Kapitel 2
„Ella, ich fahre in fünfzehn Minuten los nach Berlin. Kannst du meine Termine auf Telefonate umstellen?" Frage ich über die Gegensprechanlage. Mein Vater ist so ein Idiot. Glaubt, er wird wichtiger, wenn er sich möglichst häufig wie ein amerikanischer CEO gibt. Aber gut, dass ich seinen Karren ständig aus dem Dreck ziehe wird er merken, wenn ich in Australien bin. Meine Entscheidung ist gefallen. Ich wandere aus und das möglichst zeitnah. Während meines Urlaubs werde ich mich um die notwendigen Dinge kümmern.
„Wie? Wolltest du nicht erst heute Abend los?" Fragt Ella mich, in der Tür stehend.
„Ja, aber meine Pläne haben sich geändert." Antworte ich, während ich meinen Schreibtisch aufräume und alle notwendigen Unterlagen zusammen suche.
„Und wann genau haben die sich geändert?" Ella versucht mich mit ihren Blicken zu durchbohren. Ok, jetzt verstehe ich den Sinn dieser Gegensprechanlage.
„Ella, ich habe das entschieden und so wird es gemacht. Bitte keine Diskussion. Ich hab noch Unmengen an Arbeit zu erledigen und das kann ich vor Ort besser. Heute Abend kann ich dann schon mit dem Koch sprechen und morgen das neuste Problem angehen. Reicht dir das oder muss ich einen Antrag stellen?" Herrgott, bin ich zickig.
„Oh man, Valerie, krieg dich wieder ein. Es war eine Frage, mehr nicht." Damit dreht sie sich um und verschwindet hinter ihren Schreibtisch. Ich bin so eine Idiotin, aber das ist ja nichts neues. Mehr als einmal habe ich schon Menschen vergrault, die mir Gutes wollten. Im Gegenzug hab ich mich an die Leute gehalten, denen ich egal war. Einzig Vanessa ist immer an meiner Seite geblieben. Egal, wie ekelig ich mich ihr gegenüber früher verhalten habe. Sie ist die wichtigste Person in meinem Leben und die einzige, die mein oft wirres Verhalten versteht.
Ach, Vanessa, wie soll ich ihr nur erklären, dass ich weggehen werde? Obwohl, sie ist auch aus ihrem alten Leben ausgebrochen und hat sich ein neues aufgebaut. Vielleicht ist das gar kein so großer Unterschied. Kommt Zeit, kommt Rat.
Zwanzig Minuten später sitze ich endlich in meinem Auto und fahre in Richtung Berlin. Meine Unterlagen habe ich noch schnell alle doppelt ausgedruckt und Ella hat mein Telefon umgestellt auf mein Firmen-iPhone. Somit bin ich weiterhin erreichbar und kann trotzdem in Berlin alles vorbereiten. Mein Vater hat mir solch ein Chaos hinterlassen. Der Menü Plan steht noch nicht, die Live Band hat ihren Vertrag noch nicht unterschrieben und der DJ ist auch nicht engagiert. Das ist eine Arbeitsweise, die ich von dem alten Mann nicht kenne. Bei ihm ist alles immer 150%, nicht weniger, auf keinen Fall. Und dieses Mal hat er nur knapp 50 % geliefert.
Er hat nicht einmal die Sitzordnung erstellt. Das weiß ich tatsächlich nur von Tim. Der ist in diesem Jahr in die Planung involviert. Jedes Jahr wählt die Anwaltskammer eine Kanzlei aus, die sich mit einbringen muss. Das es Tims Kanzlei getroffen hat, ist tatsächlich mein Glück. An die Sitzplätze habe ich mich gestern schon gemacht. Die Anwaltskammer verteilt die Gäste an 10er Tische und wir müssen die Platzkarten drucken, verteilen und eine Übersicht am Eingang des Saals aufstellen. Dafür haben Tim und ich uns was anderes als sonst überlegt. Für den DJ haben wir auch ziemlich schnell eine Lösung gefunden. Mein Patenkind Lukas wird das übernehmen. Lukas ist der Sohn von Vanessa und bald der Stiefsohn von Tim, er ist gerade 20 Jahre alt geworden und studiert in Berlin. Das Thema mit dem Menü brennt somit gerade ziemlich, ebenso wie die Band. Ich habe also alles richtig gemacht, jetzt auf dem Weg nach Berlin zu sein. Es fühlt sich zwar wie Flucht an, aber das ist sicher nur Einbildung.
Im Radio läuft Pink, dieses wunderschöne Duett mit Nate Ruess. „Just Give Me A Reason". Erinnerungen an den letzten Abend in Winterberg kommen hoch.
Wir sind alle gemeinsam in der kleinen Karaoke-Bar, unweit von Tims Haus, es ist ein lustiger Abend und wir machen fleißig mit beim Karaoke. Einige Monate zuvor sind wir beim Stadtteilfest von Vanessa Kita sogar aufgetreten.
Jens nimmt irgendwann das Mikro und ruft mich zu sich auf die Bühne. Er setzt sich ans Klavier und die weiblichen Gäste fangen an zu grölen. Jaja, das kennen wir ja schon. Aber ich bin hier und ich bin die, die diese Nacht, dieses Wochenende, mit ihm verbringen wird. Und jetzt werde ich mit ihm gemeinsam singen. Zu Hause bei Tim im Musikkeller machen wir das häufig, aber noch nie haben wir vor Publikum gemeinsam gesungen. Ich bin noch nicht ganz bei Jens angelangt, ertönen schon die ersten Klänge und ich erkenne eins meiner Lieblingslieder. Die herzzerreißende Ballade „Just Give Me A Reason". Ich muss lachen und stelle mich neben das Klavier.
Right from the start
You were a thief, you stole my heart
And I, your willing victim
I let you see the parts of me, that weren't all that pretty
And with every touch you fixed them
Now you've been talking in your sleep oh oh
Things you never say to me oh oh
Tell me that you've had enough
Of our love, our love
Ich fühle mich frei, während ich singe und denke, dass ein Teil des Textes auch auf mich passt. Ich war vom ersten Moment an das willige Opfer. Und Jens kennt Seiten an mir, die niemand sonst kennt. Mit ihm kann ich alles ausleben, was ich mir wünsche. Völlig untypisch für mich, da ich sonst die Jägerin bin und immer die Kontrolle behalte.
Just give me a reason, just a little bit's enough
Just a second we're not broken just bent, and we can learn to love again
It's in the stars, it's been written in the scars on our hearts
We're not broken just bent, and we can learn to love again
Gemeinsam mit Jens den Refrain zu singen, fühlt sich völlig normal an. Mein Herz schlägt ruhig in meiner Brust und ich versinke in seinen Augen. Das es keine Karaoke Version ist, sondern nur Jens uns am Klavier begleitet stelle ich fest, als Jakob auf die Bühne kommt und den Platz von Jens einnimmt und dieser zu mir kommt.
I'm sorry I don't understand
Where all of this is coming from
I thought that we were fine (oh we had everything)
Your head is running wild again
My dear we still have everythin'
And it's all in your mind (yeah but this is happenin')
You've been havin' real bad dreams oh oh
You used to lie so close to me oh oh
There's nothing more than empty sheets between our love, our love
Oh our love, our love
Jens legt meine Hand auf sein Herz und es schlägt kräftig und ruhig. Er lächelt mich beim Singen an und...
Nein, Valerie, aufhören, so geht das nicht. Verdammt noch mal, jetzt bin ich mit meinen Gedanken in die völlig falsche Richtung abgedriftet. Ich muss mich selbst zur Ordnung rufen, damit dieser verhängnisvolle Abend nicht meine Gedanken beherrscht.
Aber was, zum Henker, ist nur passiert. Wir hatten diesen wundervollen Abend. Ich habe gedacht, wir hätten vielleicht doch etwas Besonderes miteinander. Bei dem Lied fühlte ich mich so verbunden mit Jens und er hat es doch auch gespürt. Wir haben stundenlang gesungen und miteinander getanzt, er hat den ganzen Abend keine andere Frau angesehen. Er hat nie andere Frauen angesehen, wenn ich dabei war.
Habe ich einen Fehler gemacht? Welchen bloß? Wir haben uns geküsst und ich bin mit den Mädels schon mal nach Hause gegangen. Vanessa schläft seit dem Anschlag schlecht und nicht immer hält sie lange durch. Sie wollte gerne, dass Tim noch bleibt und so sind wir mit ihr gegangen.
Es war vielleicht drei Stunden später, als ich die Männer gehört habe. Sie fluchten leise und einige Zeit später kam Jens zu mir ins Bett. Ich war im Halbschlaf und Jens kuschelte sich an mich. Er küsste meinen Nacken, wie er es immer vor dem Einschlafen macht. Oh Gott, ich hab zu viele Nächte mit ihm verbracht, wenn es da schon eine Routine gibt.
Innerhalb weniger Minuten ist er eingeschlafen, hielt mich fest in seinem Arm. Als ich mich zu ihm umgedreht habe, konnte ich es riechen...
Er roch nach Parfum, nach dem Parfum einer anderen Frau. Dieses Parfum trägt keine von uns, da bin ich mir bis heute sicher.
Wieso riecht er nach einer anderen und was hat er mit ihr gemacht?
Hatte er Sex mit ihr? Jens ist durchaus für eine schnelle Nummer irgendwo im Dunklen zu haben, dass weiß ich.
Mir wurde schlecht. Lag es an dem Parfum, am Alkohol oder doch an diesem Gefühl betrogen worden zu sein? Ich kann es bis heute nicht erklären, aber ich konnte auch nicht liegen bleiben.
Langsam und vorsichtig habe ich mich aus seinen Armen und aus unserem Bett geschlichen, wie ein Dieb. Danke, Pink! Meine Tasche hatte ich zum Glück noch nicht ausgepackt, so konnte ich mich schnell aus dem Staub machen.
Ich hätte ganz sicher nicht fahren dürfen, hatte ich doch mehr als ein Glas Wein getrunken. Bei dem Gedanke, was hätte passieren können, wird mir immer noch übel und ich fahre den nächsten Rastplatz an.
Diese Erinnerungen machen mich seit dem Tag wahnsinnig. Und auch jetzt kämpfe ich wieder mit den Tränen. Ich bin keine Frau, die weint. Warum ist das jetzt so? Wann habe ich die Kontrolle verloren?
Nach einem Kaffee und weiteren zermürbenden Gedanken, setze ich mich wieder hinters Steuer und fahre die letzten hundert Kilometer. Nach meinem Gespräch mit dem Koch werde ich mich betrinken und Jens aus meinem Kopf verbannen. Vielleicht begegne ich ja im Laufe der Woche einem gut aussehenden Mann, der mich ablenken kann. In der Vergangenheit zu leben nützt niemandem etwas. Das hat meine Mutter leider nie erkannt und ich habe mir geschworen, dass ich ihre Fehler nicht machen werde. Ich habe meine Mutter sehr geliebt und vermisse sie bis heute schrecklich. Meine Mutter war ein Engel und das hat mein Vater ausgenutzt. Das sie mit ihm nicht glücklich war, habe ich lange gesehen. Aber sie hat nie den Mut aufgebracht und etwas in ihrem Leben geändert oder sich von ihm getrennt.Wie ein Hamster im Rad hat sie auf der Stelle getreten und so möchte ich nicht leben. Dann lieber ohne Mann und zumindest zufrieden.
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