6.

Ich hatte noch nie verstanden, was genau Theresa an Tiefkühlpizzen so mochte. Tiefkühlpizzen hatten fast immer denselbem Geschmack, waren zudem vorher eingefroren gewesen und regten meinen Appetit dementsprechend nicht wirklich an. Schon allein das Aussehen der Salami Pizza in meinem Kühlschrank löste das Gefühl von Bitterkeit und Leere in mir aus. Um der Pizza fair zu bleiben: Es lag wahrscheinlich mehr an meiner emotionalen Verfassung als an ihrem tatsächlichem Aussehen. Und zumindest einen Vorteil hatte sie: Ich musste sie nur in den Ofen stellen und die vorgegebene Zeit abwarten. 
Während die Tiefkühlpizza also im Ofen lag, lehnte ich mich an der Spüle an und massierte mir die Schläfen. Es war fast Mitternacht, Theresa war vor vielleicht fünf Stunden gegangen, der Haufen von Recherchen auf meinen Schreibtisch war höher geworden und meine Laune immer tiefer gesunken. Kopfschmerzen hatten sich eingestellt. Langsam atmete ich tief ein und aus. Ein. Und aus. Es war still in meiner Wohnung, zu still. 
Und die Stille ließ mich nachdenken. In Erinnerungen abschweifen. Vorallem von Mark. Ich war immer schon der stille, logische Computernerd gewesen, der mit zynischen Kommentaren um sich warf, niemals mehr Worte als unbedingt nötig benutzte und um Mädchen einen großen Bogen machte. Mädchen waren zwar mal ganz nett, hatten aber nie dieses gewisse Etwas besessen. Von daher hatte ich auch keinen Sinn darin gesehen, mich weiter mit ihnen zu befassen.  Mark hingegen war da ganz anderer Meinung gewesen: Gerade weil sie nie dieses gewisse Etwas hatten, beschäftigte er sich umso lieber mit ihnen. Es war einfach unkompliziert, lustig und unterhaltsam. Außerdem mochten sie Schwule, was ihm, wie er mir mal erzählt hatte, irgendwie immer zu Gute gekommen ist. Nichtdestotrotz war er im letzten Jahr unserer Schule zu mir gekommen. Hatte sich neben mich gesetzt und laut - wirklich extrem laut - gefragt, was ich von Ratten halte. Ratten! Ich hatte ihn irritiert angeschaut und zurückgefragt, ob er mich verarschen wolle. Er hatte gelacht und in diesem Moment war es um mich geschehen gewesen.  Hingegen meiner Natur - alles muss einen Sinn ergeben - hatte ich mich nie gefragt, warum zum Teufel ich mich in einen Jungen verliebt hatte, dessen erste Worte von Ratten handelten und schon gar nicht, wie dieser Junge sich im selben Moment im mich hat verlieben können: In den Schulnerd, den Außenseiter. Aber es hat sofort gefunkt, wir verstanden uns super. Gemeinsam schlossen wir die Schule ab, gemeinsam schlugen wir den Weg des Erwachsenwerdens ein. Wurden bei verschiedenen Jobs eingestellt, verdienten Geld, hatten Spaß, viele aufregende Nächte und noch mehr aufregende Abenteuer. Wenn ich mir mal wieder zu viel Druck machte und Probleme mit dem Atmen bekam, war Mark immer da und beruhigte mich. Eins, zwei....  Seine Stimme hallte mir im Kopf nach. 
Ein Pling riss mich aus meinen Gedanken. Sofort war ich wieder in meiner dunklen Wohnung. Allein. Mit nassen Wangen und seelischem Schmerz. Und einer Salami Tiefkühlpizza, gekauft bei dem Netto die Straße runter.  Es fühlte sich an, als wäre ich in der Hölle gelandet.

Abgesehen von Mark geisterten auch zwei weitere Männer in meinen Gedanken rum. Zum einen gäbe es da Michael Bruce: Ich hatte das Gefühl, zu seiner Beerdigung gehen zu müssen. Seiner Familie mein Beileid aussprechen zu müssen. Auch wenn mich dort niemand kannte und Bruce und ich uns eigentlich nie nahe gestanden hatten, hatte ich doch seinen Tod mitangesehen. Und geschehen lassen.

Dann gab es da noch Ezra. Natürlich konnte ich mir nicht sicher sein, ob der Reaper nun ein Mann oder eine Frau war. Aber der Name und die Tatsache, dass ich mich mehr zu Männern hingezogen fühlte, machten automatisch einen Mann aus ihm.  Und was Ezra anging, so war er mir ein absolutes Rätsel. Er hatte gewusst, dass Michael Bruce sterben würde. Klar, er selbst war der Tod. Aber warum hatte er Bruce' Tod verhindern  wollen?  Wieso hatte er meinen Tod überhaupt verhindert? Seinen aber nicht? Es ergab alles keinen Sinn, angefangen bei der Tatsache, dass Ezra ein Handy zur Kommunikation benutzte und nach Zitronen roch.
Warum Zitronen?

Seufzend stieß ich mich von der Spüle ab, holte eine Schere und schnitt die Pizza in gleich große Stücke. Mit dem Teller in der einen Hand und einer Flasche Wasser in der anderen Hand verließ ich die Küche und verschanzte mich wieder vor dem Computer. Die ganzen Ausdrucke von Reapern und Mythologien legte ich säuberlich geordnet in einem Stapel daneben. Dann ging ich ins Internet und googelte Michael Bruce Kontaktdaten.

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