23. Gift im Blut
Louisa zitterte. Ihr Körper war kalt, eiskalt. Wieso, wusste sie nicht. Melanie warf ihr einen fragenden Blick zu, aber Louisa konnte nicht antworten. Ihre Zähne fingen an zu klappern. Magim, der gerade theatralisch etwas von Rubina erzählte, schaute verärgert zu ihr herüber, aber als er bemerkte, wie blau ihre Lippen waren, hielt er inne. „Louisa?“
Louisa erkannte ihren Namen. Stimmt, so hieß sie. Und das Mädchen neben ihr war Melanie, ihre Zwillingsschwester. Und wer war dieser Mann? Was erzählte er da? Schnell und geschickt hatte er ihr in den Rachen gesehen und ein paar Mal sorgenvoll den Kopf geschüttelt. Jetzt drückte er ihr etwas kühles auf die Stirn. Und die ganze Zeit waren da diese Augen, waldgrün, mit allen Schattierungen darin wie ein Baum im Sonnenlicht, die auf ihr ruhten und sie irgendwie beruhigten. Wer war das noch einmal? Ihre... Schwester? Und sie selbst hieß... Louisa. Oder? Irgendetwas mit L. Was machte sie hier unter Wasser? Warum erstickte sie nicht?
„Louisa, Hörst du mich?“, rief der Mann ihr ins Ohr. Sie zuckte zusammen und nickte dann eingeschüchtert.
„Du hast ein Mittel im Blut, das dich in regelmäßigen Abständen Dinge vergessen lässt.“ Die grünen Augen weiteten sich. Sie gehörten einer Schwester. Ihrer Schwester? „Erinnerst du dich an Melanie?“ Der Mann zeigte auf das Mädchen mit den grünen Augen. Louisa nickte leicht.
„Gut. Was weißt du über sie?“ Zuerst wollte ihre Stimme nicht kommen, doch dann brauch sie es leise heraus.
„Sie ist meine Schwester.“ Der Mann nickte aufmunternd.
„Weißt du noch mehr?“ Louisa dachte nach. Dieses Mädchen war ihr bekannt. Plötzlich machte es Klick.
„Wir haben unser Gedächtnis verloren und sind uns dann begegnet!“ Langsam dämmerte es ihr. Wo das Erinnern einmal eingesetzt hatte, griff es schnell um sich.
„Jetzt weiß ich wieder! Oh beim Großen... Verdammt! Kannst du etwas dagegen machen, Magim?“
Er sah sie prüfend an. Die grünen Augen lagen weiterhin auf ihr, und jetzt umarmte Melanie sie. Die beiden hielten sich aneinander fest wie schon vorhin, als Melanie von der vergifteten Wunde geheilt worden war. Es war so unheimlich, seinem eigenen Gedächtnis nicht trauen zu können!
„Solange du nicht vergisst, wer Melanie ist, kannst du alle anderen Erinnerungen auch nicht verlieren.“ Louisa nickte, aber sie hatte noch einige Fragen. An Melanies Kopf vorbei nuschelte sie
„Wurde unser Gedächtnisschwund auch durch dieses Mittel ausgelöst? Und kannst du irgendwas dagegen tun? Hat Melanie es auch?“. Magim sah sie nachdenklich an.
„Ja, es ist eine Nachwirkung, die euch jederzeit befallen kann. Das Gift hat sich unumstößlich festgesetzt, selbst mit Menschenhand wäre es lebensgefährlich für dich, sie zu entfernen... Kilomphorium wirkt etwa ein Jahr, dann müssten eure Erinnerungen bruchstückenhaft zurückkommen. Und was Melanie angeht... Ich untersuche das einmal.“
Gehorsam öffnete Melanie den Mund, um sich in den Rachen sehen zu lassen, und auch ihr hob er das kalte, metallene Gerät an die Stirn. Magim verzog mitleidig das Gesicht.
„Leider die selbe Diagnose.“
Sie war vergiftet. Jederzeit könnte sie ihre Erinnerungen verlieren und damit alles, was ihr noch Halt gab. Eine tiefe Verzweiflung grub sich durch ihr Inneres, womit hatte sie all das verdient? Noch war die Bedrohung für Melanie nicht greifbar, nur Louisa hatte die Auswirkung des Giftes am eigenen Leib erlebt. Doch mit der bitteren Gewissheit, einer willkürlich auftretenden Krankheit unterworfen zu sein, kam auch eine Hoffnung. Die Hoffnung, verschont zu werden, oder der Wirkung zu widerstehen. Und plötzlich wurde ihr warm ums Herz, denn ihr kam in den Sinn, zu beten.
„Großer“, flüsterte sie tonlos, „bitte lass mich, wenn das Gift zuschlägt, Louisa nicht vergessen“.
Auf seltsame Weise beruhigt wanderte ihr Blick zu Louisa, die zwar besorgt, aber immer noch beherrscht und ruhig aussah. Noch einmal berief sie sich auf die Quelle ihrer Kraft, einen Glauben, von dem sie nichts wusste, und der ihr trotzdem erhalten geblieben war.
„Beschütze uns.“
Denn sie hatten es mehr als nötig.
Nach einem kurzen Mittagessen setzte Magim an, weiter zu erzählen, aber Louisa unterbrach ihn.
„Das, was Nike geträumt hat, mit dem Beschützertier. Ist der Wal Melanies und Nom mein Beschützertier?“
Der sonst in sich ruhende Alchemist war plötzlich nervös, unbeholfen rieb er sich die Hände und räusperte sich.
„Also, ja, der Wal ist Melanies Beschützertier. Aber mit Nom... Das...“ Magim seufzte und machte eine kurze Pause.
„Ich will nicht vorweggreifen. Kannst du dich noch ein kleines bisschen gedulden?“
Louisa runzelte die Stirn und setzte zu einer scharfzüngigen Entgegnung an, nein, sie wolle sich nicht weiter gedulden, ob der werte Herr ihr denn nun wegen des Gedächtnisschwundes auf die Sprünge helfen wolle oder nicht, aber er brachte sie mit einer abwehrenden Geste zum Schweigen. Er war keineswegs verärgert, ein „So-kenne-ich-dich“-Lächeln zierte sein faltiger Gesicht.
„Na gut.
Elani... war ein sehr bewundernswertes Tier, wenn sie sich zeigte, nahm sie die Gestalt eines weißen Delfins ein.“
Ein unbeschreiblicher Schmerz stieg in Louisa hoch, er benutzte das Konjunktiv und die Vergangenheit. Sie war sich nicht sicher, ob sie hören wollte, was jetzt kam, ein Teil von ihr wollte sich die Ohren zuhalten und sich nie wieder daran erinnern. Was jetzt kam, würde in ihr eine alte Trauer wachrufen, würde eine alte Wunde aufreißen, die zwar nicht von der Zeit, dafür aber vom Vergessen versteckt worden war.
„Es bringt nichts, jetzt aufzuzählen, was sie alles für dich getan hat. Aber dieses eine Mal wurde es ihr zum Verhängnis.
Die einzige Aufgabe des Beschützertieres ist es, ihre Schützling zu lehren und zu begleiten, und den richtigen Moment auszuwählen, um sie zu verlassen, wenn sie genug gelernt haben. Aber Elani war anders, sie fand Gefallen an einem anderen Delfin. Ein pechschwarzen Tier, das sie keineswegs auf die schiefe Bahn zwang, Elani hatte gerade vor, ihn um deinetwegen für immer zu verlassen, da wurde sie schwanger. Von da an ist sie immer in ihrer Delfingestalt geblieben, und fragt mich jetzt nicht, was sonst mit ihrem Sohn Nom passiert wäre, ich weiß viel zu wenig über ihre Art. Genauso wenig weiß ich, was Nom für Fähigkeiten hat. Noch hat er anscheinend keinen Schützling, ich kann mir nicht vorstellen, dass er Elanis Platz eingenommen hat.
Seine Existenz stellt eine Bedrohung für das Gefüge unserer Welt dar. Ihr Leben muss ganz auf den Schützling ausgerichtet sein, es lebt und stirb mit ihm. Mit Nom ist es anders. Elani hatte Angst, große Angst, aber sie wäre über Leichen geschwommen für ihr Kind. Niemals hätte sie sich das nehmen lassen, was ihr noch kostbarer war als du. Und so wurde er geboren, natürlich hörte sie nicht sofort auf, sich um dich zu sorgen. Im Gegenteil.
Es war zu der Zeit, als ihr ohne eure Mutter für einen kurzen Zeitpunkt bei Ronja, meiner Nichte,
Ihre letzten Worte waren: “Lieber sterbe ich und rette euch, als zu Leben und euch zu verlieren!“.
Noms Vater ist ihr in seiner blinden Verzweiflung in den Strudel gefolgt.“
In Louisa brach etwas zusammen. Ein kläglicher Laut drängte sich über ihre Lippen. Wie in einer Zeitschleife gefangen erinnert sie sich an die Ursache ihrer Trauer, den Umbruch ihres Schicksals.
Deutlich sah sie die Situation vor sich, spürte den Schmerz wie am Tag des Geschehens.
„Lieber sterbe ich und rette euch, als zu leben und euch zu verlieren! Los, schwimmt!“
Noch einmal hörte sie sie weiche Stimme ihres Bschützertieres, sah den Ausdruck von Panik und Trotz in Elanis Augen. Diese Worte verfolgten Louisa bis heute. Und von diesem Moment an war sie die distanzierte und immer den Überblick habende Louisa: sie war es gewesen, die Melanie mitgezogen hatte, obwohl sie perplex den Strudel hätte anstieren soll, hatte sie doch gerade ihre Beschützerin verloren. Aber in ihr hatte sich ein Schalter umgelegt: der pure Überlebensmodus.
Nom war damals noch relativ klein gewesen. Schrill quiekend hatte er zuerst seine Mutter und dann seinen Vater im Strudel verschwinden sehen.
Also war er der nächstbesten bekannten Person gefolgt: Louisa.
Nikes Schicksal war besiegelt, als sie Black sah. Er hatte sie ins Unglück gestürzt - aber ohne ihn gäbe es die Zwillinge nicht.
Melanies Schicksal war besiegelt, seit sie geboren war. Die Heldin, die ihren tyrannischen Vater stürzt. So würde es sein. Melanie hatte dieses gewisse Etwas, das Leute zum Strahlen bringt. Das sie Feuer fangen lässt.
Und sie? Sie war die Dunkle. Für das Volk zweifelhaft, ob sie nicht auf der Seite ihres Vaters stand.
Ihr Schicksal war besiegelt, seit Elani im Strudel verschwunden war. Auf nimmerwiedersehen. Schutzlos ohne Beschützertier.
War nicht - so fragten sich viele - mit dem Beschützertier auch die Bestimmung fort?
War sie von diesem Moment an ein gewöhnliches Mädchen?
Dagegen sprachen ihre Kräfte. Auch sie waren dunkel wie die Nacht. So war es eben. Das war ihr Schicksal.
Aber das Schicksal kann sich wenden...
„He?! Alles okay?“ Melanie stupste Louisa leicht an.
„Hm?“ Verwirrt schreckte Louisa aus ihren Überlegungen hoch, immer noch gefangen in dem Netz aus Trauer und Erinnerungen.
„Alles okay?“, fragte Melanie erneut. Jetzt klang sie besorgt. Die Geschichte mit Elani hatte Louisa bestimmt zugesetzt.
„Ich... Ich hatte irgendwie... Ich hab mich erinnert! An da, wo... Als Elani verschwunden ist.“ Louisa schluchzte leise und machte sich ganz klein. Auf einmal wünschte sie sich ihre Mutter, Nike. Stattdessen umarmte Melanie sie. Warum musste Louisa so leiden? Magim schwamm ungeschickt daneben und wusste nicht recht, was er tun sollte. Die Zwillinge teilten ihre Schmerzen miteinander wie eine einzige Seele, denn es gab niemanden, der ihnen sonst beistand.
Kommen die Mädchen mit dem Gedächtnisgift klar? Und was ist mit Elani passiert? Ist Louisa ohne sie wirklich unbedeutend geworden?
Im nächsten Kapitel geht es wieder um Nike... Votet, wenn ihr möchtet!
Eure Lila❤
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