Der erste Augenblick
Liebe Molly,
erinnerst du dich an den ersten Augenblick? Erinnerst du dich an mein erstes Grinsen, das erste Mal, dass ich dir tief in die Augen geschaut habe?
Ich erinnere mich daran. Ich sehe dich vor mir, als würdest du bei mir sein. Ich sehe, dein Lächeln. Ich sehe deine Grübchen, das Funkeln in deinen Augen, die wild gewordene Strähne, die du immer wieder hinter dein Ohr streichst. Ich sehe dich, wie du damals vor mir standst.
Du bist gerade nach Bonn gezogen und hattest eine riesige Karte bei dir. Aber die hat dir, glaube ich, auch nicht so viel gebracht, wie du dachtest. Du standest auf den Treppen des Hauptbahnhofes und hast umständlich deine Karte aufgefaltet.
Ich stand auf der anderen Seite, an der Ampel, und konnte meine Augen nicht mehr von dir lassen. Du warst so schön, Molly. Du hast mir meinen Atem geraubt, meine Gedanken gefüllt, mein Herz erwärmt. Du warst plötzlich alles, an was ich gedacht habe. In dieser Sekunde warst du die Essenz meines Lebens.
Ich glaube nicht an Liebe auf den ersten Blick, aber verliebt war ich trotzdem nach dem ersten Blick.
Und dann sprang die Ampel auf grün und ich kam dir Schritt für Schritt näher.
Das war das absurdeste Gefühl, dass ich je gefühlt hatte. Ich war aufgeregt. Ich wollte dich einfach nur ansprechen, und dir sagen, wie schön du bist. Meine Freundin hatte mir mal erklärt, wie ich jemenschen anzumachen habe, aber dafür war ich viel zu aufgeregt. Ich hätte keines dieser schnulzigen Worte raus gebracht. Aber ich bin echt froh darüber; stell dir vor wir müssten für immer erzählen, dass wir uns durch ein "Tat es weh, als du vom Himmel gefallen bist?" kennengelernt haben.
Und dann stand ich plötzlich vor dir. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich konnte dich nur anstarren.
"Verfluchter Mist, ich will doch einfach nur nach Hause!", hast du irgendwann gemurmelt und frustriert deine Karte zusammen geknüllt. Ich wusste nicht, ob ich dich erst zehn Sekunden oder schon fünf Minuten angestarrt hatte.
"Kann ich dir helfen? Wo wohnst du denn?"
Geschafft. Ich hatte dich angesprochen. Ich habe mich getraut. Endlich.
Du hattest die falsche U-Bahn genommen und warst am Bahnhof gelandet, anstatt bei dir zu Hause. Unsere Wohnungen lagen auf der selben Straße, an der selben U-Bahn Station. Also habe ich dich kurzerhand mitgenommen und dir den Weg gezeigt. Und dir erklärt, welche Linien man nehmen kann. Und dann konnte ich dich sieben Minuten lang anschauen und mir jede deiner Sommersprossen, jede Hautunebenheit einprägen.
Und die habe ich genutzt. Ja Molly, müsste ich dich zeichnen, jede Sommersprosse wäre an ihrem Platz. So gut kenne ich dich.
Ich wusste schon in dem Augenblick, als du mich das erste Mal angeschaut hattest, dass ich dich nicht vergessen könnte. Ich wusste, schon in dem Moment, als du mich erleichtert angeschaut und mich für einen Engel erklärt hast, dass ich dich nicht vergessen wollte. Du warst für immer.
Und dann hast du mir deinen Namen verraten: "Danke! Ich bin übrigens Molly", hast du gesagt.
Molly. Molly. Molly.
"Molly. Hat mich gefreut. Also ich meine, dich kennen zu lernen! Ich bin Hedda."
Und dann hast du das erste Mal gelächelt. Nur einen Bruchteil einer Sekunde. Aber du hast so wunderschön gelächelt. Deine Augen haben geglänzt und ich konnte deine Grübchen sehen. Und dein Lächeln war so echt. Kein unangenehmes Lächeln, ein richtig echtes Molly-Lächeln.
Kennst du das, wenn du Leuten ihr Lächeln einfach abkaufen kannst? Wenn du einfach weißt, das ist so gemeint? Kennst du den Moment, wenn du nicht anders kannst, als mitzulächeln? Wenn du ungeachtet deiner Stimmung mitlächelst? So ein Lächeln hast du, Molly.
Also habe ich zurückgelacht. Weil ich einfach nicht anders konnte. Und nicht nicht anders wollte. Ich wollte unbedingt mit dir zusammen lachen. Ich wollte dich zum lachen bringen. Ich wollte der Grund für dein Lächeln sein. Und das wurde ich.
Ich habe mich an dem Abend nicht getraut, nach deiner Nummer zu fragen. Oder, ob wir uns wiedersehen werden.
Du hast damals noch direkt gegenüber von der U-Bahnstation gewohnt. Ich hab dir nach geschaut, als du die Haustür aufgeschlossen hast. Und dann hast du dich noch mal umgedreht, mir zugewunken und gerufen: "Man sieht sich Hedda! Gute Nacht!"
Ich brauchte noch mehrere Minuten, bis ich mich gefasst hatte und auch nach Hause ging.
Du weißt gar nicht, was für einen Eindruck du auf mich gemacht hast. An dem Abend konnte ich nur noch an dich denken. Nur noch dein Lächeln sehen. Deine Stimme hören. Du warst überall. Und du hast mich immerzu zum lächeln gebracht.
Ich glaube, ich war ab der ersten Sekunde verliebt in dich. Danach konnte ich mich nur noch mehr verlieben.
An dem Tag bin ich mit einem Lächeln auf den Lippen und den Gedanken an "Man sieht sich Hedda! Gute Nacht" eingeschlafen.
Ich wollte dich so gerne wieder sehen.
Erinnerst du dich an unsere erste Begegnung, Molly?
Ich erinnere mich. An alles.
In Liebe,
Hedda
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