Nichts zu sagen

Liebe Molly,

erinnerst du dich an die Autofahrt von deiner Familie zurück nach Bonn?

An die angenehme Stille und das Wissen, wir gehören zusammen? 

Ich hasse Auto fahren, dass weißt du. Aber diese Fahrt war irgendwie schön. Ich habe kein "Zurück-nach-Hause"- Gefühl und kein "von-Zuhause-weg"-Gefühl gespürt. Wir sind nicht nur zurück nach Hause gefahren, wir haben auch ein zu Hause verlassen. In den Tagen über Weihnachten ist mir nicht nur deine Familie ans Herz gewachsen, euer Haus ist zu einem zu Hause für mich geworden. Allein die Atmosphäre ließ mich, mich so willkommen fühlen. In den Bildern an der Wand sieht man, dass in diesem Haus Liebe wohnt. Und deine Mutter hat mir das auch bewiesen.

"Hedda, du bist hier immer herzlich Willkommen!", hat sie mir zum Abschied gesagt. Und mich genau so fest umarmt, wie dich. Wie eine eigene Tochter. 

Ich glaube, dein Bruder mag mich auch. Er hat mich am Abend vor unserer Abreise gefragt, ob ich wiederkomme. Ich habe es ihm versprochen. Finn ist cool. Auch wenn du Angst hattest, dass ich komisch reagieren würde auf ihn. Oder auf seine Behinderung. Finn ist echt cool. Und er findet es cool, dass ich deine Freundin bin.

"So richtig mit Küssen und so?", hat er mich am ersten Tag gefragt, als ich ihm erzählt hatte, wir seien zusammen. Ja, so richtig mit Küssen und so. Er fand das richtig aufregend, dass du jetzt eine Freundin hast. Ich fand es auch aufregend, deine Freundin zu sein, Molly.

Als wir uns am 23. Dezember auf den Weg zu euch machten, waren wir auch am Schweigen. Aber es war längst nicht so angenehm, längst nicht so entspannend wie die Rückfahrt. Du hast versucht, mir klar zu machen, dass deine Eltern mich wirklich mögen werden. Aber ich hörte gar nicht richtig zu, sondern hing meinen Gedanken nach. Als wir dann an eurer Haustür geklingelt haben, waren meine Hände zittrig. Und obwohl es für einen Dezemberabend noch recht warm war und ich meine Winterjacke trug, konnte ich damit nicht aufhören. Ich hatte Angst, deine Familie würde mich nicht mögen. Ich konnte nicht auf deine Worte vertrauen, dass deine Mutter schon ganz aufgeregt war, mich zu sehen. 

Als  Finn die Tür geöffnet hat, nur um dich innerhalb weniger Sekunden in den Arm zu nehmen, wurde ich noch nervöser. Was, wenn Finn mich nicht mag? Was, wenn ich etwas falsch mache? Doch dann kam auch deine Mutter zur Tür und nahm mich in den Arm. Sie umarmte nicht dich- du warst in Finns Umarmung viel zu beschäftigt- sondern mich. 

"Hallo Hedda! Schön, dass du hier bist."

All meine Angst war wie weggeblasen. Ich musste mich nicht anstellen, ich war einfach, wie ich eben bin. Und deine Mutter mochte mich genau so. 

Da sie aber meine zittrigen Hände gespürt und mein viel zu bleiches Gesicht gesehen hatte, drängte sie uns beide dazu, eine große Tasse Kakao anzunehmen und von Finns erstem Blech Kekse zu probieren. Lecker. Wenn mich deine Mutter nicht schon dazu überzeugt hätte, mich wohl zu fühlen, Finns Kekse hätten es auch getan.

Ich liebe seine Kekse. Du hast echt Glück, so einen begabten Bruder zu haben. Noch nie habe ich bessere Kekse als seine gegessen.

Traditionen sind etwas wunderschönes. Am 24. Dezember weckte uns dein Vater gegen sechs Uhr schon auf, damit wir im Garten einen Baum aufstellen und schmücken konnten. Selbst Finn war schon längst auf den Beinen, und wären wir nur eine halbe Stunde später wach gewesen, hätten wir nur noch das Ergebnis bewundern können.

Eure Baumdeko war ausschließlich selbst gemacht. Das hast du mir erklärt. Im Kindergarten habt ihr zusammen haufenweise Sterne, Kugeln und Zuckerstangen gebastelt, bemalt und geklebt. Und das jedes Jahr aufs Neue. Viel war davon nicht mehr übrig, denn vor allem in jungen Jahren schafften es du und Finn es jedes Mal aufs Neue beim Abschmücken einiges zu zerreißen. Dafür war es für mich um so kostbarer, den Schmuck jetzt mit euch zusammen aufhängen zu dürfen. 

Genau so schön war unser Weihnachtsspaziergang. Noch vor dem Frühstücken brachen wir alle zusammen auf. Dein Vater trug einen vollgepackten Rucksack, deine Mutter packte für alle eine große Tasse warmen Tee ein und Finn schaffte es eine kleine Dose Kekse in den Rucksack zu schmuggeln. Ein Mal um den Dümmer. Das war eine ziemlich lange Strecke und ich war mir anfangs, ehrlich gesagt nicht sicher, ob ich das schaffen würde. Es war über Nacht eiskalt geworden und an einigen Stellen lag sogar Schnee. 

Nach zwei Stunden machten wir halt und dein Vater verteilte Frühstück. Endlich. Ich hatte so unglaublich großen Hunger, dass kannst du dir gar nicht vorstellen. Und beim Essen erzählte Finn mir über vorherige Weihnachtsfeste. Ich konnte im Augenwinkel sehen, dass du am liebsten im Boden versunken wärst, bei dem Gedanken an die sechste Klasse. Und daran, dass du unbedingt diese eine Barbie wolltest. Finn konnte sich nämlich noch genau so gut wie du an dein Geschrei erinnern, als du die Barbie tatsächlich bekommen hast. Süß. 

Weißt du noch, welche Geschichte ich dir am Abend des 24. Dezembers erzählt habe? Weißt du noch, was mein liebstes Geschenk war, dass ich je bekommen hatte?

Finn findet, Geschenke sind das Beste an Weihnachten. Ich auch. Deine Eltern und du finden zwar eher das gemütliche beisammen sein besser, aber für mich geht nichts, über Geschenke. Vor allem, wenn sie aus Liebe geschenkt werden. So wie die selbstgemachten Kettenanhänger, die wir beide von Finn bekommen haben. 

Zwar liebe ich die original Ausgabe von "Alice im Wunderland", die ich von dir bekommen habe, aber Finns Anhänger, ist einfach unübertrefflich. 

Ich trage ihn jeden Tag und seit ich Finn das letzte Mal gesehen habe, habe ich ihn kein einziges Mal abgenommen. Er erinnert mich nicht nur an dieses Weihnachten. Er erinnert mich vor allem an dich. Er erinnert mich daran, dass auch du einen hast. Und ich weiß, dass die andere Hälfte des Herzens um meinen Hals, bei dir ist. Wenn ich in den Spiegel schaue, bleibt mein Blick automatisch an diesem Anhänger hängen. 

Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, ihn abzulegen. Nur, um nicht ständig an dich zu denken. Nur, damit ich in den Spiegel schauen kann. Ich trage das Wissen, den Beweis, ohne dich nicht vollständig zu sein, mit mir herum. 

Aber es ist das letzte, das uns beide verbindet. Und ich fühle mich, als würde ich dich betrügen, wenn ich die Kette ablege. Deswegen trage ich dich immer bei dir. 

Wo ist die zweite Hälfte? Hast du sie noch?

Dein Hedda.

P.S.: Ich vermisse auch Finn, ich glaube, dass merkt man ganz schön. Stelle ihm doch einen ganz lieben Gruß aus, ja? Ich habe ihm versprochen, wieder zu kommen, und ich hasse es, Versprechen zu brechen.

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