wie wild im Sonnenlicht und in den Händen sah sie um ein Vielfaches mächtiger aus. Das lange, spitze Maul, aus welchem die scharfen Zähne hervorblitzen. Vorsichtig streifte ich über die Schuppen, diese eine aufwendig hinein geritzte Musterung hatten und die roten Augen aus Glas. So rau, so glatt. Ich war begeistert von dem geschickten Handwerk. Die Person muss wohl mehrere Monate daran gesessen haben. Es war ein Meisterwerk.
Ein stechender Schmerz durchströmte abrupt meinen Körper und für einen kurzen Moment wurde mir schwarz vor Augen. Ein verschwommenes Gesicht flackerte im Nichts. Der Druck kehrte wieder, gefolgt von dem Gefühl wie in einer Kapsel eingesperrt zu sein. Mein Puls stieg und eine riesige Angst nahm mich ein, nachdem der kurze Spuk ein Ende gefunden hatte. Tief atmend und mit zittrigen Händen starrte ich das Ding an.
„Hey, wo hast du denn die gefunden?" Voller Freude kam May zu mir und riss die Maske an sich. Sofort setzte sie diese auf und versuchte einen Drachen zu imitieren.
„Das hört sich viel mehr an wie ein Eichhörnchen, das gerade am Ertrinken ist."
„Jetzt sei mal nicht so", May gab mir einen lockeren Schlag auf die Schulter. „Wir waren doch gerne Drachen an Halloween", sagte sie voller Freude und wippte auf der Stelle. Ich sah ihr dabei zu und musste schmunzeln.
Für mich wirkte das alles etwas suspekt. Die Masken wären mittlerweile Vierzehn Jahre alt und von uns Grundschulkindern zusammengekleistert. Wenn diese Maske wirklich ein Überbleibsel wäre, dann wäre sie nicht in einem so guten Zustand. Ich könnte mich nicht daran erinnern, dass wir in diesem Alter in der Lage waren, nur mit Papier und Buntstiften so etwas zu kreieren. Selbst heute konnte ich nur ein Strichmännchen zeichnen.
„Gib mal her", forderte ich sie auf und musterte sie ein weiteres Mahl genau. „Nein, das ist keine Maske von uns. Erinnerst du dich noch? Wir waren sieben und neun, als wir unsere gebastelt hatten. Außerdem bestanden die nur aus einem Pappteller, Papier und die Buntstifte waren auch nicht besonders. Das ist keine von uns."
„Dann haben wir sie eben gekauft." , zuckte sie mit den Schultern.
„Eine Maske aus einem stabilen Material mit aufwändigen Verzierungen und Farben, die Schuppen aus Metall hat und schimmert, so wie keinerlei Gebrauchsspuren aufweist?" Ich sah May mit gerunzelter Stirn an. „Hätten wir sie gekauft, dann wäre sie deutlich abgenutzter, und die Farbe wäre abgesplittert. Wir verkleiden uns schon seit vier Jahren nicht mehr. Die Maske ist neu. Schau her, da sind richtige Muster eingearbeitet. Die Textur ist mal rau, mal glatt, und manche Stellen sind durch ihre aufwendigen Verformungen hervorgehoben." Ich schluckte. „Besonders die Schuppen wirken etwas angsteinflößend, ganz zu schweigen von den seelenlosen Augen aus Glas. Egal, in welche Richtung du die Maske drehst, man wird von ihrem Blick verfolgt." Mit jedem weiteren Wort wurde das Zittern in meiner Stimme stärker. Unruhig gab ich sie May zurück.
„Mir doch egal", lächelnd setzte sie sich die Maske wieder auf und hopste mit ihr davon, um weiter sauber zu machen.
Ein Unbehagen kam auf. Zuerst leise, aber zunehmend lauter kehrten die Stimmen zurück. Mein Körper bebte, er war nicht zu beruhigen, und ein Knoten im Hals verhinderte das Atmen. Eventuell war es wirklich nur ein Zufall, und ich hatte die Maske auf der Party gesehen, weswegen sie einen Einfluss auf den Traum hatte. – Mike, beruhige dich. – Ich fing an, wieder aufzuräumen, bis ...
Das Unbehagen sich verstärkte. Mein Blutdruck stieg. Die Angst ließ sich nicht dämmen, und mein Körper konnte keine Sekunde lang stillstehen. Mein Gesicht war kreidebleich.
Zitternd flogen die Augen über die Buchstaben. „Wir sehen dich ..." In Großbuchstaben war es auf einer der Flaschen geschrieben. Meine Haare stellten sich schlagartig auf und das Gefühl der Hand auf dem Rücken kehrte wieder. Ich ließ das Gefäß fallen, die Scherben klirrten. Stand wie eingefroren an Ort und Stelle. Ich wollte meinen Körper bewegen, doch ohne Erfolg. Die Hitze des Feuers aus dem Traum, sie ließ mich schwitzen. Das Lachen der Kinder, es lief mir kalt den Rücken hinab.
– Was ist hier los? –
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