Brief 1

Liebes Universum, sicher fragst du dich, warum ich dir schreibe.

Oder auch nicht. Ich meine, du bist das Universum. Bestimmt weißt du alles. Obwohl, du hast doch kein Gehirn, oder? Theoretisch könntest du dann nicht nachdenken oder Informationen speichern.

Wieso stelle ich mir diese Fragen? Keine Ahnung. Willkommen in meinem Leben. Warum kann ich nicht normal sein? Wenn du jetzt geantwortet hast: „Was ist normal?", kann ich deine Gedanken lesen. Normal sein ist eigentlich ein echt seltsames Phänomen. Jeder weiß, was es bedeutet, aber keiner kann es erklären. Faszinierend. Nein eher nicht.

 Weißt du, wer noch normal ist? Die richtig beliebten Mädchen. Die sind stinknormal. Da ist nichts, außer ihre Arroganz, das sie von anderen unterscheidet. Sie haben gute Noten, aber nicht so gut, dass man sie als Streber bezeichnen könnte. Sie haben schöne Haare, aber nicht so schöne, dass man sie darum beneidet. Sie sind witzig, aber nicht so witzig, dass man sich vor Lachen nicht mehr einkriegt. Warum sind sie dann so beliebt? Was haben sie Besonderes an sich, dass man sie zur „Elite" zählt. Langsam glaube ich, dass man dort hineingeboren werden muss. Und das wäre echt unfair, aber das Leben hat es nicht so mit Fairness.

Allerdings kommt dann der Gegenbeweis, wenn eine Neue der Klasse beitretet.

 Kaum versieht man sich, sitzt die schon neben der Leaderin. Das regt mich verdammt nochmal auf. Ich meine, warum? WARUM?

Vorallem tut mir der Platzhalter leid, der bis zu diesem Moment die Nummer 1 war, und nun links liegen gelassen wird.

Apropos, WARUM schreibe ich dir so etwas überhaupt? In diesen Briefen sollte es um mich gehen. Die sollten mir egal sein. Sind sie aber nicht. Das nervt. Das sind alles nur Fake-Freundschaften. Ich frage mich nur manchmal, wenn ich für einen Tag mit eine Beliebten den Körper tauschen würde, würde mich ihr Club wahrscheinlich trotzdem akzeptieren und mögen. Also warum bin ich in meinem Körper, wenn ich ich bin, nicht mit ihnen befreundet?

Wahrscheinlich liegt es an dem Vorfall vor zwei Jahren. Du weißt ganz genau welchen ich meine. Um dir so ein richtig schlechtes Gewissen zu machen, erläutere ich noch einmal jedes Detail. Ich will dich leiden sehen Universum. Vermutlich tut es dir noch nicht einmal leid. Pffff. Typisch.

Also fangen wir damit an, als der Lehrer die Anwesenheitsliste durchging. Ich wusste ganz genau, dass ich die 14. Stelle im Alphabet bin. Schluckend und schwitzend habe ich darauf gewartet, aufgerufen zu werden. Alle, wirklich alle haben „Ja" geantwortet, nachdem ihr Name gefallen war. Was habe ich gesagt?

 "An...Ja."

 Und warum in alles in der Welt habe ich dieses Wort aus meinem Mund gebracht, das nicht einmal existiert, so dass es klingt als würde ich eine Anja rufen, die sich nicht einmal in meinem Jahrgang befindet? (Beziehungsweise, vielleicht haben wir eine Anja, ich rede nicht so gerne mit den anderen Klassen, geschweige denn mit meiner eigenen, also bin ich mir da nicht ganz sicher.) Danach hat jeder verwirrt gekuckt. Und Grund für diese Situation war mein armes überladens Gehirn. „Anwesend" Das klingt wie ein Professor an einer Universität. Und weil ich in letzter Sekunde realisiert habe, dass ich einfach „Ja" sagen könnte, kam das dabei raus.  Vielen Dank auch. Und, was viel schlimmer war, meine Stimme! Warum war die so seltsam gebrochen? Echt jetzt! Warum? Dafür hasse ich dich.

Aber das Unheil nahm seinen Lauf. Als ich vor die Klasse treten musste, um meinen Vortrag zu halten, konnte ich meine Schweißflecken spüren. Das klingt jetzt vielleicht eklig, aber ich schwitze nun mal viel. Da kann ich nichts ändern. Sorry not sorry. Wohl oder übel musste ich den langen Gang bis zu der Tafel entlanglaufen. Selbstverständlich haben alle mich angeschaut, beziehungsweise meine Schweißflecken. Ich hätte ja meinen schwarzen Pulli noch angehabt, wenn ich beim Mittagessen nicht gekleckert hätte.

Vor der Klasse hatte ich dann den extremsten Blackout meines Lebens. Ich wusste nichts mehr. Da ich recht gut im Vortragen bin, hatte ich auf Karteikarten oder sonstige Hilfsmittel verzichtet. Also musste ich improvisieren, indem ich so viele Füllwörter wie möglich benutzte, bis mir wieder irgendetwas einfiel. Den irritierten Ausdruck meiner Klassenkameraden werde ich nie vergessen.

Um das Fehlen an Informationen zu kompensieren, lächelte ich am Ende zuckersüß. Wie sich später herausstellte, hatte ich Schnittlauch zwischen meinen Zähnen.

Warum ist mein Leben so? Was habe ich dir je getan?

Liebes Universum, wegen all dem kann ich sagen: „Ich hasse dich."

Keine lieben Grüße

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