Kapitel 10 - Ein neuer Morgen

Die altbekannten Geräusche des Hogwarts-Expresses waren allgegenwärtig und selbst wenn er wollte, weghören war hier unmöglich. Schreiende Kinder und Eltern, Eulen und Katzen die lautstark nach Aufmerksamkeit bettelten und Koffer, die Bekanntschaft mit dem Betonboden und dem ein oder anderen Fuß machten drangen in Noahs Ohren. Es war merkwürdig und beinahe fremd, wieder hier zu sein, nach allem was geschehen war. Vor allem, er würde ohne Jade nach Hogwarts fahren. Es fühlte sich so falsch an. Alles war unecht ohne Jade. Sie waren noch nie so lange getrennt gewesen. Es war, als würde ein wichtiger Teil seines Selbst fehlen. Er war nur noch ein halber Mensch, ohne seine schlechtere Hälfte. Wie sollte er denn ohne seinen Zwilling zurechtkommen, in einer riesigen, magischen Schule, die nur danach schrie, dass sie Graeham-Zwillinge und ihre Streiche benötigte.

„Hey. Ich weiß, wie es dir geht." Jill legte Noah eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. „Ich kann mir auch nicht vorstellen ohne Jade in Hogwarts zu sein. Es wird niemand da sein, mit dem ich Wettessen kann, niemand, der mir bei den Hausaufgaben hilft, niemand, der mit mir im Unterricht zusammen schläft und niemand, mit dem ich Streiche spielen kann." Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Das bedeutet, du musst ihren Part übernehmen. Du wirst ab sofort meine neue beste Freundin sein."

„Äh. Jill, du weißt, dass ich kein Mädchen bin, oder? Und wir sind auch noch in anderen Häusern." Jill führte ihn zwangshaft weiter in Richtung der scharlachroten Lok. „Ach, das macht nichts. Wird schon keinem auffallen, wenn du einfach ein bisschen höher sprichst und du etwas weiblichere Kleidung anziehst.", lachte Jill. Den Fakt, dass Jade nicht da war, konnte sie gut überspielen. Sie versuchte nicht mehr depressiv zu sein und zu trauern, sondern für ihre Freundin mitzuleben. Noah bewunderte Jills Mut und ihren Frohsinn, dass sie, obwohl ihre beste Freundin immer noch vermisst wurde, trotzdem noch ein Lächeln aufsetzen konnte.

Das Pfeifen der scharlachroten Lok ließ die beiden jungen Zauberer aufschrecken. In wenigen Minuten würden der Zug nach Hogwarts fahren, ohne Jade und ohne ... Casey. Jill rannte zu ihren Eltern und Noah ging zu seinen, um sich ebenfalls zu verabschieden. Seiner Mutter standen die Tränen in den Augen und auch sein Vater kämpfte mit seiner Fassung. Nur seine Großmutter behielt ihre starke Fassade und ließ sich nicht anmerken, wie sehr sie ihre Enkelin vermisste. „Pass auf dich auf, mein Schatz. Stell nichts an, schreib immer alles mit und iss immer alles auf.", murmelte Mrs. Graeham als sie ihren Sohn in eine knochenbrechende Umarmung zog. Mr. Graeham sagte nichts, aber Noah wusste, was er mit seinem Blick aussagte. 'Mach dir keine Sorgen, wir finden sie.'

„Wir sehen uns an Weihnachten!", rief Noah und sprang in den Zug. Die Tür schlug hinter ihm zu und für einen Moment wurde der ganze Lärm des Bahnsteigs ausgeblendet. In der nächsten Sekunde strömte alles wieder auf ihn herein und seine Ohren klingelten kurzzeitig. Dann war alles normal und er konnte seiner Familie gerade noch zuwinken, bevor der Zug um eine Kurve fuhr und der Bahnsteig außer Sicht geriet. Schüler drängten sich an Noah vorbei, beachteten ihn nicht weiter und erkannten auch nicht, dass er derjenige war, der mit entführt wurde. Der Großteil der Schüler wusste wahrscheinlich noch nicht einmal das Casey tot war. Sie lebten weiter, sie hatten keine Sorgen, sie mussten nicht bangen, dass der eigene Zwilling gesund zurückkehren würde. Alles, was ihnen Sorgen bereitete, waren die Prüfungen und Hausaufgaben.

„Willst du hier stehenbleiben, oder kommst du endlich mit?", fragte ihn eine Stimme und Noah drehte sich überrascht um. Eine grinsende Pascal, mit leuchtend grünen Haaren, stand neben ihm und hielt eine Ausgabe des Tagespropheten eingerollt in ihrer Hand. Sie legte den Kopf schief, seufzte und zerrte Noah einfach mit sich. „Es steht dir nicht, Trübsal zu blasen. Du solltest lieber an deine Karriere als zukünftiger Streichekönig Hogwarts denken. Was würde Jade nur von dir denken, wenn sie zurück kommt und du nicht ein einziges Mal Hogwarts ins Chaos gestürmt hättest?" Pascal zwinkerte ihm zu und schubste ihn unsanft in ein Abteil, in dem schon Jill, Adley, Edwin und Leonie saßen und ihn mit großen Augen anstarrten, als er beinahe über seinen Kater Tatze stolperte, der ihm schnurrend entgegensprang.

„Habt ihr meinen Kater und meine Koffer etwa entführt?", fragte er mit schiefen Grinsen und hob Tatze hoch, bereute es jedoch sofort, als sein Rücken zu protestieren begann. Der Kater war noch größer und schwerer geworden und da er auch zu Hause nichts anderes tat, außer herumzuliegen, tat seinem Gewicht nicht unbedingt einen Dämpfer. „Wir haben ihnen nur ein neues zu Hause gegeben. Du wolltest sie doch nicht alleine in einem kleinen Abteil verstauben lassen, ohne ihnen Zeit mit ihren Artgenossen zu geben. Sieh mal, deiner und Pascals Koffer haben schon eine ganz besondere Beziehung entwickelt." Tatsächlich sah es eher so aus, als würde Pascals Koffer Noahs in den Würgegriff nehmen und ihn versuchen vom Gepäcknetz zu werfen. Noah setzte Tatze ab und ließ sich dann auf der Bank neben Jill und Adley nieder.

Während seine Freunde die Fahrt genossen, Süßigkeiten aßen und Schokofroschkarten tauschten, versank der junge Ravenclaw immer wieder in Gedanken an seine Schwester und welche Angst sie haben musste. Jade mochte zwar stark sein, aber selbst sie würde in so einer Situation den Tränen nicht lange Einhalt gebieten können. Vor allem, da Casey jetzt tot war und sie niemanden mehr hatte, der ihr Trost spenden konnte. Jade war alleine in der Dunkelheit, während er mit seinen, ihren, Freunden im Licht sein durfte. Wie lange würde es noch dauern, bis die Chaos-Zwillinge wieder vereint waren?

Wenn man während einer Zugfahrt mit seinen Freunden redete und lachte, verging die Zeit wesentlich schneller, als wenn man alleine in Gedanken war und alles um einen herum ausblendete. Dieser Meinung war auch Pascal. „Noah Graeham! Du wirst jetzt sofort aus deiner eigenen trüben Denkblase herauskommen und mit uns Spaß haben. Und wehe dir, wenn du ein einziges Mal abschweifst, dann hex ich dir die Haare in allen Farben des Regenbogens. Haben wir uns verstanden, oder möchtest du jetzt sofort die bunte Tour haben?" Pascal hatte ihren Zauberstab hervorgezogen und zielte mit zusammengekniffenen Augen auf Noahs Haare.

Pascal machte ihre Drohung wahr und behielt Noah die restliche Zugfahrt genau im Auge. Sollte er nur das kleinste Anzeichen dafür machen, dass er wieder in Gedanken war, verwandelte sie als Strafe dafür, eine seiner Haarsträhnen bunt. Am Ende der Fahrt hatte Noah zwar immer noch seine schwarzen Haare, doch eine blaue und eine grüne Haarsträhne hatten sich dazwischen geschlichen. Nicht, weil Noah in Gedanken gewesen war, sondern weil Pascal dachte, es würde ihm gut stehen. Der junge Ravenclaw hatte davon allerdings nichts mitbekommen und die anderen hielten es auch nicht für nötig, ihn darüber aufzuklären.

Der Bahnhof Hogsmeade begrüßte sie ihm Licht der Straßenlaternen, die alles in einen sanften Gelbton tauchten. Es war ein kühler Septembertag und ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Die Schüler würden nicht wie im letzten Jahr mit den Booten in die Schule kommen, sondern mit Kutschen. Aber keinen normalen Kutschen, sondern mit pechschwarzen, die ganz ohne Pferde fuhren. Dutzende dieser Exemplare standen in einer Reihe bereit und fuhren erst los, wenn sie voll waren. Zu sechst quetschten sie sich in eines der Fahrzeuge und wurden dann schaukelnd über den Weg gefahren, der sie nach Hogwarts bringen würde. Unterwegs Schlamm aufspritzend und vom Niesel langsam aber sicher durchnässt werdend, kamen sie dem magischen Schloss immer näher und für einen kurzen Moment vergaß Noah alle seine Sorgen, als er die Mauern und Türme seiner Schule erblickte. Er war wieder zu Hause.

"Oh oh.", sagte Pascal und deutete auf den Eingang von Hogwarts. Neben den Schülermassen ragte eine große Gestalt mit leuchtend grünem Spitzhut heraus, die das Treiben mit scharfen Blicken beobachtete. "Es kann nichts Gutes verheißen, wenn McGonnagal jetzt schon auftaucht." Die Schulleiterin von Hogwarts war mit verschränkten Armen und dünnen Lippen neben dem Eingangstor stehen geblieben und schien etwas oder jemanden zu suchen. Als die Kutsche der sechs anhiet und Noah als Erster holprig ausstieg, wandten sich ihre Adleraugen sofort zu ihm und sie kam mit flinken Schritten auf sie zu. Noah wurde ganz mulmig im Magen. War vielleicht etwas in der Zwischenzeit passiert?

"Ah, sie habe ich gesucht. Wenn sie mir bitte folgen würden. Mr. Malfoy, Mrs. Carter, sie können weiter gehen." Sie scheuchte Jill und Adley weiter und ließ Noah, Pascal, Leonie und Edwin hinter ihr her trotten, während sie sich einen Weg durch die Schülermassen bahnte. Schweigend ging die Schulleiterin an der Großen Halle vorbei und erklomm die Marmortreppe, bis sie vor einem Büro im ersten Stock stehen blieb. "Treten sie ein." McGonnagal öffnete die Tür und zögerlich wagte Noah den ersten Schritt hinein. Eine Person war bereits anwesend. Es war Basel, das Slytherin-Mädchen, welches mit ihnen geflohen war und sie blickte Noah und die anderen mit großen Augen an. McGonnagal setzte sich hinter den Schreibtisch, nachdem sie die Tür verschlossen hatte und musterte die fünf Schüler genauestens. Dann zog sie eine Dose hervor und öffnete sie.

"Nehmen sie sich doch einen Ingwerkeks." Unförmige und sehr körnig aussehende Kekse waren in der Dose und ein starker Geruch von Ingwer verbreitete sich im Büro. Zögernd griffen die Schüler danach und als jeder eines der Gebäcke in der Hand hatte, verschloss die Schulleiterin die Dose wieder und ließ sie verschwinden.

"Ich möchte mit ihnen darüber reden, was im Sommer geschehen ist. Ich kann mir vorstellen, dass es für sie alle traumatische Ereignisse waren und sie wohl nicht gerne darüber reden möchten, aber es ist meine Pflicht, als ihre Schulleiterin, dafür zu sorgen, dass es meinen Schülern gut geht und sie über ihre Probleme reden können. Sie sind bisher die einzigen Schüler, die aus den Fängen der Todesser entkommen konnten, deshalb tragen sie eine große Last mit sich herum, besonders, da sich noch immer einige Mitglieder dieser Schuler in der Gefangenschaft befinden. Und auch einen werden wir nicht wieder sehen. Die Nachricht von Mr. Alvis hat mich zutiefst erschüttert und ich werde auch auf jeden Fall zu seinen Ehren eine Schweigeminute in die Feierlichkeiten mit einbinden. Es soll kein Schüler in Hogwarts sein, der seiner nicht gedenkt. Mr. Alvis ist zu früh von uns gegangen, das steht fest, aber nichtsdestotrotz müssen wir weitermachen. In seinem Namen und auch in dem, von den Schülern, die noch nicht zurückgekehrt sind." McGonnagals Blick lag auf Noah, als sie das sagte, doch ihre Stimme war anders als üblich. Sie hatte einen sanften Unterton und Verständnis und Mitleid schwangen mit ihr mit.

"Ich möchte, dass sie wissen, dass ich ihnen immer zur Verfügung stehe, wenn sie etwas auf dem Herzen haben. Die vergangenen Wochen waren für uns alle hart, doch sie hat es am meisten getroffen. Seien sie sich jedoch im Klaren, dass die meisten Lehrer dies nicht als Entschuldigung für nicht gemachte Hausaufgaben sehen werden. Sie müssen weitermachen, auch wenn es ungerecht erscheint. Die Schule kann sich keinen Stillstand leisten." McGonnagal stand auf und ging zur Tür.

"Nun erwartet  uns eine Einteilung und ein Festessen." Sie ließ die Schüler voran gehen und führte sie dann in die Halle, die sie mit Getuschel begrüßte, als die Schulleiterin mit fünf Schülern in Begleitung einkehrte.  Noah setzte sich an den Ravenclawtisch, zusammen mit Adley, während Pascal und Leonie sich an den Hufflepufftisch begaben und Basel sich zum Slytherintisch begab. Noah blickte zur Decke, die in ein freundliches Orange getaucht war, welches wie ein wunderschöner Sonnenaufgang aussah. Vielleicht war es eine Botschaft der Schule.

Ein neuer Morgen brach an.

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